Der Prophet
von Mario Schumann

 

Es war in der alten Zeit, da lebte weit draußen ein Mann, ganz allein. Die Menschen hielten ihn für einen weisen Mann, für einen Propheten sogar und sie kamen zu ihm, um ihn um Rat zu fragen bei ihren Angelegenheiten. Wer seinen Rat befolgte, der trug keinen Schaden davon. Eines Tages, als sich wieder viele vor ihm drängten, da fragte er sie: „Warum kommt ihr hierher?“ Sie antworteten: „Wir kommen um uns deine Hilfe zu erbitten.“ Er fragte: „Warum kommt ihr zu mir?“ Und sie antworteten: „Weil dein Rat niemals fehl ist.“ Auf diese Worte stand er auf und schaute sich in den Gesichtern um, die ihn umgaben. Die Augen derer die vor ihm demütig knieten beobachteten seine Lippen und harrten seiner Worte. Da sprach er: „Aber warum? Merkt ihr nicht dass ich belüge? Jedes meiner Worte ist eine einzige Lüge. Glaubt ihr eure Sorgen kümmern mich? Sie sind fern für mich, sie erreichen mein Auge nicht. Ich sehe nur meine eigenen Kümmernisse. Doch wer gibt mir einen Rat? Was weiß ich von euch? Jeden Tag kommt ihr zu mir und klagt mir euer Leid. Habt ihr nichts Schönes aus der Welt zu berichten? Blühen die Blumen nicht mehr? Ist das Gras etwa verdorrt und die Quelle versiegt? Sterben die Fische im See und stürzt der Adler vom Himmel? Ihr lebt von Tag zu Tag und doch müsste ich meinen, die Welt liegt im sterben. Eure Welt, denn die meine kennt niemand. Ein jedes meiner Worte war eine Lüge, denn an nichts anderem lag euch als an meinen Worten. Wäre ich ein Stein der sprechen kann, ihr würdet mir einen Tempel bauen und meine Worte heilig nennen, obwohl sie doch Lügen wäre. Ich würde nie mehr die Sonne sehen, ich würde nie mehr den Wind rauschen hören. Ich wäre allein mit euren Fragen und Sorgen und sonst bliebe mir nichts mehr, den niemand von euch würde daran denken das auch ein Stein ein Herz hat. Nein, ihr kümmert mich nicht, denn ich bin leer. Jeden Tag habt ihr ein Stück von mir genommen und mir nichts gegeben. Ihr tragt einen viel größeren Propheten in euch als mich, doch er kennt keine Worte und darum hört ihr ihn nicht. Ihr seid gierig nach Worten, doch ihr hört nur Lügen und Geschwätz. Ihr habt Angst vor der Stille, weil ihr das Flüstern nicht hört, die Stimme die niemand niederschreiben kann. Ihr seid taub geworden und darum müsst ihr schreien.“ Er verstummte und wandte sich zum Horizont. Die Menschen schwiegen. Begriffen sie was der Mann sagte, hörten sie in diesem Moment die Stimmen in sich die keine Menschenworte sprachen? Der Mann blickte noch einmal zu den Menschen und sprach: „Ich werde nun gehen, dorthin, wo ich keine Worte mehr hören muss, sondern nur noch das leise Flüstern und die Stimmen die ihr nicht kennt.“ Er sprach es und ging davon, bis er am Horizont verschwunden war.

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