Schreie
von Mario Schumann

 

Sie hatten bestimmt auch schon mal diesen Traum, sie rennen und rennen, weil sie jemand verfolgt und sie kommen nicht vom Fleck, oder nur ganz langsam, als ob sie in einem zähen Morast stecken würden. Träume dieser Art hat ja jeder irgendwann einmal, oft begegnen wir auch Personen aus unserem Leben, sie wissen ja wie das ist. Aber haben sie schon mal geträumt sich selbst zu begegnen? So etwas träumen nicht viele Menschen, nun, ich habe es geträumt.
Es war eigentlich ein Tag wie jeder andere, nichts ist passiert was besonders aufregend gewesen wäre, weder bei mir noch irgendwo anders, es war wie immer eben, alltägliche Routine. Irgendwann nach Mitternacht schaltete ich meinen Computerbildschirm aus, nachdem ich ausreichend müde war und ging ins Bett. Als ich wieder aufwachte, war ich um einen der wenigen Träume reicher die ich nie wieder vergessen würde. Aber ich will der Reihe nach erzählen.
Ich befand mich in einer Stadt, einer Kleinstadt würde ich sagen, biedere und verhaltene Erscheinung und ein geruhsames Stadtbild. Ich ging durch einige neuere Häuserblocks in Richtung Altstadt, bis ich auf dem Marktplatz angelangte, dem Mittelpunkt der Stadt. Es schien gerade Markttag zu sein und das Treiben auf dem Markt war auf dem Höhepunkt, jedoch noch überschaubar. Dort, auf dem Markt, viel mir das erste seltsame auf. Es war, als ging ich inmitten der vielen Leute, wie von einer Glasglocke umgeben, umher, ich nahm wahr was sich um mich tat, ich konnte die alte Frau am Fischstand stehen und die Auslage betrachten sehen, ich sah die Jugendlichen mit ihren Bierflaschen in Gruppen zusammen stehen und lachen und ich sah auch das Ehepaar, das vor dem Rathaus stand und sich unterhielt. Ich war da und doch auch nicht, ich sah die Bilder, doch sie erreichten mich nicht. Es war als wenn ich mir eine Dokumentation über eine beliebige kleine Stadt im Fernsehen anschauen würde. Ich sah zwar hin, aber was ich sah berührte mich nicht, es erzeugte keine Empfindungen in mir. Ich blieb gleichgültig.
Dann sprang mir die Brieftasche ins Auge. Sie schob sich in mein Blickfeld, wie ein hell gezeichneter Gegenstand aus einem schlechten Comicfilm, von dem man genau wusste, irgendwas wird gleich mit diesem passieren. Sie schien mir wie ein fremdes Ding das nicht in diese Marktszene passte, weshalb ich zu ihr ging und sie aufhob, denn sie hatte meine Neugierde geweckt. Sie erinnerte mich an meine eigene Brieftasche und als ich mir ihren Inhalt anschaute fand ich in ihr einen kleinen Zettel mit einer Adresse, sonst nichts, keinen Ausweis, keinen Namen, kein Geld. Nur diese Adresse. Und die sagte mir gar nichts. Also steckte ich die Brieftasche ein und ging weiter durch die Stadt, immer noch wie unter einer Glasglocke, weiter, durch die Straßen und Neubaublocks, durch die kleinen Gärten vor der Stadt, bis ich an den Wald kam. Es war der Stadtwald, der direkt neben der Stadt lag und ich ging weiter in den Wald hinein, an einem Freibad vorbei, über Bahnschienen, dann einen einsamen Waldweg entlang, bis ich vor einem Haus stand, an dem der Weg endete. Es war ein großes, altes Haus, ich schätze es auf etwa Mitte des 19. Jahrhunderts. Es war sehr baufällig und sah nicht bewohnt aus, der Putz bröckelte von den Mauern und im Dach fehlten einige Ziegel. In den Regenrinnen sah man schon kleine Bäume wachsen. Umgeben war es bis ein paar Meter von dichtem, schwarzem Wald und dort wo keine Bäume wuchsen wucherte verwildertes Gras und Gestrüpp. Das Gartentor, wenn man es so nennen kann, lag irgendwo und rostete vor sich hin, genauso wie der klägliche Rest eines Zaunes. Ohne wirklich zu wissen warum folgte ich nun dem kleinen, fast zugewachsenen Pfad, der zur Eingangstür führte und blieb davor stehen. Etwas kam mir bekannt vor. Es war das kleine, schmutzige kleine Zettelchen, welches da hing, wo sich früher einmal die Klingeln befunden haben mochten. Es war dieselbe Adresse.
Nun mag sich manch einer denken, dass das auf seine Art voraussehbar war, manch weniger nüchterne Natur würde sich vor diesen Zusammenhängen vielleicht gruseln, doch mir war weder das eine noch das andere. Ich befand mich immer noch in dieser Glasglocke und ich dachte gar nichts. Außerdem hatte ich schon so manchen verworrenen und obskuren Traum. Man gewöhnt sich daran. Aber zurück zum eigentlichem.
Ich stand also da und betrachtete dieses kleine Zettelchen auf dem die gleiche Adresse stand wie auf dem in der Brieftasche, die ich gefunden hatte. Wie ich schon erwähnte, ich dachte mir gar nichts dabei. Ich ging einfach hinein. Die Haustür war unverschlossen. Das Haus hatte drei Stockwerke, alle in einem miserablen Zustand, riesige Spinnweben hingen von der Decke und auf der Treppe hatten sich hier und da Wasserpfützen gebildet, denn das Dach schien undicht zu sein. In den Wohnungen der ersten beiden Geschosse regte sich kein Leben, sie standen vermutlich schon seit Jahren leer. Im dritten Stock, das direkt unter dem Dach lag, dasselbe. Ich konnte Getrappel von kleinen Füssen vom Dachboden her hören. Vermutlich Ratten, die das Haus in Beschlag genommen hatten, als seine Bewohner auszogen.
Eine Wohnung war jedoch verschlossen. Als ich genauer hinsah, konnte ich einen Schwachen Lichtschimmer entdecken, als ich durch das Glas in der Tür schaute. Innen, vor der Tür musste sich wohl eine Art Vorhang befinden, der nicht ganz zugezogen war, sonst hätte ich das Licht nicht bemerkt. Da es schon fast dunkel war, musste sich in der Wohnung also eine Lichtquelle, eine Lampe oder Kerze befinden. Von draußen hatte ich kein Licht bemerkt, die Wohnung lag wahrscheinlich auf der Rückseite des Hauses. Ich tat also, immer noch ohne nachzudenken, das naheliegenste, ich klingelte. Einmal, zweimal. Dann hörte ich Schritte von innen. Jemand kam zur Tür und als dieser jemand den Vorhang beiseite schob konnte ich in dem schwachen Licht seinen Umriss erkennen. Es schien ein Mann zu sein, etwas so groß wie ich. Einen kurzen Augenblick schauten wir uns wohl beide an, ich von draußen und er von innen. Und für einen kurzen Augenblick hatte ich Angst. „Du warst schon einmal hier“ dachte ich. Doch das dauerte wirklich nur einen Augenblick, dann öffnete der Fremde die Tür und diesmal konnte ich ihn, obwohl es düster war, genau erkennen. Er war wirklich etwa so groß wie ich, hatte ein unscheinbares Aussehen und einen Gesichtsausdruck den ich nicht genau beschreiben kann. Was war es? Wie ich ihn so anschaute kam mir spontan ein Pantomime in den Sinn. Es war, als zeigten sich die Spuren aller Gefühlsausdrücke in seinem Gesicht. Leid, Trauer, Freude, Schmerz, Glück, lachen, weinen... Alles und doch nichts von dem, so seltsam bewegt war es. Und doch war es starr und er blickte mich mit starren Augen an.
Ich weiß nicht wie lange wir uns so angesehen haben, er drehte sich dann jedenfalls um, ließ mich stehen und ging in ein Zimmer, aus dem auch das Licht drang. Ich ging in die Wohnung und schaute mich um. Es war ein erbärmliches Bild. Über den Flur verliefen wir vor einem Jahrhundert die Gasleitungen und der Boden war bedeckt mit einem grauen, schäbigen Belag. Rechts von mir befand sich eine Art Abstellkammer, in ihr war kein Licht, aber ich konnte einiges an aufgehängter Wäsche erkennen und allerlei abgestelltes Gerümpel, alte Flaschen und Müll. Mir gegenüber waren das Badezimmer und die Küche. Das Badezimmer war ziemlich unsauber und in der Küche stapelte sich das Geschirr. Links von mir befand sich noch ein Zimmer, doch dieses stand leer. Alles dort sah alt aus und ich fühlte mich unwohl. Ja, ich fühlte. Mir fiel auf, seit ich die Schwelle dieser Wohnung überschritten hatte war die Glasglocke die mich umgeben hatte seit dieser Traum begann, verschwunden. Ich fühlte, ich dachte, ich war wieder bei mir. Ich war hier mitten in dieser Wohnung und ich brauchte nur meine Hand auszustrecken und es würde echt sein was ich berührte. Noch etwas fühlte ich: Ich war zu Hause. Als ob dies meine Wohnung wäre und ich schon Jahre hier wohnte. Das war mir alles sehr seltsam, wie konnte das mein Zuhause sein?
Ich ging dann zu der Zimmertür in welche der Mann gegangen war und aus welcher das Licht kam. Ich öffnete sie und trat ein. Es war ein düsteres Licht, das von einer Lampe kam die auf dem Boden lag. Der Raum war relativ klein, mit Dachschrägen, einer Matratze, einem Tisch und einem Sessel und vielen Büchern ausgestattet und einem Fenster das den Blick hinaus in die Nacht schickte. Sonst befand sich nicht viel in dem Zimmer. Außer den Bildern. Überall waren Bilder, sie verdeckten die Wände und lagen auf dem Boden, es mussten dutzende sein, große und kleine. Ich nahm jedenfalls an das es Bilder waren, denn sie waren alle mit Tüchern verhangen. Mit Erstaunen betrachtete ich das alles eine Weile, dann erst nahm ich den Mann wahr, der in dem Sessel saß. Er schaute mich an und sagte nichts. Genau wie ich.
Was hatte ich hier gefunden? Was hatte ich denn erwartet? Einen alten Einsiedler, vergessen und verkommen? Stattdessen diesen Raum voller Bilder, die mich magisch anzogen. Alles kam mir so vertraut vor. Ich ging zu einem dieser Bilder, als ich näher kam hörte ich ein leises Singen, Töne, Melodien, die immer lauter wurden, je näher ich kam. Es war grausam. Das war keine kunstvolle Musik, das war Schmerz. Trotzdem wollte ich sehen was hinter dem Vorhang war. Als ich das Tuch berührte und etwas beiseite schob, schwoll diese grausame Musik in meinem Kopf zu einem Tosen an und ich konnte den Schmerz schon körperlich spüren, wie er mit Messern in meine Ohren stieß und mein Gesicht zu Grimassen verzog. Mein Blick verschwamm bereits, doch ich konnte das Tuch nicht loslassen, ich wollte es immer weiter aufziehen, weiter und weiter. Bevor ich das Bild überhaupt sehen hätte können, musste der Schmerz mich zerbrechen.
Doch dazu kam es nicht. Eine Hand riss mich weg von dem Bild. Seine Hand. Er sagte: „Nein.“ und schaute mich an. Die Musik und der Schmerz waren verschwunden, nur ein schwacher Nachklang war noch da, der langsam in mir verhallte. Wir schauten uns an und ich erkannte ihn, an seinen Augen. Diese Augen hatte ich schon so oft gesehen, wenn ich in den Spiegel sah. Es waren meine eigenen. Ich stand vor mir selbst.
„Was sind das für Bilder?“ fragte ich ihn, mich.
„ Erkennst du sie nicht mehr? Schreie. Es sind unsere Schreie.“
„Unsere...Schreie?“
„Ja. Du kannst es doch sehen, in meinen Augen. Kannst du dich nicht mehr erinnern, an all das hier? Hast du sie schon vergessen, die Schreie? Die Nächte, wo sie keiner hörte, wo uns keiner hörte? Hier sind sie lebendig geworden, hier sind sie wirklich geworden, doch ich muss sie verstecken, ich muss sie verhüllen damit niemand sie hören kann, weil keiner sie hören darf. Du weißt wieso. Du kannst es fühlen.“
„Ja...sie tun weh...sie sind grausam...“
„Oh ja, sie sind der Schmerz, unser Schmerz, den nur wir kennen und den wir nicht ertragen können. Du und ich, gemartert von unseren Schreien, die uns fast in den Wahnsinn treiben, so laut und stark sind sie...“
„Und keiner außer uns hört sie, niemand spürt sie...“
Ich stand da und wusste es, ich wusste wo ich war. Ich war hier, Zuhause, im Innersten meines Selbst und stand dem Wächter gegenüber, diesem Fremden, der doch ich selbst war und der Tag und Nacht dieses grauenvolle Zimmer bewachte, voll meiner, unserer Schreie eines stummen Schmerzes. Ich stand da und etwas brach in mir, ein Schleier und ich wusste wieder, alles.
„Warum? Warum tun wir das alles? Warum quälen wir uns?“ fragte ich ihn.
„Wäre ich ein gottesfürchtiger Mann würde ich sagen es ist Schicksal. Doch du weißt, dass es nicht so ist. Du weißt, dass wir keine Antwort kennen, das wir uns nur immer weiter plagen, weiter und weiter und sie verstummen nie, die Schreie.“
„Ja, ich weiß, ich weiß nur zu gut. Ich möchte gehen und schlafen...vergessen...doch ich kann nicht. Kann es nicht ein Ende haben? Hier und jetzt?“
„Wir schlafen doch schon und träumen diesen Alptraum von Leben. Aber um fort zu gehen von hier ist noch nicht die Zeit gekommen. Du weißt es.“
Nein es war noch nicht die Zeit. Es war dunkle Nacht draußen und nur diese kleine Lampe, in diesem kleinen Zimmer schuf etwas Licht. Nein, es war noch nicht die Zeit zu gehen, aber es war Zeit...
„...aufzuwachen!“
Und ehe mein Wächter reagieren konnte riss ich die Tücher von den Bildern und das Tosen kehrte wieder, tausendmal stärker und wurde zu einem Orkan. Die Schreie strömten aus den Bildern und der Schmerz bohrte sich mit seinen eisigen Krallen in meinen Kopf, meinen Körper, mein Herz. Die Welt schwankte, Wände barsten, alles zersplitterte wie Glas und das Brüllen des Schmerzes drang durch meine Ohren in meinen Kopf und bildete in meinem Mund ein Wort...einen Schrei.
Ich schrie und schrie als all die Bilder in mich krochen und sich durch meinen Mund nach draußen brüllten. Ich schrie bis sich mein Innerstes aus mir heraus zu stülpen schien, bis alles heraus platzte aus mir und etwas in mir zerriss. Dann versank die Welt in Dunkelheit.
Als ich wieder aufwachte lag ich noch immer in meinem Bett. Ich habe schon viele Dinge geträumt und vieles davon wieder vergessen. Doch diesen Traum nicht. Ich war noch nie mir selbst begegnet. Vielleicht war es ja nur ein Traum und ich weiß ich bin kein guter Geschichtenerzähler, Gott bewahre, solch eine Geschichte würde heute keinen Fünfjährigen mehr gruseln. Doch was ist wenn es diesen Raum wirklich gibt, dieses Zimmer in mir, mit all den Bildern und den Schreien? Davor habe ich Angst, dass manche Träume wahr werden können. Dass ich mir eines Tages selbst begegne.

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