Der Abgrund vor mir
von Roman Ambühl (misanthropic_humanist)

 

So tief ist er, so schwarz und so unheimlich. Was für ein wunderbarer Abgrund! Wie majestätisch er sich gebietet! Er ist so unbezwingbar und so bewundernswert. Könnte ich nur so sein wie er! Aber ich bin nur menschlich, bin allzumenschlich. Stärken und Schwächen, Freunde und Feinde, Freud und Leid. Immer dieser Mittelweg. Jeder liebt den goldenen Mittelweg. Er macht mich krank. Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte. Die Menschen mit ihren Vorstellungen, mit ihren eingebildeten Werten und Idealen! Ganz anders der Abgrund. Er ist. Er bleibt. Wie lange sehnte ich mich nach diesem Abgrund. Wie viel hatte ich schon von ihm gehört! Alle hatten von ihm gesprochen. Keiner hatte ihn gesehen. Alle verachteten ihn. Die Menschen fürchteten sich vor dem Abgrund. Mich faszinierte er. Ich hörte, wie meine Eltern miteinander über den Abgrund flüsterten. Ich konnte ihre Angst spüren. In der Schule brachte man uns bei, sich niemals dem Abgrund zu nähern. Niemals. Wie oft träumte ich von ihm. Doch kein Traum kam an die wahre Pracht des Abgrundes heran. So viel schöner ist er in der Wirklichkeit! Die Angst der Erwachsenen ergriff schliesslich auch mich. Träume verwandelten sich in Albträume. Ich versuchte, den Abgrund zu verdrängen. Ich erlernte einen normalen Beruf. Ich übte ihn aus. Ich verrichtete meine Arbeit und hatte meinen Platz in der Gesellschaft. Der Abgrund war nicht mehr häufig Gegenstand meiner Gedanken; schliesslich verschwand er ganz. Und ich lebte mein Leben. Ich lebte es so lange, bis ich es nicht mehr aushielt. Ich musste weg. Ziellos, hoffnungslos und einsam zog ich los. Weg von den Lichtern meines alten Lebens, hinein in das Dunkel der Nacht. Wer im Dunkeln geht, zündet einen Traum an. Die alten Lichter verschwanden immer mehr. Plötzlich sah ich ihn. Der Abgrund war da. Noch fern, aber zurückgekehrt in meine Gedanken. Ich wollte nur noch eines; zum Abgrund. Ohne Pause eilte ich zu ihm. Nun sehe ich ihn vor mir. Seine Dunkelheit, seine Unüberwindbarkeit und seine Ursprünglichkeit; wie faszinierend das alles ist. Nicht dunkler und unüberwindbarer als die menschlichen Abgründe, aber ehrlicher und reiner. Wie oft hatte ich versucht, Brücke zu sein, hatte versucht, menschliche Abgründe zu überwinden. Und wie oft bin ich fehlgeschlagen. Wäre ich doch auch ein Abgrund statt einer wackligen Brücke gewesen! Ich hätte die Menschen auseinander gehalten, hätte jeden Konflikt verunmöglicht. Doch so war ich nicht. Niemals hätte ich so sein können. Ich werde mich mit dem Abgrund vereinigen. Ich werde Teil von ihm werden. Ich muss den Schritt wagen.

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