Eine Nacht
von sloggi

 

Schattengleich bewegt es sich durch seine abgedunkelte Wohnung. Auf die Nacht wartend geht es unruhig aber langsam auf und ab, getrieben von Hunger. Der Sucht, die es zu dem macht, was es heute ist. Nein was es schon seit Jahrhunderten ist und nie aufhören wird zu sein.

Es war ein schöner sonniger Tag gewesen, der nun langsam in den Abend überging. Sie waren sehr früh aufgestanden und hatten zusammen gefrühstückt. Der Duft von frisch gebrühten Kaffee und der goldbraunen Brötchen im Backofen lag in der Luft. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die Wolkendecke, stille Vorboten eines fröhlichen Tages. Als sie die Sonnenstrahlen entdeckten, entschieden sie sich den Tag an der frischen Luft zu verbringen. Sie verließen die Wohnung in Richtung Altstadt, vorbei an den alten Fachwerkhäusern und den kleinen Geschäften. Ab und zu blieben sie vor einem liebevoll gestalteten Schaufenster stehen und träumten von der gemeinsamen Einrichtung oder gemeinsamen Stunden, inspiriert von den Dingen, die sie in den Auslagen entdeckten. Hand in Hand erreichten sie den nahe gelegenen Park. Wie auf ein unsichtbares Kommando rannten beide los, als wollten sie die Sonne einfangen. Erschöpft ließen sie sich auf in das hohe Gras einer Wiese fallen. Sahen in den Himmel, auf die weißen Bögen, die Flugzeuge in den Himmel zeichneten.

Immer wieder sieht es auf die Uhr, die im Halbdunkel seines Wohnzimmers an der Wand hängt. Das Wohnzimmer ist fast leer. In der Mitte des kahlen Raumes stehen zwei Stühle an einem Tisch. Das Parkett ist ungeschliffen und schmutzig, so das seine Fußspuren ein Muster darauf zeichnen. Die Wände sind untapeziert und kahl, teilweise ist der Putz heraus gebrochen, unter dem das Mauerwerk zu erkennen ist. Das Ticken des Uhrwerks ist das einzige Geräusch in der Wohnung, sonst ist es still. Eine unheilvolle Stille, die es aber nicht mehr wahr nimmt. Zu groß ist der innere Zwang, die Sucht die gestillt werden muss. Nicht mehr lang und die Sonne verliert auch ihren letzten Strahl an die Nacht. „Es wird Zeit“ dachte es.

Nach dem Abendessen sitzen sie gemütlich aneinandergelehnt auf dem Sofa. Begleitet vom Schein der aufgestellten Kerzen, leiser Musik und einer Flasche Merlot. Wieder träumen sie von ihrer gemeinsamen Zukunft, zeichnen ein Bild in den stimmungsvollen Raum.


Endlich hat die Sonne den Horizont verlassen. Die Nacht legt ihren Schleier der Dunkelheit über die Welt. Der Zauber des Tages verblasst, lässt nur noch Konturen von dem erahnen, was am Tage noch farbenfroh und lebendig war. Langsam öffnet sich die Tür, der Schatten gleitet hinaus. Ein schneller tiefer Atemzug und es taucht ein, in das Schwarz der Nacht.

Sie leeren das letzte Glas Rotwein.

Der Schatten schleicht lauernd durch die Straßen. Die Erwartung treibt es voran, wie eine Schlange. Lautlos gleitet es durch die schmalen Nebenstraßen. Suchend nach der einen Chance dieser Nacht, wohl wissend das es sie geben wird. Es meidet auf seinem Weg das spärliche Licht der Laternen, berührt immer wieder flüchtig die grauen Fassaden der Häuser. Wie ein eiskalter Hauch, der lautlos die nackte Haut streift. Fast spurlos.

Sie liegen einander in den Armen. Müde aber glücklich lassen sie den Tag noch mal Revue passieren. Dennoch gewinnt nach ein paar Minuten die Müdigkeit. Mit einem Lächeln schlafen sie ein.

Endlich entdeckt es ein offenes Fenster. Es lauscht in die Nacht. Kein Geräusch, es ist soweit. Mühelos betritt es den Raum. Stille.

Ein Schatten fällt über ihr Bett, unheilvoll hüllt er alles ein. Kein Ton, durchbricht diese Stille. Es betrachtet die schlafenden Körper. Fährt mit den bleichen, fast weißen Fingerspitzen den weichen Hals entlang. Ein wissendes Grinsen umspielt das Gesicht. Scharfe Eckzähne blitzen in der Dunkelheit auf. Sucht übernimmt die Kontrolle, Wahrnehmung verschwimmt. Eisig dringt der Wind durch das Fenster, taucht den Raum in kaltes Rot.

Am nächsten Morgen liegt es in seiner abgedunkelten Wohnung. Die Zeitung in der kalten blutigen Hand. Es hat den Artikel nicht gelesen, denn es weiß, was dort steht. Dennoch hat es sie gekauft. Schon seit Jahrhunderten kauft es sie, ein Ritual. Es möchte die Erinnerung behalten, nicht vergessen. „Der womöglich einzige menschliche Zug an mir“ denkt es. Doch die Sucht unterscheidet und sie bleibt unstillbar. Sie greift Nacht für Nacht nach ihm. Sein Dogma in der Ewigkeit, einsam, grausam und unsterblich.

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