Sehnsucht nach der verlorenen Welt
von Cora Corell (eury99)

 

Liebe zu einem Gestern, das besser ein Heute wäre



Gerade sagte ich zu Dir: “Das darfst Du nicht!“
Gerade sagte ich zu Dir: „Dort darfst Du nicht spielen!“
Gerade sagte ich zu Dir: „Dort darfst Du nicht hingehen!“
Gerade sagte ich zu Dir: „Du musst leise sein!“

Und nun sehe ich in Dein trauriges Gesichtchen
Und verstehe, warum Du nun überhaupt keine Lust
Mehr hast, irgendetwas zu unternehmen.

Und es bricht mir schier das Herz
Dich so bedrückt, still und von Verboten und Regeln
Umgeben, ja, eingekreist zu sehen
Und überall und ständig alles bedenken
und einhalten zu müssen

Und ich weiß, es müsste anders sein
Ich weiß, so wirst Du ein gehemmter und unfreier Mensch
Ich weiß, dass die Kindheit so keine Freude macht
Ich weiß, dass Du am Spielen nicht mehr viel lustig findest
Ich weiß. Dass Dich die Unfreiheit bedrückt
Und viel zu schnell erwachsen werden lässt
Dir die unbeschwerten Jahre eines Kindes raubt

Und ich denke voller Sehnsucht zurück an früher, als

Die Dörfer voller vertrauter Gesichter
Voller Bauernhöfe, Kinder und Tiere
Die Häuser und die Zäune aus Holzstaketen
noch heimelig und alt sein durften
Die Feierabendbänke vor den Anwesen
Die Alten im Dorf mit ihrem herrlichen Dialekt
Den unzähligen Runzeln und Falten des Alters und der Weisheit
Die zu Hause lebten und bis zuletzt dazu gehörten
Den Wäscheplatz, die Bleiche, den Dorfplatz
Das Backhaus mit dem herrlichen Duft von frischem Brot
Mit den herrlichen alten Linden und Eichen
Das alte Spritzenhaus und die kleine Kirche
Den Dorfarzt, der jeden von Geburt an behandelte
Den kleinen Dorfladen mit den vielen Süßigkeiten
Die etwas Besonderes und die Ausnahme waren
Die Wiesen und Felder noch saftig und grün
Voll mit herrlichem Unkraut wie Rittersporn, Klatschmohn
Die wir pflückten und stolz nach Hause schleppten
Und Gänseblümchen, aus denen wir Kränze wanden
Die Feldwege noch steinig
Und nach dem Regen schlammig waren
Die Gärten noch voll herrlichem Essbaren standen
mit Obststräuchern, Erdbeeren, Bohnen, Erbsen
als die Kartoffelkäfer noch gerne lebten
und gemeinsam die Äcker überfielen
das ganze Dorf ging Rüben verziehen
und Kartoffeln häufeln, auch die Kinder halfen mit
die stärkende Brotzeit mit dem Pferdewagen gebracht
mit dem hölzernen Handwagen zu den Pflanzplätzen gezogen
Johannisbeeren frisch von der Rispe am Strauch
Den Bauch vollgeschlagen mit Kirschen direkt vom Baum
Pflaumen, Äpfel, Zwetschgen, Birnen aus der Hand in den Mund
aus dem Dorfteich die Blutegel gefischt wurden
barfuss aus dem Bach die Molche und Kaulquappen
Geburtstage, Todesfall, Hochzeit und Firmung
Jeder nahm an allem ganz selbstverständlich teil
Auch die Hilfsbereitschaft war stets vorhanden
Die Menschen sich kannten, trafen,
sich erzählten und einander zuhörten
die Strassen noch ruhiger und
Von uralten Bäumen umsäumt
Die niemanden störten
Der Verkehr nicht so dicht

Das Frühjahr mit Krokussen, Maiglöckchen und Osterfeuer
Dem Vorbereiten und Pflanzen
Die heissen Sommer voller Planchen im Bach,
Baden im See und Radfahren, Rollschuhlaufen,
gegen den Durst den selbst gemachten Obstsaft
den Kinder-Hunger mit Stullen gestillt
Den Herbst mit Erntedank und Drachensteigen
Kartoffelfeuern und Rübenernte
mit Grünkohl Und Rhabarberkuchen
Die kalten Winter mit meterhohem Schnee
Schlittenfahrten, Schneemännern, Schneeballschlachten
und selbst gebauten Sprungschanzen und Iglus

Das Leben im Einklang mit der Natur
Und die Tradition der Generationen
Noch etwas selbstverständliches hatte

Jetzt habe ich sicher noch so vieles nicht erwähnt
Das meine Kindheit so schön und reich gemacht hat
In meinem herzen bewahre ich das alles auf
Als Erinnerungen fein säuberlich gehegt

Aber mein Herz blutet bei dem Wissen
Das Du, mein Kind, all dies niemals kennen lernen kannst
Denn dies alles gibt es längst nicht mehr
Nicht einmal im kleinsten Dorf blieb die Zeit stehen

Heute dürfen sich Kinder und Tiere nur noch
Nach höchstrichterlichen Zeitplänen
Natürlichem Lärm und Lauten hingeben
Heute ist jeder Baum zu viel, jedes Kind zu laut
Jedes Tier zu lästig und der Nachbar fremd
Jede Musik überlaut, jede Party ein Besäufnis

Zu viele Menschen gemein und brutal
Zu vieles verboten, zu wenig noch möglich
Zu viele Triebtäter in Freiheit
Zu viele Verbrechen und kleine Strafen
Zu viel Angst in den Menschen
Zu wenig Geld in den Strümpfen
Zu wenig Zeit und zu viel Hast
Zu wenig Geduld und zuviel Verlangen
Zu viel Ungerechtigkeit und zu wenig Verständnis

Direktive der Zeit: Kinder nicht erwünscht
Nur im Interesse der Rentensicherung geduldet

Das bäuerliche Leben starb dahin –
Auch die Besinnlichkeit
Und der herrliche Zauber der Ebenmäßigkeit
Eines ganzen Zeitalters wurden damit ausgelöscht

Mein Kind, es tut mir so unglaublich leid,
das ich Dir diese kaputte Welt
am Rande der Katastrophe
als Platz für Kindheit und Leben zumute
aber eine andere kann ich Dir nur
in Bildern aus meinen Erinnerungen
zeigen und schenken.

Ich liebe Dich so sehr –
Doch ich weiß nicht, ob es richtig war
Dich zu empfangen ..

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