Sie hatte keine andere Wahl...
von sarah

 

Am Ende des langen Arbeitstages packte sie ihre Sachen zusammen, nahm ihre Tasche und lief zügig über den Gang. An dessen Ende blieb sie stehen und drückte auf den Knopf in der Wand, der daraufhin zu leuchten begann. Sie wartete kurz und schon bald öffneten sich die metallenen Türen und eine kleine Kammer in der bisher nur ein junger, blonder Mann stand, kam dahinter zum Vorschein. Sie grüßte ihn freundlich, beachtete ihn allerdings nicht weiter, als sie sich zu ihm in die Kammer stellte und beobachtete wie die Türen sich wieder schlossen. Die besagte Kammer bewegte sich langsam mit einem Surren nach unten und sie hoffte nur, dass sie sie bald wieder verlassen könnte. Sie hoffte einfach, dass die Bewegung so schnell wie möglich wieder vorbei war, die Türen sich wieder öffnen würden und sie die enge Kammer durch diese wieder verlassen könnte. Sie hatte einen langen Tag gehabt und sich den Feierabend wirklich verdient, doch bevor sie ihn genießen konnte, musste sie nach Hause kommen, sie musste das Gebäude verlassen, in ihr Auto steigen und nach Hause fahren. Wenn sie Pech hatte, würde sie im Berufsverkehr in einem Stau stehen. Nun hoffte sie bloß, dass sich wenigstens die Türen der Kammer bald wieder öffneten, damit zum nächsten Punkt der Liste, die sie durcharbeiten musste um nach Hause zu kommen. Sie hatte erstmal keine andere Wahl als darauf zu warten, dass sich die Türen öffneten.
Doch das taten sie nicht. Mit einen Ruck, der die beiden einander fremden Personen ein Stück vorstolpern ließ, stellte sich die langsame Abwärtsbewegung ein und mit einem letzten Aufflackern der Lichter versagten auch diese. Es dauerte einige Momente bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, einige sehr stille Momente in denen man jeden Atemzug, der in der Kammer getan wurde, hören konnte, so still war es. Sie konnte die Realität nicht begreifen, dass so etwas gerade ihr und gerade heute passierte, dass tatsächlich sie, gerade heute mit diesem fremden Mann im Aufzug stecken geblieben war.
Nur langsam vergingen die Momente der Gewöhnung an die Dunkelheit, langsam begann sie wieder etwas zu erkennen, erst nur einige Schatten in der Dunkelheit, langsam die Umrisse einiger Knöpfe und schließlich farblose Körper.
Sie wusste nicht, wie lange sie nun schon hier standen, ihre Uhr konnte sie nicht mehr erkennen. Sie wusste nur, jeder Moment hier drinnen war einer zu viel, jede Sekunde, die sie hier verbrachte, war eine zu viel, jeden Atemzug, den sie oder auch er hier drin machten, war einer zu viel. Die Wände waren ihr so nah, wirkten bedrohlich nah und sie hatte das Gefühl, der wenige vorhanden Platz würde für sie und ihn nicht lange reichen. Ihr Blick huschte von der einen Seitenwand zur anderen um sich zu vergewissern, dass die Wände sich einander nicht näherten und so den wenigen Platz nicht noch weiter reduzierten. Auch ihr Gesicht hatte mittlerweile einen panischen Ausdruck angenommen und ihr Puls begann zu rasen.
„Wir werden hier wohl einige Zeit fest sitzen.“, sprach nun auch der junge Mann ihren Gedanken und ihre Angst aus. Auch er sah besah sich die kleine Kammer und konnte so sicher sein, dass sie sich nicht mehr bewegte und dass die Dunkelheit nicht an einer durchgebrannten Glühbirne lag.
„Ich bin Chris“, stellte er sich außerdem vor und sah die junge Frau nun von der Seite an, doch sie erwiderte seinen Blick nicht, sondern behielt weiter jede nicht vorhandene Bewegung der Wände im Auge. „Josephine“, nannte nun auch sie ihren Namen, noch immer ohne ihn anzusehen. Er musterte sie und ihre Panik und stellte schließlich eine Theorie auf: „Platzangst?“ und sie schaffte zur Bestätigung nur ein Nicken. Er beobachtete sie noch einen Moment bevor er sich mit dem Rücken vor die hintere Wand stellte und sich an dieser niederließ. Er lehnte seinen Rücken gegen die hintere Begrenzung der Kammer, hatte die Füße ein Stück vor seinem Körper auf dem Boden aufgesetzt, die Beine angewinkelt und legte seine Ellbogen auf seinen Knien ab. „Mach's dir besser gemütlich, kann noch dauern bis wir hier herauskommen.“, schlug er vor und wusste dabei, dass sie eigentlich keine andere Wahl hatte, sie konnte entweder das tun, oder die ganze unbekannte Zeitdauer dort stehen und Angst haben, Angst die sie auf die Dauer innerlich zerfressen würde, eine Angst, die vielleicht nachlassen würde, wenn sie den Raum nicht von der Mitte, sondern vom Rand aus, in seiner ganzen und nicht nur seiner halben Größe sehen würde. Zögerlich und noch immer ängstlich lief auch sie zur Rückwand des Raumes und setzte sich neben ihn. Chris lächelte sie an und Josephine hatte keine Ahnung neben wem sie da überhaupt saß, sie wusste nichts, als seinen Namen von ihm. Er begann sich mit ihr zu unterhalten, das Thema war erstmal egal, er begann sie einfach von ihrer Angst abzulenken und sie hatte keine andere Wahl als ihm zu zuhören. Die Atmosphäre taute auf und Chris wurde für Josephine mehr als ein Typ, den sie mal im Aufzug stehen sehen hat, Josephine wurde für Chris mehr als jemand, den er mal im Aufzug stehen sehen hat. Chris' Gerede erfüllte seinen Zweck und lenkte Josephine so lange ab wie es nötig war, solange bis die Beleuchtung mit einem kurzen Flackern ihren Dienst wieder aufnahm und der Aufzug sich mit einem leisen Surren wieder nach unten bewegte...

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