ALS - Alles Leben stirbt
von Gerti Knöpfle - Hartmuth (eljuga)

Kapitel
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Kräfte entschwinden

Unser Elternhaus war schon sehr stark von einer bäuerlichen Tradition geprägt.
Abgesehen davon, welche Privilegien das männliche Geschlecht in diesem Hause genoss. Es war stur fest gelegt, welche Tätigkeiten im Bereich der Frau lagen.
So gehörte es zur Tradition, dass zum Sonntagsfrühstück ein selbst gebackener Hefezopf auf dem Tisch stand und am Nachmittag ein Kuchen zum Kaffee serviert wurde.
Mhm, der herrliche Duft nach frisch Gebackenem stieg jeden Samstag durch das ganze Haus.
Als kleine Kinder bewunderten wir immer, wie flink und schnell die Mutter aus den lang gerollten Teigwürsten zwei große und dicke Zöpfe flocht.
Die Kuchen wurden meist nach der saisonalen " Ausbeute " aus dem heimishcen Garten gebacken. Dies war natürlich immer mit sehr viel Arbeit verbunden. Es mussten zusätzlich Beeren geerntet und verlesen werden.Oder Äpfel geklaubt, geschält und in Schnitze geschnitten werden. Wenn Jemand gesund
ist und all diese Dinge mit Liebe und Freude verrichtet, dann wird dies alles nicht als Arbeit empfunden. Das wird einem erst bewusst, wenn es nicht mehr selbstverständlich ist, dass bei den Fingern ganz einfach die Feinmotorik nicht mehr funktioniert.
Das erste Mal ausgesprochen, dass es ihr sogar Schwierigkeiten bereitet, die selbst gepflückten Johannisbeeren abzuzupfen, war im Juni 2002. Mein Sohn Elias hatte Geburtstag und die Oma wollte ihrem Enkel zum Geburtstag einen Kuchen mit Johannisbeeren mitbringen. Es gelang ihr zwar, aber es bereitete ihr große Mühe, die kleinen Beeren von den dünnen Stängeln abzunehmen.
Ich für mich dache zu diesem Zeitpunkt noch immer, dass es nicht ALS ist und dass die Mutter wieder ganz gesund wird. Im Sommer 2002 war ich noch guter Hoffnungauf eine andere Diagnose. Natürlich auf eine, die geheilt werden kann. Sie selbstwar diesbezüglich eher pessimistisch und sagte immer öfter:" Ich spüre doch, wie mir die Kraft entschwindet."
An einem Samstagnachmittag im Herbst 2002 kam ich zu Mama in die Küche. Sie stand an der Arbeitsplatte und mühte sich mit dem Deckel der Küchenmaschine herum. Sie hatte darin einen Hefeteig zubereitet und der war inzwischen ordentlich größer geworden. Jetzt brachte sie den Deckel, der mit einer Vierteldrehung an der Rührschüssel fixiert war nicht merh herunter. Ich bot ihr meine Hilfe an und im Nu waren Deckel und Schüssel von einander getrennt. Sie schaute mich entgeistert an und konnte es überhaupt gar nicht fassen, dass der Deckel so leicht herunter ging. Sie vermutete, er wäre irgendwie eingeklemmt gewesen. Als sie sah, dass es keine Schwierigkeitwar, die beiden Teile voneiander zu trennen, fing sie an zu weinen und sagte entschlossen:" Das war heute mein letzter Hefeteig! Ich habe schon so viele gemacht, jetzt ist Schluss damit, ich kann die Maschine nicht mehr öffnen!" Es blieb ihr Letzter!

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