Die fünfte Jahreszeit
von Carsten Maday

 

Der Melder rief sich das Bild in Erinnerung. Die weiten Wiesen in ihrer Sommerpracht. Der kleine, kühle Bach. Das Wäldchen auf dem Hügel. Fruchtbare Äcker mit hohem Getreide.
Nun waren die Äcker tausendfach umgepflügt und brachten kein Leben mehr hervor. Die Wiesen waren zerwühlt, kein Grün, nur kotiger Morast, trichter- und gasverseucht. Das Wäldchen war zerschossen. Ein einzelner kahler Baum stach aus der Schlammwüste. Der Bach. Der ewige Regen hatte seinen zerschundenen Lauf zum überquellen gebracht. Das Wasser lief in die Gräben, eiskalt und hüfthoch. Es war, als habe eine fünfte Jahreszeit den Sommer abgelöst. Mal war sie heiß und trocken, mal kalt und nass, aber stets schrecklich. Sie wollte nicht enden, und der Melder fragte sich, ob sie wohl überall herrschte.
Der Melder erinnerte sich an den Sommer, aber nicht an sich selbst. Wie er wohl damals gewesen war? Ein anderer Mensch? So wie der Junge, der ihm gegenüber saß? Ein zu junges Gesicht, vom Schrecken überwältigt. Der Junge hockte wie der Melder bis zu den Schultern im schlammigen Wasser. Über ihnen wütete ein Sturm aus Granaten und Regen. Explosionen erhellten die Nacht wie Blitze.
Was schießen die denn noch, fragte sich der Melder. Haben die da drüben denn Sonnenschein?
Er sah auf den Jungen. Die Ecke eines Verbandes ragte aus der Brühe. Er hatte eine in die Brust verpasst bekommen. Zwei Träger hatten ihn hier abgesetzt. Er war ihnen zu schwer geworden und der Weg nach hinten war weit. Die hellen Augen im schlammbesudelten Gesicht des Melders bohrten sich auf den Jungen. Der schrie schon lange nicht mehr, wimmerte nur hier und da. Der Junge sank nach vorn. Sein Gesicht verschwand im Schlamm, stieß kleine Bläschen aus. Mit übergroßer Willensanstrengung hob der Melder seinen triefenden Arm aus der Brühe und drückte den Jungen aus dem Wasser zurück an die Grabenwand. Der Junge starrte leer. Der Melder machte müde die Augen zu. Als er sie wieder öffnete, ragten nur noch die Schultern des Jungen aus dem Wasser. Sein schmutziges Haar bewegte sich im Wasser. Der Melder hätte jetzt gerne eine Zigarette gehabt. Aber es war zu nass und Tabak war aus.
Er hörte den Ruf erst nicht. Zu laut krachte es. Und als er ihn hörte, wollte er ihn nicht wahr haben.
>Melder!<, schrie der Feldwebel von dem vollgelaufenen Unterstand her. Er winkte den Melder herbei. Der Melder fühlte die Ungerechtigkeit der Welt. Wie können sie denn? Jetzt! Wie können sie denn? Er sah auf den Jungen im Wasser. Vor einigen Monaten, als der Melder auch so jung war, hatte er sich gefreut Melder zu sein. Eine wichtige Aufgabe und kein langweiliger Grabendienst mehr. Und der Herr Hauptmann war zufrieden. Er wurde Melder zur speziellen Verfügung und der Hauptmann redete von Eisernen Kreuzen. Aber dann ging der Sommer und die Wege über Wälder und Wiesen wurden zu Spaziergängen durch die Todeszone. Der Tod machte alles gleich, auch die Landschaft. Verlassene Gräben, Baumstümpfe, Gefallene dienten als Orientierungshilfe. Aber nie war man sicher, ob der Weg zurück noch genauso aussah.
Langsam stand er auf und kämpfte sich aus dem Morast frei. Das schlammige Gesicht des Feldwebels war regungslos. Er gab ihm die Meldetasche.
>Vom Herrn Hauptmann an den Herrn Major. Persönlich zu übergeben.<
Persönlich, dachte der Melder. Zur speziellen Verfügung. Wie können sie mich nur rausschicken? Wie soll ich nur-? Ich lege mich in ein Loch und sage, es ging nicht. Aber das dachte der Melder oft und tat es nie. Irgendwie ging es immer.
Er machte sich auf den Weg durch den Schützengraben. Das Wasser hatte die Kameraden aus den Stollen getrieben. Sie quetschten sich an die Grabenwände, suchten Schutz vor den Granaten. Vor dem Wasser gab es keinen. Der Melder wankte voran, trat auf Hände und Beine. Manche wurden zornig, andere sagten nichts mehr. Endlich kam er zum Laufgraben nach hinten. Hier ging das Laufen besser. Bohlen lagen auf dem schlammigen Grund. Sie federten von den toten Kameraden darunter.
Der Melder war erschöpft. Sein Gesicht glühte unter dem Schlamm. Sein Körper aber fror in den nassen Lumpen. Seine Füße spürte er nicht mehr. Der Grabenposten wartete. Der Melder sah den Posten kaum in der Dunkelheit. Der Posten lud den Melder oft auf eine Zigarette und ein Schwätzchen ein, denn der Melder kam nach hinten und brachte Latrinenparolen mit. >Werden wir abgelöst?< wollte der Posten am meisten wissen. Nun sagte der Posten nichts. Seine Augen blickten dumpf in die Ferne der Grabenwand. Dann grinste sein starres Gesicht, als der Melder vorbeistapfte. Der Melder sagte nichts. Zu schwer die Uniform. Das Gewehr war wie Blei. Er hätte gerne seine Gasmaske abgelegt. Gas bei dem Wetter? Wie konnten sie? Aber er behielt sie. Er hatte starke Angst vor Gas.
Der Laufgraben war zerschossen. Der Melder kroch außen über die Trichterwüste, vorbei an Kadavern. Er kroch eine Ewigkeit. Den Hügel hinauf. Der lag unter schwerem Feuer. Der Weg um den Hügel war sicherer aber lang. Der Melder war zu müde. Der Hügel war kahl. Nur zerfetzte Stümpfe. Der Melder suchte nach dem Beobachtungsposten. Er fand ihn nicht in der Dunkelheit. Vielleicht war er auch verschwunden. Der Melder schaffte es auf die andere Seite des Hügels. In seinem Schatten wagte er es, sich aufzurichten. Die Granaten kamen hier weniger hin. Das Gehen war mühsam, aber besser als Kriechen. Der Melder kam zur Batterie.
Die Batterie schwieg in banger Erwartung. Der Melder kroch zu dem Artilleristen ans Geschütz. Der Artillerist hatte große Angst und redete viel. Was für eine Schweinerei es sei, dass sie keine Deckung ausheben durften. Damit die Flieger die Erdarbeiten nicht bemerkten. Wo´s bei dem Wetter überhaupt keine Flieger gäbe. Bis jetzt sei es noch ruhig. Aber wenn die Batterie Feuerbefehl bekam und der Feind ihre Stellung bemerkte, dann gäbe es was.
Ein Leutnant kam und rief >Sperrfeuer!< Der Melder sah die Wut des Artilleristen.
>Sperrfeuer<, schrie er dem Melder noch zu. >Als ob man bei dem Wetter angreifen könnte. Wie können die denn?< Der Melder stampfte müde weiter. Die Batterie sprang an und schoss Sperrfeuer. Der Melder war noch nicht weit, als er es hinter sich in die Batterie einschlagen hörte.

Der Major nahm die Meldetasche und las die Meldung. Er lächelte und ging. Den Melder beachtete er nicht. Der Melder hätte am liebsten geheult, so wütend war er. Der Adjutant kam und sagte dem Melder, er solle sich ausruhen. Ob er Hunger habe? Er wolle für Brot und Kaffee sorgen lassen.
Der Melder hockte im Schlamm unter einer Plane und kaute nasses Brot und trank heißen Ersatzkaffee. Er war glücklich. Er schlief ein. Er wurde geweckt. Der Adjutant führte ihn zum Herrn Major. Der gab ihm die Meldetasche. Für den Herrn Hauptmann. Tränen standen dem Melder im Gesicht, als er ging. Nicht wieder nach vorn. Nicht wieder! Und Ersatz sollte er auch nach vorn führen.
Der Adjutant führte den Melder hinaus. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Adjutant war wütend und flüsterte, als drohe ihm die Erschießung. Der Melder solle nur vorsichtig sein, sagte er. Er wisse, wie es vorne sei. Wenn es nicht ging, solle der Melder nicht sein Leben riskieren.
>Es ging noch immer<, sagte der Melder von den Worten des Adjutanten ermutigt. Es ging immer.

Die Neuen waren jung. Ablösung im Feld, dachte der Melder. So schlimm stand es. Die Jungen waren erschrocken, als sie den Melder sahen. Ein paar Wochen und sie waren tot oder wie der Melder. Eingefallene Gesichter mit leblosen Augen. Sie gingen nach vorn. Einige fielen zurück. Die Ausrüstung wurde ihnen schwer. Der Melder musste zornig warten. Die würden was erleben, wenn er wegen ihnen draufging. Es ging weiter.
Die Batterie schwieg. Nur Pferde und Menschen schrieen. Die Geschütze waren verbogen, die Protzen zerschmettert. Es hatte die Batterie beim Stellungswechsel erwischt. Die Hänge wurden umgepflügt, aber der Gipfel des Hügels schien vor Einschlägen zu kochen. Diesmal entschied der Melder sich für den langen Weg, obwohl der Tagesanbruch drohte. Nur schnell voran. Der Melder musste wieder auf Nachzügler warten. Sie sammelten sich in einem Trichter und warteten. Einige blieben verschwunden, als der Melder weiterging.

Der Regen drückte das Gas nieder. Es sammelte sich schwer auf dem Boden und in den Trichtern. Der Melder grub wütend seine Fäuste in den Trichterschlamm. Das Feuer hatte sie festgenagelt. Sie konnten nicht weiter. Er hörte Schreie, Würgen und Gurgeln. Ja, hatte man denen denn überhaupt nichts beigebracht? Der Melder unterdrückte die Erstickungsangst unter der Gasmaske. Einige der Neulinge hatten Panik bekommen und sich die Masken vom Gesicht gerissen, obwohl das Gas in dichten Schlieren in den Trichtern um sie herumwaberte. Andere hatten ihre Masken nicht richtig aufgesetzt, andere zu spät.
Ja, das müssen die doch gelernt haben, schrie der Melder in seinem Inneren. Er presste sich die Ohren zu und wagte nicht, sich umzudrehen. Ja, um Himmels willen!
Einige hielten es nicht aus und sprangen aus den Trichtern ins Feuer. Der Melder folgte ihnen.

Der Melder schaffte es zum Ende des Laufgrabens. Allein. Es wurde Tag. Der Posten lag zerschmettert in der Brühe, die sich rot gefärbt hatte. Der Melder ließ sich in den Graben gleiten. Seine Unterschenkel waren fort. Sein Leben floss dahin. Er hätte jetzt gerne eine letzte Zigarette gehabt. Mit schwacher Hand löste er die Meldetasche. Er öffnete sie. Er kramte nach der aufgeweichten Meldung. „Bauer e4 nach d5“ stand darauf. Der Melder starb.

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