Graues Licht
von Maxi Reichlin (baum)

 

Graues Licht

Es ist morgen.
Oder ist es bereits Nachmittag?
Schwer zu sagen.
Gerade erst aufgewacht. Oder schon seit Stunden wach, ohne es zu merken?
Habe ich überhaupt geschlafen?
Einerlei – völlig egal.
Draußen: Sonne scheint, Vögel zwitschern, Farben überall – blauer Himmel, grünes Gras...doch zu sehen ist nur weiße Zimmerdecke.
Kühler Wind weht herein durch das offene Fenster.
Vergessen, es zu schließen letzte Nacht?
Egal.
Völlig gleich.
Fernseher läuft noch – wohl dabei eingeschlafen. Doku-Soap oder Casting-Show? Oder Kochsendung? Flimmernde Bilder, sprechende Menschen – ausgeblendet. Nicht registriert. Bewusstsein verschlossen.
Im Herzen: Leere – Perspektivlosigkeit.
Was ist los heute?
Was wird morgen sein?
Was war gestern?
Erinnerung: Sonne...doch verzerrt und von Menschenhand geschaffen – perverse Kopie des Originals. Gemacht, um Bilder und Gedanken auszublenden.
Erinnerungen wie ein Film im Bewusstsein: Party, Alkohol, Musik, Tanz. Erinnerungen. Bereits vergangen. Verblasst.
Kopf schmerzt. Zu viel gesoffen gestern? Gut möglich. Doch völlig gleich.
Ich schmecke Blut. Aufgeschlagene Lippe. Vielleicht Kneipenschlägerei...oder einfach nur gestürzt und auf harten Beton aufgeschlagen? Und wieder: Egal. Völlig einerlei.
Graues Licht.
In der Ecke, immer noch warm, eine Bong. Gemacht aus Müll – Zerbrochener Glaskrug, Coladose, Flaschenhals, Chillum aus Schraubenmutter.
Gemacht, um Bilder und Gedanken auszublenden.
Tür wird geöffnet.
Kopf drehen.
Vertrautes Gesicht im Türrahmen. Oder völlig fremd?
Frage: Alles in Ordnung?
Keine Antwort. Nicht einmal im Ansatz.
Oder doch?
Spreche ich?
Ich spüre, wie sich meine Lippen bewegen, höre, wie Worte kommen.
Doch sage ich etwas? Meine ich etwas?
Tür wird geschlossen.
Kopf zurück drehen.
Graues Licht.
Sonnenstrahlen berühren meine Wange.
Wärme – kaum spürbar. Geblendet. Schließe die Augen.
Wovor?
Was will ich nicht sehen?
Doch: Funktioniert nicht.
Augenlider – schwarze Kulisse für Gedanken und Gefühle.
Etwas drängt an die Oberfläche.
Gefühle, die schon lange erfolgreich verdrängt waren.
Bilder – Eindrücke. Wie aus dem Leben eines anderen.
Weine ich?
Ich spüre, wie eine Träne über meine Wange rinnt. Sicht verschwimmt.
Ich reiße die Augen auf.
Wahrheit – Erkenntnis der Trostlosigkeit. Lerne mich selbst kennen...und hasse mich.
Schrei.
Nicht fragen: Schreie ich? Sondern einfach: Schrei.
Schlag mit der rechten Faust, treffe die Wand und fühle den Schmerz.
Gar nicht bemerkt, dass ich aufgestanden bin.
Doch jetzt: Voll da.
Bewusstsein.
Hand schmerzt. Doch es ist ein guter Schmerz, denn er lässt mich wissen, dass ich lebe.
Ich bin am Leben, sehe die Scherben. Trete ich einen Schritt zurück, erkenne ich, wie die Scherben ein Bild malen. Mosaik – Portrait meiner selbst.
Schlage noch einmal zu, fester diesmal.
Wieder Schmerz.
Doch nicht genug.
Will das Gefühl halten.
Um mich selbst zu bestrafen? Oder nur, um zu wissen, dass ich noch lebe.
Doch wieder egal.
Der Schmerz ist klar. Dringt wie Sonne durch das graue Licht.
Schmerz ist klar. Schmerz ist sichtbar. Und Schmerz kann nicht lügen.
Führe meine Hand zur Schere, die auf dem Nachttisch liegt.
Keine Fragen mehr, keine Ausflüchte.
Schmerz ist gut.
Lege zitternd die Klinge an mein Handgelenk.
Immer noch Tränen. Immer noch Schrei.
Graues Licht.
Doch mit dem ersten Schnitt wird es rot.
Schmerz schießt durch meinen Körper – ich habe einen Körper. Wie gerade erst entdeckt.
Nächster Schnitt.
Tränen.
Blut.
Ich lebe.
Schmerz ist gut.
Schmerz lügt nicht.

Rotes Licht.

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