auf dem Weg zum Zyniker und zurück *-*
von juls

 

DAS Leben - unser Leben - mach es lebenswert -- .. --

..Dass das Leben keine einfache Sache war, hatte sie schon längst begriffen. Dass es aber immer komplizierter und undurchsichtiger wurde je mehr sie darüber nachdachte und damit herumexperimentierte, damit hatte sie dann doch nicht gerechnet. Es erschien ihr als vollkommen logisch, dass die unbedarften Menschen die Existenz Gottes nicht in Frage stellten und dass diese Menschen damit zufrieden waren, sonntags in die Kirche zu gehen, um sich aus der Bibel vorlesen zu lassen. Ebenso verständlich war es ihr, dass die etwas gebildeteren Menschen die Existenz eines allmächtigeren Schöpfers ablehnten und stattdessen das Wesen der Welt als naturwissenschaftlich begründbaren Zufall erachteten. Und sie hatte auch begriffen, dass die Menschen von außerordentlichem Bildungsgrad schon wieder aufhörten, die Existenz Gottes aufgrund der zahlreichen, wohlgeordneten Zufälle vollkommen in Zweifel zu ziehen. Zu dieser letzteren Sorte Mensch zählte sie sich selber auch. Sie begründete ihren Sinneswandel damit, dass es rein evolutionär betrachtet wenig Sinn ergab, wenn Menschen Kunst schufen und sich daran erfreuen konnten; wenn Menschen Gefühle entwickelten, die sie in Glück oder Unglück stürzen konnten; wenn Menschen sich aufgrund ihrer eigenen Gemütslage für einen Freitod entscheiden konnten. Sie wollte sich selber nicht als Produkt einer zufälligen und willkürlichen Entwicklungsgeschichte betrachten, sinnentleert und lieblos in eine zufällige Welt geworfen. Stattdessen suchte sie nach einem geistigen Überbau für ihr Leben, der die Existenz eines großen, übergeordneten Etwas nicht ausschloss und sie glauben ließ, dass auch ihr eigenes Dasein einen Sinn hatte und für irgendetwas gut war.
Arg weit war sie mit ihrer Suche auch nach etlichen Jahren noch nicht gelangt. Zunächst stürzte sie sich in Bücher und eignete sich allerhand Wissen an. Dabei konzentrierte sie sich auf nichts Spezielles, im Gegenteil: ihre Interessen gingen einmal quer durch alle Themenbereiche. Sie liebte die deutsche Sprache und genoss es auch, sich andere Sprachen anzueignen. Sie konnte sich stundenlang in die griechische Antike vertiefen und hatte dabei das damalige Leben klar vor ihrem inneren Auge. Sie spänte einmal durch die europäische Geschichte und wieder zurück, war fasziniert von allem, was es zu wissen gab und von dem, was sie selber wusste. Sie liebte die Biologie und schätzte es sehr, wenn sich aus dem gelesenen für sie wie von selbst Fragen ergaben, die sogar eine studierte Biologin zum Nachschlagen zwangen. Täglich widmete sie sich ihrer Tageszeitung und las sich mit Inbrunst durch alles, was diese zu bieten hatte. Am meisten liebte sie die Diskussionsforen und je mehr sie zu wissen glaubte, desto besser verstand sie die Dinge als solche, sah ein, dass alles irgendwie mit allem verwoben war. Allerdings hatte sie auch immer den Eindruck, dass ihr theoretisches Wissen sie im Leben nicht glücklich machen würde und dass sie es im Leben auch nicht schaffen würde, die Dinge, die alle miteinander verwoben waren, auf ihren innersten Kern zurückzuführen und die Welt zu verstehen. Denn bisher hatte sie einen wesentlichen Bereich, der sich aus keinem Buch erschließen ließ, ausgelassen: die Menschen.

Sie fühlte sich für eine Auseinandersetzung mit den Menschen hinreichend gerüstet und begab sich in Erwartung gepflegter Dialoge in alle sich bietenden Menschenansammlungen.
Zunächst fiel ihr auf, dass die wenigsten Gesprächspartner über ein hinreichendes Wissen verfügten, um sich mit ihr über Sachthemen zu unterhalten. Außerdem schien den Leuten das Sprachvermögen und die Fähigkeit zur sachlichen Argumentation zu fehlen. Deshalb wurden viele Dialoge schnell zu Monologen, die vom Gegenüber zwar eifrig lauschend vernommen und vermutlich auch als spannend empfunden wurden, die aber nicht unbedingt dazu beitrugen, sie selbst dem Wesen der Menschen oder der Welt gar näher zu bringen. So eignete sie sich den Ruf einer gescheiten Person an, die zwar viel wusste und auch ganz unterhaltsam war, mit der aber im Großen und Ganzen keiner so richtig was anzufangen wusste. Hin und wieder wurde sie von den Leuten gebeten, ein Fremdwort zu erklären, oder zu erläutern, warum der Mond manchmal voll, manchmal leer und manchmal irgendwo dazwischen war. Diese Begegnung mit den Menschen war eine große Enttäuschung, denn sie hatte eigentlich gehofft ihre eigenen Fragen loszuwerden.
Trotzdem war ihr Forscherdrang unzerstörbar. Sie dachte sich, dass die Menschen auf jeden Fall den bedeutenden Teil des großen und undefinierbaren Etwas ausmachten und dass die Lösung ihrer Fragen in ihnen zu finden dein musste. Also fing sie an, die Leute bei den nächsten sich bietenden Gelegenheiten zu beobachten, um so eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen herzustellen. Denn eins war klar: wenn alles sich auf einen ursprünglichen Kern im Wesen der Welt und der Menschen zurückführen ließe, dann würde sich dieser Kern in den Gemeinsamkeiten unter den Menschen äußern. Also beobachtete sie die Menschen und hörte ihnen zu, lauschte als Außenstehende den Unterhaltungen, die sich zwischen ihnen ergaben und war erstaunt und bestürzt zugleich.
Egal, welcherlei Veranstaltungen sie besuchte, ob Kino, Diskothek, Kneipe, Sportveranstaltungen oder was auch immer, alles reduzierte sich tatsächlich auf eine Handvoll Gemeinsamkeiten. Eine davon war die möglichst effiziente Vernichtung von in Einsamkeit verbrachter Freizeit. Immer wieder bekam sie am Rande mit, dass es den meisten Leute große Mühe bereitet, die zu ihrer freien Verfügung stehenden Zeit alleine mit Sinn zu füllen. Die wenigsten waren in der Lage im Garten ihren Gedanken nachzuhängen, alleine im Wald herumzuspazieren, Musik zu hören oder ein Buch zu lesen, ohne dabei das Gefühl zu haben, nicht irgendetwas Besseres mit ihrer Zeit anfangen zu können.
Eine weitere Gemeinsamkeit schien darin zu bestehen, sich um jeden Preis ein Leben in Zweisamkeit einzurichten. Jeder sehnte sich danach und kaum jemand war sich zu schade, in die allgemein üblichen Balzrituale einzustimmen. Viele Menschen waren unglücklich in ihrer Beziehung, wieder andere waren unglücklich ohne Beziehung. Und manche Menschen gingen voll und ganz in den Problemen auf, die sie nicht gehabt hätten, wenn sie sich nicht in eine Beziehung gestürzt hätten. Und so lief die zweite Gemeinsamkeit auf die erste hinaus, denn offensichtlich diente ein Großteil aller Beziehungen lediglich dem Zweck, nicht alleine sein zu müssen und sich –um Himmels Willen- nicht mit den eigenen Problemen auseinandersetzen zu müssen, sondern sich stattdessen den Problemen der Zweisamkeit widmen zu können.
Eine dritte Gemeinsamkeit schien darin zu bestehen, dass die meisten Menschen sich selber gerne über ihre Probleme reden hörten. Fast kam es so vor, als ob die Menschen sich ziemlich intellektuell vorkamen, wenn sie zuweilen stundenlang ihre Probleme mit anderen teilten. Dabei ging es offensichtlich auch nicht darum, einen brauchbaren Ratschlag zur Lösung des vorgetragenen Problems zu erhalten. Vielmehr ging es darum, dem Gegenüber zu signalisieren, dass man es hier mit einem enorm sensiblen, leidensfähigen und doch zugleich enorm analytischen Geist zu tun hatte. Diese Annahme wurde im Laufe der Beobachtungen dadurch bestätigt, dass kaum eine dieser leidenden Personen die Ratschläge der Mitmenschen umgesetzt hätte. Den Menschen ging es also darum ihr Problem zum Problem aller anderen zu machen, deren Rat zu missachten und so die eigene Entscheidungssouveränität unter Beweis zu stellen. Eine Souveränität, sie sich nur schwerlich beweisen ließ, denn die meisten Menschen schreckten doch vor konsequenten Entscheidungen zurück. Und wenn man so wollte, mündete diese Gemeinsamkeit schon wieder in die vorherige. Die Menschen wollten etwas darstellen, was sie eigentlich nicht waren, um für die Umwelt attraktiver zu erscheinen als sie in Wirklichkeit waren, um so ihre potenzielle Attraktivität zu steigern und eventuelle Geschlechtspartner zu fangen. Möglicherweise sollte dieses Verhalten auch Gemeinsamkeiten im Erfahrungsschatz beider Gesprächsteilnehmer zutage fördern, um so eine gemeinsame Basis für weitere Annäherungen herzustellen. Aber auch dieses Motiv führte zum selben Ziel: der Zweisamkeit. Uns so führte also drittens zu zweitens zu erstens und alles zu einem. Die Menschen hatten zuviel Zeit.

Sie war weder mit ihren Beobachtungen, noch mit ihren Überlegungen zufrieden. Schließlich konnte es ja nicht sein, dass ausgerechnet die bis dato höchste zivilisatorische Leistung – die Schaffung von Freizeit- der Menschheit zum Verhängnis wurde. Bei den alten Griechen war es ja schließlich auch eher so, dass nur eine kleine Elite von reichen Aristokraten in der Lage war, genügend Zeit aufzubringen, um sich philosophischen Fragen und natur- wissenschaftlichen Phänomenen zu widmen. Warum also sollte heute, da Freizeit kein exklusives Privileg einer wohlhabenden Kaste mehr ist, die Menschheit dazu übergehen, die vorhandenen zeitlichen Ressourcen möglichst effizient nicht zu nutzen?
Dafür gab es für sie wiederum eine Handvoll Erklärungsmöglichkeiten. Es war ihr aufgefallen, dass die Menschen es zwar schön finden, etwas zu wissen, dass es ihnen aber häufig zu anstrengend war, sich Wissen freiwillig anzueignen. Die Menschen waren also irgendwie faul. Das wiederum konnte aber nicht die Erklärung für das allgemeine Dilemma sein, denn wenn man sich mal vor Augen führte wie viel Zeit, Geld und Energie die Leute so im Allgemeinen dafür aufbrachten ihre Freizeit zu gestalten, dann konnte von Faulheit wirklich nicht die Rede sein.
Als nächster möglicher Grund für diese tristen und stereotypen Verhaltensweisen kam die pure Dummheit in Frage. Allerdings ergab sich eine schlüssige Argumentationskette schon deswegen nicht, weil auch hochgradig klevere Leute mit sehenswerten Hochschulabschlüssen sich zuweilen nicht anders verhielten, als gewöhnliche Menschen mit abgeschlossenen Berufsausbildungen. Das konnte es also auch auf keinen Fall sein.
Ein weiterer Versuch das Rätsel der Menschheit für sich selbst verstehbar zu machen bestand darin, den Menschen Unbedachtheit zu unterstellen. Da sie sich selbst als bedachten Menschen verstand und in ihrer tiefen Unzufriedenheit den Hauptantrieb für all ihre Überlegungen sah, lag es natürlich nahe, den Unterschied zwischen ihr selbst und den Menschen mit der einzigen für sie deutlich erkennbaren Eigenschaft zu begründen. Die anderen sind also unbedacht. Leider war es nun einmal so, dass sie anfing, zu glauben, dass die anderen Menschen insgesamt nicht unbedingt immer glücklicher waren als sie selbst, aber sie schienen grundsätzlich glücklicher werden zu können, als sie selbst. Da sie für sich selbst entschieden hatte, dass das Dasein eines jeden Menschen einen tieferen Sinn hatte, dass über allem ein göttlicher Funke strahlte und dass der Kern aller Fragen, das Wesen der Menschen und der Welt in den Gemeinsamkeiten eben dieser begründet sein muss, konnte sie nicht mehr länger daran glauben, dass sie mit ihren, so vollkommen von aller Norm abweichenden Gesinnung, auf dem richtigen Weg war.
Und da stand sie nun: ratlos, fassungslos, trostlos; gescheit, gescheiter, gescheitert.

Sie kam vom Kleinen ins noch Kleinere, vom Feinen ins Haarfeine und hatte noch immer nicht verstanden, warum das Leben wie ein großes Bilderbuch vor ihr stand und wie ein Zeichentrickfilm an ihr vorüber zog. Immerhin hatte sie es im Laufe ihrer Expeditionen durch die Menschheit geschafft, einige wenige Menschen zu finden, denen sie ihre Gedanken und Überlegungen mitteilen konnte, ohne dass diese sie gleich angestarrt hätten wie die Sphinx von Gizeh. Im Gegenteil: diese Menschen horchten interessiert zu und schienen sich wenigstens in Teilen all dieser Überlegungen wieder zu erkennen. Imposanterweise ergaben sich aus diesen Bekanntschaften nie zwanghafte Verbindungen von frustrierten Menschen, die sich permanent auf die Pelle rücken mussten. Stattdessen liefen ihr diese Menschen von Zeit zu Zeit zufällig über den Weg, selten war ein Zusammentreffen geplant und obwohl alle Beteiligten diese gelegentlichen Treffs genossen, kam niemand auf die Idee, diese Begegnungen zu regelmäßigen Veranstaltungen auszuweiten. Deshalb war es umso schöner sich im vollkommen ungezwungenen Rahmen über den Weg zu laufen und sofort einen Draht zueinander herzustellen, ohne sich dabei krampfhaft um ein Gesprächsthema bemühen zu müssen. Sie fragte sich des Öfteren, ob es zu einem besonders guten Gespräch kommen würde, wenn sie alle vier zusammen führte. Sie verwarf diesen Gedanken aber baldigst wieder, weil sie es insgeheim schöner fand, vier kleine Schätze an verschiedenen Orten zu haben, als alles zu einem großen Schatz zusammen zu werfen und immer befürchten zu müssen, dass sie alles auf einmal verlieren könnte. Diese vier Leute gaben ihr ein gutes Gefühl, auch wenn sie selber feststellen musste, dass die vier untereinander keinerlei Gemeinsamkeit besaßen, außer der, dass sie keine Vorstellung davon hatten, wie sie wirklich glücklich werden konnten.

Nachdem sie gnadenlos daran gescheitert war, das Wesen der Menschen auf einem logisch-analytischen Weg ergründen zu wollen, kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht etwas vergessen oder übersehen haben könnte. Es musste einfach etwas geben, das alles erklärte; eine Unbekannte, die alle Unwägbarkeiten mit einschloss und alle an Logik gescheiterten Erklärungsversuche zu einem Ergebnis führte. Letztenendes war es doch immerhin auch so, dass vor ihr selbst schon viele kluge Leute gelebt hatten und dass auch diese Leute bereits auf der Suche nach einem schlüssigen Weg zum Wesen der Menschen gewesen sein mussten. Vermutlich kamen auch diese schon auf die Idee, sich mittels der Gemeinsamkeiten aller Menschen der Sache zu nähern. Und trotzdem hatte keiner von all den Schlauköpfen etwas gefunden. Schließlich gab es auch heute noch unzählige Weltanschauungen, Religionen, Ideologien und Lebensweisen. Und nirgends gab es die glücklichen Menschen dazu. Vielleicht sind die Menschen gar nicht dazu bestimmt, glücklich zu werden. Vielleicht ist Glück eine derart individuelle Angelegenheit, dass es gar nicht möglich ist, Glück in der Gemeinsamkeit der Menschen zu entdecken. Also musste die individuelle Komponente her. Das Gefühl. Der Mensch ist glücklich, wenn er sich gut fühlt. Was ihn aber sich gut fühlen lässt, das hängt vom jeweiligen Menschen selber ab.

Sie überlegte also, wie sie sich den Gefühlen der Menschen nähern konnte. Gefühl. Das war noch nie ihre Welt gewesen. Gefühl war für sie eine von Trieb gesteuerte Regung, die jeglicher Logik entbehrte und dabei offensichtlich nicht einmal mehr der Fortpflanzung dienen musste. Schließlich war sie oft genug mit Schwulen und Lesben unterwegs gewesen, um einsehen zu können, dass Gefühle für einen anderen Menschen sich unabhängig vom Wunsch nach Vermehrung entwickeln können. Also musste das Gefühl unabhängig von jeder Form von Logik und frei von evolutionären Einflüssen das Handeln der Menschen steuern. Vollkommen unerklärbar und dennoch von beneidenswerter Stärke und Vehemenz.
Nun war es ja nicht so, dass Gefühle ihr vollkommen fremd gewesen wären. Sie kannte beispielsweise Freude und Genugtuung. Auch mit Ängsten hatte sie zu tun gehabt, hatte sich aber nach und nach davon kuriert. Ihrer Meinung nach begannen Ängste ohnehin erst dort zu wirken, wo das eigene Wissen aufhörte, daher war es ihr nie schwer gefallen sich von diversen Ängsten zu heilen. Sie kannte Trauer, Wut, Zorn und Aggression. Sie kannte vollkommene Unbeschwertheit genauso wie das beklommene Gefühl der absoluten Handlungsunfähigkeit. Es fiel ihr auch nicht schwer, Mitgefühl für andere Menschen aufzubringen. Meistens ging ihre Empathie soweit, dass sie angegriffene oder verletzte Personen unter ihren persönlichen Schutz stellte und deren Standpunkte bis aufs letzte Hemd gegen alle anderen verteidigte. Zuweilen verspürte sie auch so etwas wie Faszination für andere Menschen. Und das Gefühl der Faszination war für sie das Unerklärlichste von allen. Manchmal begegneten ihr Menschen, die ihr vom ersten Augenblick an ein Dorn im Auge waren und das hatte sie noch nie verstanden. Meistens fing sie an, diese Menschen insgeheim zu beobachten, sich mit anderen über diesen Menschen zu unterhalten und so irgendwie diese Faszination zu ergründen. […]

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