In einem Zug
von Daniel Martin

 

Ich ziehe ein letztes Mal an meiner Zigarette, nur um sie dann gekonnt am Aschenbecher vorbei zu schlenzen. Mein Zug kommt in zwei Minuten. Nach einer Lautsprecherdurchsage des Bahnpersonals sehe ich mich gezwungen, diese blasphemische Erwartung nach oben zu korrigieren. Weit nach oben. „Det war ja mal weeder klar, wat für Klätschköppe“ nuschelt die neben mir sitzende kölsche native Speakerin, wohl eins der letzten Exemplare einer aussterbenden Rasse. Bin ich auch froh darüber, kann dem Dialekt nichts abgewinnen. Selbst Silvester Stallone klingt neben diesem hochgewürgten Verbalkompost wie eine Erstklässlerin beim Buchstabierwettbewerb.
Bereue nach der Durchsage, meine Kippe schon weggeworfen zu haben. Will mir eine neue anstecken, merke jedoch, dass die Packung leer ist. Verdammt sei mein vorschnelles Handeln.
Hole mir am Bahnhofskiosk dann einen Hauptsache-was-zu-tun-haben-Kaffee. Zeit hab ich ja jetzt erst mal genug. Schaffe es, dem Zugreisen etwas Praktisches abzugewinnen:
An jedem Bahnhof wird einem die Zeit geschenkt, die man vor Fahrtantritt überhaupt noch nicht zu verschwenden gezwungen war.
Beglückwünsche mich zu diesem genialen Gedanken und will ihn aufschreiben. Habe außer Pappbecher und Ticket jedoch nichts dabei, wo ich ihn draufkritzeln könnte.
Nach einer (zu) kurzen Rücksprache mit Herrn Hirn lege ich das Bahnticket auf meine Knie und versuche, mit dem Kugelschreiber auf dessen Rückseite loszuschreiben. Die Spitze des Stifts rammt unbeeindruckt hindurch. Das fängt ja gut an.
Der Pappbecher sieht deutlich stabiler aus. Mit zwei Fingern packe ich ihn von oben und halte ihn auf Augenhöhe. „Pinzettengriff“ heißt das laut der wissenswerten Galileo-Top7 der Prothesentechnik vom Vorabend. Schreibe drauf los, komme allerdings nicht sehr weit. Der Deckel des Bechers gibt nach. Gefäß und Inhalt folgen dem Ruf der Schwerkraft und landen auf meinem Schoß. Die noch darauf liegende Fahrkarte erweist sich als Hitzeschild leider gänzlich ungeeignet.
Völlig überrumpelt vom Geschehenen, dauert es ein paar Sekunden, bis mein Gehirn den Schmerz verarbeitet hat, der im Allgemeinen der Kombination von „Schritt“ und „brühend heißes Aufgussgetränk“ folgt. Versuche mehr oder weniger erfolgreich, einen Schrei zu unterdrücken, quieke stattdessen wie ein lebensfrohes Ferkel.
Die Dame zu meiner Linken springt so erschrocken auf, wie dies ihr künstliches Hüftgelenk zulässt: „Passense gefäälichst auf, junger Maaann!“. Ruhig und allzeit hilfsbereit, so habe ich die Kölner kennen und lieben gelernt.
Werde mir der grotesken Situation wie von außen bewusst, und muss eben so leise wie hysterisch loskichern. Die sensible Seniorin schaut mich mit dem „Wohl-bekloppt, wa?“-Blick an, den ich sonst nur von meiner Katze kenne, und verschwindet im Bahnhofskiosk. Ganz umsonst war mein Martyrium also immerhin nicht.
Versuche, den entstandenen Schaden an Leib und Seele so gut es geht mit einem bereits benutzten Taschentuch zu begrenzen, wie zu erwarten eher erfolglos.

Schnitt. Einige Zeit später.

Der Zug kommt mit einem schadenfrohen Quietschen vor mir zum Stehen. Ich werde aus meinem Sekundenschlaf gerissen. Merke nach einem Blick auf die Uhr, dass es eher ein Halbstundenschlaf war und springe schlaftrunken und kaffeedurchweicht auf und in den Zug.
Bin froh, noch einen Sitzplatz zu erwischen. Bin nicht froh, dass es sich dabei um den letzten Sitz in einer Vierergruppe voller Justins und Jaquelines handelt. Mache mich auf eine „Mitten im Leben“ Life-Episode gefasst. So kommt es dann auch. Schalte nach wenigen Sekunden ab. Mein Hirn ist nicht fähig, eine ebenso verstrickt wie inzestuöse Geschichte zu verarbeiten. Verwunderlich, dass keine der Gören ihren Nachwuchs dabeihat. Was bei mir die Frage aufwirft, wie diese Generation das Niveau ihrer eigenen Namensgebung bei ihren Kindern noch unterbieten möchte – viel schlimmer geht es ja eigentlich nicht. (Vorschläge, die ich realisiert sehen will: Justin-Jerome Jr., Wolle Dwight, Hajo Wayne Willis.) Irgendwo im Haltestellen-Sieb des Ruhrpotts bleibt die Gruppe schließlich hängen. Froh, sie los zu sein, lehne ich mich entspannt zurück; hoffe auf eine ereignislose Restfahrt.

Schnitt. Einige Zeit später.

Werde erneut aus dem Schlaf gerissen. Spüre eine Hand auf meiner Schulter. Fahrkartenkontrolle. Öffne die Augen, schließe den Mund. Versuche unauffällig, den Sabberfaden aus meinem Mundwinkel zu wischen.
„Ach, Sie haben geschlafen?“
Ich würde mich für diese idiotische Frage gerne rächen und eine Auswahl an schlagfertigen Antwortmöglichkeiten durchgehen. Merke, dass in meinem postnarkotischen Dämmerzustand noch keine solche existiert und suche stumm in meiner Hosentasche nach dem Fahrschein. Ziehe den einzigen papierähnlichen Fund hervor und reiche ihn (hoffentlich einigermaßen höflich) nuschelnd dem scharfsinnigen Kontrolleur, vergesse allerdings, dass der Fetzen bei dem kleinen Kaffeeintermezzo am Bahnsteig jegliche Fahrkarten-Ähnlichkeit verloren hat.
„Aus welcher Pfütze haben Sie das denn gefischt? Darin können Sie vielleicht noch einen Kaugummi einwickeln, gültig mitfahren geht damit jedenfalls nicht.“ Ein triumphierender Unterton in der Stimme des Tickettypen verrät mir, dass dieser auf eine interessante Wendung seines bis gerade öde verlaufenden Arbeitstages hofft. Ich gerate in Zugzwang, und versuche stammelnd, ihm meine Situation zu erläutern. Anscheinend schaffe ich es aber nicht, die Sinnfetzen in eine für ihn akzeptable Reihenfolge zu bringen.
„Naja, wie auch immer. Geben Sie mal ihren Auswei. Aber nur, wenn der nicht genau so aussieht!“
22 Minuten und 40€ Fahrpreisnacherhebung später (sowie einen garantierten Eintrag auf der bahninternen Liste von „Personen, bei denen Kontrollen besondere Unterhaltung bereiten“), steige ich aus, dieses dunkle Kapitel meiner Lebensgeschichte hinter mir lassend.
Perspektivlos, entwürdigt, am Boden zerstört. Die Bahn macht debil.

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