Idylle oder so
von Sabine Herzke (melody)

 

Idylle oder so

Es fängt an, als die Nacht vorbei ist.
Das Zwielicht, in dem die letzten Geräusche und Gerüche der Nacht verschwinden und sich Spaß und Lärm auflösen. In den Nächten, die in diesen Wochen tropisch sind, die nie unter 20 Grad fallen, in denen man die Fenster offen lässt, um nicht zu ersticken und doch keine Kühlung hereinkommt.
Die Hitze des letzten Tages hängt noch zwischen den Häusern, die Sonne geht auf und taucht die Brücken in neues Schattenspiel, neue Hitze ist schon spürbar. Auf einer der Brücken küsst ein Mann sein Mädchen, sie schlingt ihm die Arme um den Hals, er muss an diesem Morgen mit einem der Schiffe fort, die im Hafen liegen, sie treffen sich an den Landungsbrücken, die sie hassen und lieben, Abschied und Wiederkehr.
Die Möwen durchstoßen das erste Sonnenlicht mit ihren Schreien wie aus Glas, fegen über die Häuser, durch die Schluchten, über die Brücken, Radfahrer weichen aus, Menschen auf dem Weg zur Arbeit ducken sich, ehe sie den schützenden Eingang zur U-Bahn erreichen. Die Luft erstarrt, je heißer es wird. Der Mann ist verschwunden, das Mädchen steht still und starr auf den Landungsbrücken. Die Hitzeglocke legt sich über die Stadt, in der Speicherstadt wird sie glasklar und durchsichtig, hier ist nichts vom Smog der anderen Stadtteile zu spüren, nicht um zehn Uhr morgens, als die Bewohner der Häuser verlassen haben, der Hafen eine Pause macht, durchatmet nach Einlaufen der Fischtrawler. Bald kommen die ersten Schiffe aus Übersee, heute riesige Containerschiffe, vollgestopft mit Elektronik, keine Segel mehr, die hier ihre Ladung löschen werden. Dann werden die Touristen wieder anrücken, oh look, this is Hamburg Hafen, your Great Grand Dad started his only turn, one way, as a sailor, and arrived in New York and now you are standing at this historical place.
Aus St. Pauli hört man entfernte Polizeisirenen, die Glocken des Michels übertönen für einen Moment die Geräusche der Stadt, das Mädchen dreht sich langsam um, bleibt auf der Kehrwiederbrücke stehen, starrt ins Wasser, sie wirft kleine Steinchen ins Wasser, die die spiegelglatte Oberfläche durchbrechen, die erste Fähre gleitet unter ihr durch.
Die Luft ist in der Hitze wie erstarrt, alles verläuft langsam, wie in Zeitlupe, die Stille wird gestört durch einen Mann, der hinter ihr vorbeirennt sie wendet den Kopf, ist aufgeschreckt aus ihrer Lethargie, und dann fällt ein Schuss.
Das Echo hallt über den Hafen.

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