App Zuwanderung, „sind meine Schuhe offen?“
von Daniela Schmidt (danielaschmidt)

 

An einer Bushaltestelle oder in der Stadt ist kaum ein Blick zum Horizont gerichtet. Stattdessen halten die Menschen ihren Kopf in „sind meine Schuhe offen?!“ Position. Auf Fragen nach der Uhrzeit oder dem Weg wird sekundenschnell nach einer App gesucht, aber erst nach dem man über das Headset seinem Gesprächspartner mitgeteilt hat, dass man gleich wieder da ist. Nur wenige Meter entfernt, könnte ein Clown tanzen, Mann und Frau sich in aller Öffentlichkeit paaren, es würde niemand bemerken, da der Blick auf „sind meine Schuhe offen?!“ gerichtet ist. Das Technologiezeitalter lässt seine Marionetten wie Zombies durch die Straßen laufen, an anderen Menschen vorbei, ohne Notiz von der Gesellschaft, der Natur und dem Geschehen zu nehmen. Alles über eine App abrufbar. Man chattet im gleichen Zimmer miteinander und telefoniert während einer realen Begegnung. Es müssen ja wichtige Termine vereinbart und Neuigkeiten ausgetauscht werden. Multitask und schnelle Energieverbrennung durch „nur mal schnell den Facebook Status“ aktualisieren und bei twitter die Neuesten, unwichtigen Tweets loswerden, wo man sich gerade befindet oder was man gerade macht. Es ist eine Zeit des Aufmerksamkeitsdefizits angebrochen. Die Menschen holen sich schnell und billig Ersatz über eine virtuelle Welt, hinter der sie sich mit Scheinidentitäten verstecken können. Beziehungen zu realen Kontakten werden immer schwieriger. Es könnten Konflikte auftreten, denen man sich in der Realität stellen müsste. In der virtuellen Welt kann man sich davor drücken und flüchten. Mobbing und Stalking sind nicht selten. Für die einen ist es ein netter Zeitvertreib, für die kreative Branche ein harter Wettbewerb. So wird man bei twitter, mit der Follower Anzahl ständig daran erinnert, welchen gesellschaftlichen Status man hat. Bei Verlust droht der Abstieg und man wird von der twitter Gemeinde ausgeschlossen. Nur die großen Namen mit vielen Followern geben den Ton an, alles andere folgt, gehorcht, kriecht und verkauft sich über diese Plattform. Je primitiver und sexueller ein Tweet ist, desto mehr wird er besternt. Solidarität wird groß geschrieben, Flaggen und Fahnen für Selbstmordopfer oder Todkranke geschwenkt, aus Anteilnahme einer ihnen völlig unbekannten Person. Gruppendynamik und Gruppenzwänge stehen an der Tagesordnung. So bilden sich beispielsweise bei Facebook Gruppen für alles Mögliche. Wer nicht dafür ist, ist dagegen und zwangsläufig ein Feind. Der „Freund“ wird auf polemische Art und Weise ausgeschlossen, geblockt oder „Entfreundet.“ Die Menschen haben verlernt, Konflikte, Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten im realen Leben aufzulösen. Stattdessen ziehen sie sich in ihre infantile Phase zurück und verhalten sich wie bockige kleine Kinder. Eine Meinung darf man um Gotteswillen nicht haben, wenn sie der öffentlichen Meinung entgegengesetzt ist. Nicht zu vergessen, „heute sind wir alle gegen Atomkraft“, morgen haben wir alles wieder vergessen. Neuer Tag, neue Gruppendynamik. Begegnet man zufällig einem virtuellen oder unerwünschten Kontakt auf der Straße, wird wieder in die Position „sind meine Schuhe offen?!“ gedrängt. Ein Blick aufs Handy, die Suche nach einer passenden App oder schnell eine SMS schreiben.

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