Schneekind Teil II
von Sabine Herzke (melody)

 

Heiligabend 2008
Hatte es eben gekracht? Und wo?
Ich schoss aus tiefstem Schlaf hoch und hielt mit beiden Händen meinen Kopf fest. Um mich herum drehte sich alles. Als hätte ich gestern kein Glas, sondern eine Fla-sche zu viel geleert, und dabei hatte ich überhaupt keinen Alkohol getrunken. Ich schaute auf die Uhr. Sieben. Verflixt früh für einen freien Tag. Aber ich war hellwach, also konnte ich auch aufstehen.

Im Wohnzimmer fand ich die Erklärung für den Lärm. Marion stellte den Weih-nachtsbaum auf. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht und lächelte. „Guten Morgen, Alicia. Frohe Weihnachten.“
„Frohe Weihnachten, Marion. Du stellst den Weihnachtsbaum jetzt auf? Du hättest doch was sagen können, ich helfe dir doch“, sagte ich lächelnd.
„Du kannst das Frühstück machen.“
Ein schwaches Gefühl der Wut kam hoch, aber ich schüttelte es ab. Ich wusste jetzt, dass das Haus dafür sorgte, dass solche Emotionen viel schneller hochkamen.
Keiner von uns hatte an diesem Morgen aus dem Fenster gesehen. Während des Frühstücks schaltete Marion das Radio ein.
„... für die ganze Nordseeküste. Das Morgenhochwasser wird zwischen acht und zwölf Meter höher als das mittlere Hochwasser eintreten. Sturmböen mit Stärke elf bis zwölf im Bereich Hamburg werden aus Nord/Nordwest gegen Mittag erwartet. Überflutungsgefahr für...“
Ausgerechnet da rauschte der Sender für ein paar Sekunden, dann wurde der Emp-fang wieder klar. „Voraussichtliches Wetter für heute und die Feiertage: tagsüber minus sieben Grad, nachts minus zehn. Es bleibt bedeckt, die Schneewahrscheinlich-keit steigt auf 90 bis 100 %.“
Marion und ich schauten uns an und vergaßen zu essen. „Na dann frohe Weihnach-ten“, murmelte ich.
Das konnte ja heiter werden. Sturmflut? Im Harz gab es eher Warnungen vor Lawi-nenabgängen.
„Sind wir in Gefahr?“ Meine Stimme zitterte ein bisschen.
„Noch längst nicht“, beruhigte mich Marion. „Schlimmstenfalls wird unsere Wurt vom Wasser eingeschlossen. Bis ans Haus ist das Wasser noch nie gekommen.“
„Das klingt ja beruhigend.“
„Wir sind ja mit dem Weihnachtsputz noch gar nicht fertig. Du hilfst mir, und dann machen wir Essen, und heute Nachmittag sehen wir mal, was ich im Schrank habe.“ Sie zwinkerte mir zu.
„Schön, machen wir das.“ Ich räumte den Tisch ab.

Der Tag verging wie im Flug mit Putzen und damit, alles weihnachtsfertig zu ma-chen. Um zehn Uhr schippte ich den Weg draußen frei, vom Haus bis zum Kirsch-baum. Durch das dichte Schneegestöber sah ich Wilhelm unter dem Baum, aber das war eine Sinnestäuschung. Es hatte mich große Überwindung gekostet, überhaupt vor die Tür zu gehen, aber Schneeberührung... brrr.
Um fünf Uhr waren wir fertig. Marion setzte Tee auf und holte Kekse. „Die Pause haben wir uns wirklich verdient.“
Sie stellte das Tablett auf den Stubentisch, ging zu ihrem alten Schrank mit den geschliffenen Scheiben und holte die alte Keksdose heraus. Und einen großen Kasten, der hinter der Holztür stand.
„Was ist denn da drin?“ fragte ich und nahm ihr den Kasten ab.
„Da ist eine Geschichte drin. Ich weiß nicht, ob sie dir gefallen wird, es ist die Fort-setzung zu der kleinen Geschichte vom letzten Mal.“
„Wird es noch unheimlicher? Mir reicht die Dosis vom letzten Mal.“
„Sieh dir doch mal die Kiste an.“
Ich stand auf und nahm sie vorsichtig. Sie war ganz schön schwer.
In meinem Sessel nahm ich sie auf den Schoss und öffnete sie. Unten lagen alte Ausgaben von Goethe und Schiller, aber oben drauf waren alte Briefe, Landkarten, Fotos... weil ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte, griff ich nach dem einzigen Fotoalbum, das prall gefüllt war. Der Rest der Bilder lag in der Box.
Während das Album noch relativ neu aussah, waren die Fotos das genaue Gegenteil. Es waren alles Standbilder, einzelne Personen und Gruppenbilder gemischt, da-zwischen Landschafts- und Gebäudeaufnahmen.
Obwohl sich seither nicht viel verändert hatte, erkannte ich das meiste sofort. Unser Haus, Langenwege und alles, was dazwischenlag. Natürlich gab es heute viel mehr Strommasten und die Straße war asphaltiert. Aber damals verliefen hier nur ein paar Feldwege und der Hauptweg war eine geklinkerte Straße, die von Langenwege quer über das Grundstück nach Neudorf führte. Statt Autos gab es Fuhrwerke.
Während ich mir die Sachen ansah, erzählte Marion mir den nächsten Teil von der Geschichte. Sie hatte im Kamin Feuer gemacht. Die Scheite knackten. Ab und zu gab es einen kleinen Funkenregen. Ich raschelte mit Papier, und sie klapperte ab und zu mit Geschirr. Ich schwebte davon, hörte alle diese Geräusche plötzlich überdeutlich. Die Fotos ergänzten die Geschichte perfekt. Irgendwie hatte ich immer genau das Bild in der Hand, das zur Szene passte.
„Wir schreiben das Jahr 1850. Es ist immer noch Nikolaustag...“

Während der Großvater diese Geschichte erzählte, verabschiedete sich van Tast. Er müsse noch in dieser Nacht weiter. Die anderen versuchten ihn im Haus zu halten.
„Du weißt, dass du hier ein freies Bett hast“, sagte Robert. „Herrgott, Gart! Du kennst die Verhältnisse hier draußen so gut wie ich! Und schau mal raus, es sind jetzt mindestens zehn Grad unter Null und dann dieser Sturm!“
Na gut. Gart ließ sich erweichen. „Dann morgen in aller Früh. Aber wirklich!“

Am nächsten Morgen war der Sturm fast abgeflaut.
„‘s riecht nach Schnee!“ erklärte Johann, der aus Langenwege gekommen war und Lebensmittel brachte. „Irgendein Wetter braut sich da zusammen.“
Er tippte an seine Mütze und wendete den Wagen. Reuther war der letzte Hof auf seiner Tour. „Woll’n Se mit?“ fragte er Gart.
Der schüttelte den Kopf. „Ich muss nach Neudorf.“
„Dann gehen Se man fix tau. Viel Glück!“
Die Reuthers sahen es gar nicht gern, dass Gart nun doch los musste.
„Pass auf dich auf“, bat Anna.
„Auf alle Fälle. Ich melde mich in vier Tagen, wenn ich auf dem Rückweg bin.“
Sie schauten ihm nach, bis er durch das Schneetreiben nicht mehr zu sehen war.
Merkwürdig, wie kalt es plötzlich ist, dachte er nach einem Kilometer. Er ahnte schließlich nicht, was auf dem Hof inzwischen geschehen war.

Der Sturm wurde wieder stärker und Markus, Catarinas älterer Bruder, ging noch einmal hinaus, um im Stall alles zu befestigen. Er kehrte nach einer Viertelstunde zurück und war kalkweiß im Gesicht.
„Schon wieder!“ rief er. „Das Kind... wie Gart es gestern gesehen hat...“
Robert sah seinen Sohn an. Seine Miene wurde ernst. „Unter dem Kirschbaum?“
Markus nickte.
„Langsam glaube ich auch, dass da was nicht stimmt.“

Sie konnten nichts tun, also gingen sie schlafen. Der Wind frischte erneut auf, schwere Wolken bedeckten den Himmel. Sie brachten neuen Schnee. Aber Schnee ist lautlos.

Gart stolperte durch den Schnee, hielt sich abwechselnd die linke und rechte Hand vor das Gesicht. Er klappte den Mantelkragen hoch. Schnell war das Wetter wieder umgeschlagen, hatte noch mehr Schnee gebracht und die letzten Wegemale zugedeckt. In der Ferne glaubte er schon die Lichter von Neudorf zu sehen.
Das schaffe ich noch, dachte er, ich bin nicht wie dieser Junge... wie hieß er doch gleich – Wilhelm... ich schaffe es.
Hatte da eben jemand gelacht? Gewiss nicht. Sein überreiztes Gehirn spielte ihm Streiche. Gart ging weiter.

Catarina hütete die nächsten Tage die Kinder der Höfe und spielte mit ihnen stundenlang im Schnee. Nach drei Tagen war das Wetter wieder soweit beruhigt, dass sie Verbindung zu beiden Dörfern aufnehmen konnte. Der Fluss war zugefroren. Die meisten Jugendlichen und Erwachsenen nutzten ihn als schnellen Weg. Man packte die Schlitten voll und schnallte Kufen unter die Schuhe.
„Ob Gart es wohl geschafft hat?“ fragte Anna ihren Mann sorgenvoll.
Der lachte. „Gart? Den kann so schnell nichts umhauen...“

Selten hatten sie sich so sehr geirrt. Zum Zeitpunkt des Gesprächs lag Gart schon in einer Schneewehe, wo er Stunden später gefunden wurde.

Eine ganze Familie war es, die am vierten Tag nach Garts Abschied vom Reuther-Hof auf dem Weg nach Langenwege war und den Hauptweg nahm, der inzwischen wieder befahrbar war.
„Brrr!“ Auf Befehl des Vaters zügelte der Kutscher die Pferde und hielt an.
„Vater, was ist?“ fragte Torben. „Wieso fahren wir nicht weiter?“
„Da vorne liegt etwas. Ich sehe mal nach.“ Vater sprang aus dem Wagen. Der sech-zehnjährige Sohn folgte ihm.
„Da liegt ein Mensch! Komm, hilf mir!“ Die beiden Männer zogen den Mann aus dem Schnee.
„Lebt er noch?“
Der Vater klopfte den Mann aus dem Schnee ab, suchte seinen Herzschlag. „Nein Torben. Der Mann ist tot. Wer weiß, wie lange er hier schon liegt. Er ist auch schon ganz gefroren. Am besten liefern wir ihn am Reuther-Hof ab, der liegt am nächsten. Vielleicht kommt er ja von da.“
Sie hoben ihn auf die Ablage unter dem Wagen. Er war steif gefroren. Das Gesicht weiß, das Haar voll Schnee und Reif. Dann schwangen sie sich wieder in den Wagen und der Vater gab neue Befehle.
„Halten Sie am Reuther-Hof an!“
Die Ehefrau sah die beiden an. „Was war das eben?“
„Wir haben einen Mann gefunden. Er ist wohl im Schnee verirrt und erfroren“, sagte er mit einem Blick auf seinen Sohn. „Er muss in dem Unwetter vor drei Tagen unterwegs gewesen sein.“
„Der Arme! Wie schrecklich, wer ihn wohl vermisst?“
„Das werden wir gleich wissen. Er war sicherlich auf dem Hof gwesen.“

Christian Reuther war über den fremden Wagen überrascht und empfing die Besu-cher.
„Guten Tag... wat hebbt ihr?“
„Wir bringen Ihnen einen Mann, den wir auf dem Weg im Schnee gefunden haben. Vielleicht kennen Sie ihn ja. Er war schon tot, als wir ihn fanden.“
Vater und Sohn hoben den Toten vom Wagen. Christian stützte sich auf seinen Stock und kam näher.
„Leev tied, das ist Gart!“
„Kennen Sie den Mann?“
„Jo, min Herr, er war ein Freund von min Sohn.“ Er drehte sich zum Haus und rief ihn. Robert kam schnell heraus.
„Was gibt es denn? Guten Abend die Herren.“
Christian drehte sich zu Gart. Robert ging rasch hinüber und wurde weiß.
„Gart! – Wo haben Sie ihn gefunden?“
„Kurz hinter dem Kreuzweg nach Hamburg, in Richtung Neudorf.“
„Ja, da wollte er hin“, murmelte Robert, „jetzt hat es alles nichts genützt, dass wir ihn gestern Abend noch aufgehalten haben.“
„Wo soll er jetzt hin?“ fragte der ältere Fremde. „Wir helfen Ihnen, Sie können ihn ja nicht hier auf dem Hof liegen lassen.“
„Am besten bringen wir ihn drüben in die Scheune.“
Robert half den beiden Männern tragen. Dann verabschiedete er sie und ging be-drückt in die Wohnstube zurück. Vorher informierte er das Gesinde, dass es sich wegen des Toten in der Scheune keine Gedanken machen sollte.
Seine Familie reagierte entsetzt und mit Trauer auf die Nachricht. Alle hatten Gart gemocht.

Am fünften Tag war der Weg nach Langenwege wieder soweit offen, dass sie einkaufen gehen konnte. Es war dringend notwendig. Doch nun musste Anna feststellen, dass man sie nicht mehr kannte. Sie wurde zwar noch bedient, aber mit sichtbarem Widerwillen.
„Es ist, als mieden sie uns“, berichtete sie ratlos ihrem Mann.
Robert war erbost. „Natürlich ist die Kunde von Garts Tod schon nach Langenwege gedrungen! Erinnerst du dich an die Familie, die ihn uns gebracht hat? Wir müssen das sofort überprüfen, was da erzählt wurde.“
Wie es so geht, war die Gerüchteküche schneller. Man begann zu reden.
„Es habe auf dem Gebiet doch vor hundert Jahren schon einen Toten... ein Kind, angeblich erfroren...
wenn das kein Mord war!
... böses Omen...

Heiligabend 2008
„Merkwürdige Geschichte!“ meinte ich. Nebenbei hatte ich mir die Bilder angesehen. Jetzt blieb ich an einem Foto hängen und starrte es an. Marion war still geworden. Nur die Uhr tickte und draußen heulte der angekündigte Sturm.
„Marion?“ Meine Stimme gehorchte mir überhaupt nicht mehr, die erste Silbe ihres Namens verschluckte ich.
„Was ist denn los?“
Mit zitternden Händen deutete ich auf ein Foto. „Ist das die Familie, von der du mir eben erzählt hast?“
Sie stand auf und beugte sich über das Foto. Eine Strähne ihres langen roten Haars fiel über meine Schulter. „Stimmt, das sind sie. Merkwürdig, ich wusste gar nicht, dass dieses Bild noch existiert.“
Das Foto allein war es nicht, was mir so einen Mordsschrecken eingejagt hatte. Es war die Frau links in dem Sessel. Das musste ein Irrtum sein. Aber Marion sprach es selbst aus. „Ich bin die Frau links im Sessel. Und du bist...“
„das Mädchen mit dem Dutt“, flüsterte ich. Dann merkte ich, wie ich in die Schwärze stürzte. Langsam wurden die Ohnmachten zur Gewohnheit. Das Haus hasste mich.

„Aber wie kann das denn sein?“ fragte ich. „Das ist völliger Blödsinn, absolut schwachsinnig!“
„Nein“, widersprach Marion. „Du hast es doch selbst gesehen! Ich hätte dir längst alles erzählen müssen.“
Na das wurde aber auch Zeit.
„Kommst du mit raus? Ich brauche frische Luft“, sagte sie.
Frische Luft? Ihr wurde die Luft wohl zu dünn, ihr Lügengebäude hielt nicht mehr.
Sie hakte sich bei mir ein, und wir gingen bis kurz hinter den Kirschbaum. Fast so-fort spürte ich, wie der Ärger von mir abfiel.
„Spürst du es auch?“ fragte ich. „Eben war ich noch total sauer auf dich und jetzt...“
„Ja“, sagte sie. „Das wollte ich dir zeigen. Ich brauche einen kühlen Kopf. Die Grenze lässt es nicht zu, dass man innerhalb des Hauses gelassen bleibt.“
Ich war immer verwirrter.
„Was ich bin, musst du noch nicht wissen. Es geht jetzt vor allem um dich. Ich habe keine Ahnung, wie weit die Verbindung zwischen Catarina und dir geht, aber du fängst schon an, dich in Wilhelm hineinzuträumen... ich mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn du anfängst, mit Reuthers Kontakt aufzunehmen.“
Das fragte ich mich auch. Ich bekam hier eine Menge völlig verrücktes Zeug aufge-tischt, aber es passte. Das war das schlimmste, das, was Marion mir erzählte, war die Antwort auf meine Fragen. Ich durfte den Reuthers nicht in die Quere kommen. Was auch immer sie damit meinte.

„Lass uns wieder reingehen“, sagte Marion nach einer Weile zähneklappernd. Es war saukalt geworden. „Der Weihnachtsbaum wartet auf uns.“
Marion hatte mich schon vor einigen Tagen gefragt, ob ich an Weihnachten in die Kirche gehen wollte. Zu Hause war ich jedes Jahr hingegangen. Hier schüttelte ich sofort den Kopf. Ich dachte an meine Wirkung auf die Leute. Marion sah bedrückt aus, als ich es ihr sagte. Dann stimmte sie mir zu, dass es besser war, zu Hause zu bleiben.
Wir gingen rasch ins Haus zurück, in die Wärme. Als ich am Kirschbaum vorbeikam, glaubte ich ein gehauchtes „Frohe Weihnachten“ zu hören. Ich schüttelte den Kopf und lief weiter. Diesen Abend wollte ich mir nicht verderben lassen.
Wir hatten beide viel eingekauft, und dazu gab es Päckchen von diversen Freunden und Bekannten, ich hatte ein Paket aus dem Harz erhalten mit Geschenken von meinen Eltern.
Von Marion lagen da drei oder vier Päckchen, eins ganz flach, es war eine CD. Ein Roman war dabei, Parfüm. Marions Päckchen öffnete ich zuletzt. Es war ein Foto-band aus der Gegend, Historisches, Döntjes und Spökenkiekerei. Ich blätterte es nur halb interessiert durch. In der Mitte stieß ich dann aber auf ein großes Foto. Anna lächelte mir entgegen. Ich holte tief Luft und schlug das Buch schnell wieder zu. Marion sah sofort auf.
„Was ist los?“
„Guck mal, ein Foto von Anna. Die verfolgt mich richtig.“
„Das wusste ich nicht... ich fand das Buch immer sehr gut, es ist sehr gut recherchiert.“
„Das glaube ich dir doch.“
Ich schaute auf mein Geschenk an sie, das noch ungeöffnet dastand. „Willst du dein Geschenk nicht auspacken?“
Marion nahm das schwere, große Paket und legte es auf den Boden und begann es zu öffnen. Sie schlug das Schutzpapier beiseite und holte einen großen Spiegel heraus.
„Nanu?“ Überrascht wendete sie ihn hin und her. „Wo hast du ihn gefunden? Er ist schön!“
Das war er in der Tat. Etwas zu aufwendig vielleicht für dieses Haus, aber er hatte mich angezogen. Es war verrückt, ich musste ihn einfach kaufen. Ein barock verschlungener, mit Blattgold ausgelegter Rahmen hielt die Scheibe, er war ungefähr ein Meter zwanzig mal siebzig Zentimeter groß. Ich hatte ihn vor ungefähr einer Woche in einem Trödelladen entdeckt, wo er völlig deplaziert wirkte. Marion mochte solche Dinge, also hatte ich ihn mitgenommen.
Wir saßen noch eine ganze Weile an diesem Abend zusammen, ich las, und Marion hatte mit einem Puzzle begonnen, das in 3 D eine verwinkelte Stadtansicht zeigte. Ich schaute ab und zu von meinem Buch auf und dachte über das Gelesene nach. Der Spiegel lehnte an der Wand gegenüber von meinem Sessel. Wenn ich aufschaute, blickte ich genau hinein.
Gegen 23 Uhr wurde ich langsam schläfrig. Ich schaute auf und gähnte. Dann blin-zelte ich und sah noch einmal genauer in den Spiegel.
Er zeigte das Wohnzimmer und den Sessel, in dem ich saß, aber nicht mich. Es war unheimlich. Das Mädchen, das in dem Sessel saß und las, war Catarina.

Heiligabend 1850
Sie waren um sechs Uhr abends in der Kirche gewesen. Danach standen sie auf dem Kirchplatz und wünschten ihren Bekannten schöne Weihnachten. Gesine und Carolina waren zu Hause geblieben und hatten sich um das Essen gekümmert.
Es war ein ruhiger Tag. Es war das erste Weihnachten seit vielen Jahren, an dem Schnee lag, dazu lag über der Gegend den ganzen Tag ein strahlend blauer Himmel und erst am Abend fing es wieder an zu schneien. Er wurde stärker, als die Familie sich ihrem Haus näherte.
Als sie die Grundstücksgrenze erreichten, sahen sie ein paar Meter vor sich eine kleine Gestalt, die sich durch die Schneewehen kämpfte.
„Schaut mal“, flüsterte Catarina und hielt die anderen zurück.
„Was macht so ein Persönchen um diese Zeit auf unserem Grundstück?“ wunderte sich Anna.
„Ich weiß es“, sagte Robert langsam, „das ist das Kind. Aber wieso ist es hier?“
„Bist du sicher?“
„Auf alle Fälle.“
In Höhe des Kirschbaums strauchelte es und stand nicht mehr auf.
„Wir müssen ihm helfen!“ rief Catarina und wollte hinlaufen. Ihr Vater hielt sie zu-rück. „Warte!“
„Aber wir können es doch nicht einfach hier draußen erfrieren lassen!“
„Denk doch, Catarina. Das Kind ist nur eine Illusion! Es ist ein Geist. Denk an Großvaters Geschichte.“
Catarina stand still und erinnerte sich. Dann wurde sie blass. „Ich will hier weg!“ sagte sie und begann zu laufen. Sie verschwand im Schneegestöber.
„Was hat sie denn?“ fragte Markus verblüfft.
„Das ist ihr wohl zu unheimlich“, erwiderte Robert. „Weibsbilder!“
Anna warf ihrem Mann einen schiefen Blick zu. „Ich grusele mich nicht“, erklärte sie spitz. „Und wir sollten jetzt ins Haus gehen. Mir jedenfalls ist kalt.“

An der Stelle wurde der Spiegel wieder zu dem, was er war, oder sein sollte und ließ mich im Wohnzimmer zurück. Ich schaute schnell zu Marion und dann auf die Uhr. Viel Zeit war nicht vergangen, vielleicht fünf Minuten. Meine Tante war etwas weitergekommen mit ihrem Puzzle, aber sie hatte noch nicht auf mich geachtet. Erleichtert vertiefte ich mich wieder in mein Buch, ohne noch einmal über das nachzudenken, was ich da eben im Spiegel gesehen hatte.

Marion
Im Zimmer herrschte plötzlich eine merkwürdige Spannung. Ihre Hände zitterten und sie legte das Mosaikteil rasch fort. Vorsichtig lauschte sie in den Raum hinein. Merkwürdig...
„Bist du hier?“ dachte sie. Als sie keine Antwort bekam, schaute sie sich aufmerksam um.
Der Spiegel! Er war von Energie umflutet, das sah Marion sofort. Sie warf einen Blick auf Alicia. Das Mädchen las nicht mehr, sondern saß reglos auf ihrem Platz und starrte den Spiegel an.
Marion wagte sich nicht zu bewegen. Sie Schloss die Augen und schaute Alicia auf ihre Weise über die Schulter.
Genau das hatte sie geahnt. Wie ein Fernseher einen Spielfilm zeigte der Spiegel jetzt einen Abschnitt der alten Geschichte. Das war es also, was mit diesem Schmuckstück nicht stimmte. Schon als sie es auspackte, hatte sie etwas gespürt. Sie würde den Spiegel lieber nicht ins Schlafzimmer hängen, sondern hier im Wohn-zimmer, und zwar in der Nische hinter dem Vorsprung. Man sah ihn, aber dort konnte er am wenigsten anrichten.
Wie war dieser Spiegel nur in einem Antiquariat gelandet? Marion schloss daraus, dass Alicia über den Spiegel Bescheid wusste.

An diesem Abend nahm ich den Band über diese Gegend mit ins Bett und las dort in der Sage vom „Winterkind“ weiter, wo Marion aufgehört hatte zu erzählen.

„Als der Junge am Abend immer noch nicht in Neudorf angekommen war, begann man sich dort ernsthafte Sorgen zu machen. Der Gemeinderat Thomas Heycken ließ die Gegend nach ihm absuchen, denn in diesem Wetter konnte da draußen niemand die Nacht überstehen und schon gar nicht ein Neunjähriger.
Nach einer knappen Stunde der Suche waren sie gezwungen sie abzubrechen, weil das Wetter noch schlimmer wurde. Das Unwetter, das vorher über Langenwege getobt hatte, war weitergezogen. Jetzt war es in Neudorf wichtiger, die Gebäude zu sichern und alles, was draußen noch herumstand, unter Dach zu bringen.
Um Mitternacht begannen die Glocken zu läuten. Eine schwere Sturmflut suchte den gesamten Küstenabschnitt heim. Sowohl Neudorf als auch Langenwege und das ganze Feld dazwischen wurde überflutet. Die Orte waren fast zwei Tage voneinander abgeschnitten.
Als das Wasser langsam abfloss, wurden die Ausmaße des Unwetters sichtbar.
Sie schickten wieder Suchtrupps aus, und dieses Mal wurden sie fündig.

Maria Heycken war die Tante von Wilhelm. Sie hatte ihren Neffen schon einige Monate nicht mehr gesehen und freute sich auf ihn. Als er jetzt so lange ausblieb, begann sie sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie kam gerade von einer Freundin wieder, über die wieder begehbare Dorfstraße, als sie den kleinen Trupp sah, der aus Richtung Langenwege ins Dorf kam. Sie trugen eine kleine Last mit sich. Maria er-kannte einige der Männer, die ihr Mann ausgeschickt hatte, um Wilhelm zu suchen.
Als sie sie erblickten, schlugen sie sofort einen Richtungswechsel ein. Maria fand das merkwürdig. Irgendwas stimmte da nicht.
Weil es schon wieder zu regnen anfing, ging sie nach Hause, obwohl sie gern noch mit den Männern gesprochen hätte.
Die Männer hatten nur einen anderen Weg genommen. Thomas stand vor dem Haus und wartete auf sie. Maria begann zu laufen.
„Wie sieht es aus?“ fragte sie. „Was ist passiert?“
Er schüttelte in stummer Abwehr den Kopf. „Nichts zu machen“, sagte er müde. „Sie haben ihn unter einem Baum auf offenem Gelände gefunden.“
Maria hörte ihm zu, sie begriff es, aber sie wollte es nicht wahrhaben. „Ich muss zu ihm!“
Er versuchte sie aufzuhalten, aber es war ihm nicht möglich. Sie schob ihn beiseite und ging in die Wohnstube. Wilhelm lag auf dem Sofa. Er sah aus, als schliefe er nur. Maria strich ihm über die Stirn. Sie weinte nicht. Sie sprach auch kein Wort. Sie hielt bei Wilhelm die Wache. Und sie jagte jeden aus dem Zimmer, der versuchte, sich ihr zu nähern.

Thomas hatte an ihm nichts verändern lassen. Er hatte ihm nur den Brief abgenom-men.
Er machte sich selbst auf den Weg, um Wilhelms Eltern die schlimme Nachricht zu überbringen. Er ritt querfeldein über das Brachland, weil der Weg durch die Flut zerstört war. Wilhelms Eltern brachen zusammen, als sie die Nachricht vernahmen. Thomas blieb zwei Tage, dann ritt er zurück. Er floh vor der Trauer, die er dort zurückließ.“

Als ich soweit gelesen hatte, musste ich wohl das Buch beiseite gelegt haben, ob-wohl ich mich nicht daran erinnerte, es lag auf dem Nachttisch, mit einem Lesezeichen an der Stelle, wo ich aufgehört hatte zu lesen.

Ich ging jetzt wieder arbeiten. Weihnachten war vorüber. Es schien, als hätten sie mir vergeben. Es gab keine bösen Worte. Aber als ich am Tag nach Weihnachten aus der Mittagspause zurückkehrte, roch es komisch.
„Sagt mal, hat hier jemand Glas in der Esse liegen lassen?“
„Wieso?“
„Riecht ihr das nicht?“
Sie rochen nichts. Ich ließ mich davon nicht beirren und ging in die Werkstatt.
Jemand hatte eine gefüllte Glaskelle im Feuer liegen lassen, und das Zeug war ausgelaufen, die Kelle angebrannt. Ein paar Minuten später, und das ganze Haus hätte in Flammen gestanden.
„Langsam wirst du mir unheimlich“, sagte Elke.
„Bin ich das nicht sowieso?“ Sogar in meinen Ohren klang ich aggressiv.
Elke zuckte zusammen. Ich hatte keine Ahnung, wie die anderen es geschafft hatten, dass sie sich wieder in meine Nähe wagte – auch wenn sie direkten Blickkontakt mied.
Paul schaute auch weg, als ich ihn ansehen wollte.
„Hey Leute. Was ist das da?“
’Das da‘ war eine Säule aus Glas auf dem Fensterbrett, die bei näherem Hinsehen wie eine missglückte Figur aussah.
Lukas trat ein und schob die anderen beiseite. „Nicht anfassen.“ Er nahm eine kalte Zange und hob sie vorsichtig hoch, musterte jeden einzelnen, bis er bei mir ankam. Langsam wurde ich nervös.
„Was ist?“
„Alicia, du bist noch nicht soweit, dass du alleine an die Esse darfst. Das hier will ich nicht wieder sehen, okay?“
„Aber ich war das nicht!“ protestierte ich.
„Ich glaube nicht, dass ein anderer von uns so etwas tun würde. Die sind alle erfahren.“
Ich schaute auf und sah Elke, die selber erst im dritten Jahr war, selbstgefällig lächelnd. Ich hasste sie plötzlich so heftig, dass ich spürte, wie mir das Blut zu Kopf stieg.
„Gut, wenn sich für das hier keiner zuständig fühlt, wird eben künftig in jeder Pause einer abgestellt, der hierbleibt. Sollte noch einmal etwas passieren…“
Die Blicke, die sie mir zuwarfen, waren eindeutig. Ich hatte es ihnen eingebrockt, ich würde es zu spüren bekommen.

Das zweite war die Sache mit den Rechnungen. Dafür war Paul zuständig. Er blieb damit immer im Büro. Mit Papieren kam er nicht in die Esse. Nie. Deshalb wunderten sich alle, als er am Tag nach dem Vorfall mit der vergessenen Glaskelle hochrot im Gesicht mit einem Stapel Papier durch die Werkstatt polterte, die Tür zum Hauptbüro aufriss und ihn vor dem Chef hinknallte.
„Wenn ich nur noch solchen Blödsinn machen soll, können Sie sich selbst drum kümmern!“
Er drehte sich auf dem Absatz um und warf die Tür hinter sich zu. Stille.
Wir hatten alle aufgehört zu arbeiten. Das waren wir von Paul nicht gewöhnt. Er war einer der friedfertigsten Menschen, die ich kenne.
„Was ist denn in den gefahren?“
„Ja wer weiß? Vielleicht…“ Elke schon wieder.
„Alicia“, sagte Andreas mit einem Unterton.
„Ach?“ Ich drehte mich zu ihm herum. „Was willst du?“
Er grinste. „Na wir wissen doch alle, dass du den... Blick hast und in dem Haus da draußen wohnst. Da kann man gar nicht anders, als sich vor dir in Acht zu nehmen.“
Ich blinzelte. Komisch, dass ich vorher von der Stimmung hier nichts gemerkt hatte.
„Mit Pauls Problemen habe ich nichts zu tun“, erklärte ich so gelassen wie möglich.
„Das glaube ich nicht“, widersprach Andreas.
„Was?!“ Ich wirbelte herum. „Wollt ihr mir hier eigentlich jeden Mist andrehen, nur weil ich nicht ganz so bin, wie ihr es gerne hättet?“
„Jetzt warten wir doch mal ab, was Paul eigentlich hatte, vielleicht kommen die beiden da ja gleich mal raus“, versuchte Axel zu schlichten.
Ich lehnte mich in die Fensternische und verschränkte die Arme. Die anderen hiel-ten sich fern von mir. Wir warteten. Irgendwann ging die Tür zum Büro auf und Paul und Lukas Zabel kamen heraus.
Lukas hielt die Papiere in der Hand. Beide Männer sahen ernst aus.
„Wir haben hier ein Problem“, sagte er.
Er blätterte Rechnungen und Bilanzausdrücke durch.
„Paul hat Recht. Jemand hat in den Bilanzen herumgepfuscht. Es gibt Posten, die nicht von ihm sind, Rechnungen, die er nie gesehen hat. Jemand ne Idee, wer das gewesen sein könnte?“
Er reichte die Papiere weiter und sah sich um. An mir ging das Zeug vorbei. Ich zuckte mit den Schultern und machte mich demonstrativ wieder an die Arbeit, putzte ein Regal. Wenn sie mich nicht haben wollten, war das ihr Problem. So leicht konnte man einen Auszubildenden nicht rauswerfen. Dann kam Andreas zu mir.
„Du musst dir das auch ansehen“, knurrte er. Ich sah ihm an, wie sehr ihm das missfiel.
Ich nahm die Papiere und achtete dabei darauf, Andreas weder anzusehen noch zu berühren. Ich sah mir jede Seite an und versuchte einen Scherz. Er war schwach. Keiner lachte, und danach war das Schweigen nur noch unangenehmer.
„Will hier jemand einen Zauberladen aufmachen?“
Es waren Bestellungen und Rechnungen über Spiegel, Wahrsagekugeln, Zauberstä-be und Statuen.
„z. Hd. Frau Gerber.“ Die Rechnungen von mir gegengezeichnet.
„Wer ist dein Kunde?“ fragte Andreas hinter mir.
Mir fror erst das Herz ein und dann der Magen.
„Glaubst du diesen Mist auch noch?“ Mir fehlten die Worte.
Elke tauchte hinter Andreas auf. „Bestimmt diese Hexe auf der Wurt oder Freunde von ihr“, sagte sie lächelnd.
Ruhig bleiben, die wollen dich nur provozieren.
Das verdammte Haus schien mir tatsächlich nicht zu bekommen.
„Hexen gibt es nicht“, sagte ich.
„Gibt es nicht? Komisch.“ Elke stellte sich direkt vor mich. „Und was passieren auf der Wurt immer für komische Sachen?“
„Da passiert gar nichts!“
„Ist wohl besser, wenn du auf Abstand zu uns bleibst.“
„Darauf könnt ihr euch verlassen!“
„... erst mal als Urlaub“, beendete Lukas den Satz.
Ich starrte ihn an. Das war praktisch ein Rauswurf. Er war nicht wütend auf mich wie die anderen. Er hasste mich nicht. Ich begriff, dass er mich schützen wollte. Jetzt hielt ich es keine Minute länger mehr aus.
Ich holte meine Sachen und rannte raus. Ich griff in die Manteltasche. Ausgerechnet heute hatte ich meinen Hausschlüssel vergessen. Marion arbeitete um diese Zeit noch.
Also zu Caro. Sie war schon zu Hause, arbeitete an zwei Tagen nur bis mittags, und der Vorfall war um fünf Uhr nachmittags passiert.
Sie öffnete mir sofort. „Du bist ja früh. Um diese Zeit arbeitest du doch eigentlich noch?“
Ich nickte und wollte wortlos an ihr vorbei.
„Hey, was ist denn los?“
Ich lehnte mich an die Wand und merkte, wie die Tränen kamen. Caro nahm mich schweigend in den Arm und führte mich ins Wohnzimmer. Es standen schon Teetas-sen auf dem Tisch.
„Komm, du trinkst jetzt erst mal was und dann erzählst du mir, was passiert ist.“
Ich nickte stumm und merkte erst jetzt, wie durchgefroren ich war. Der Schreck und die Wut lösten sich langsam. Ich hörte durch die Stille das Ticken der Küchenuhr und das Summen des Kühlschranks. Caro wartete.
„Ich bin draußen“, sagte ich irgendwann.
Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.
Ich erzählte langsam mit vielen Pausen. Alles. In der Schule erzählte ich nie von irgendwelchen Schwierigkeiten. Für Caro war alles neu. Zum Schluss kam ich zu der Sache mit den Rechnungen. Sie war blass geworden.
„Aber das stimmt doch nicht, oder?“
„Wenn du das glaubst...“
„Himmel, nein! Aber... du weißt ja, was man sich über das Haus so erzählt“, sagte sie verlegen.
„Klar weiß ich das! Aber zufälligerweise kenne ich auch den anderen Teil der Wahrheit, vielleicht gerade weil ich da wohne, und ich kenne auch meine Tante“, sagte ich.
Caro nickte. „So meinte ich das doch auch gar nicht.“
Sie lächelte. „Hast du Silvester schon etwas vor?“
„Nein, noch nicht. Hast du eine Idee?“
„Feier doch mit uns! Also, Marianne, Kerstin, Hilke, Julian und Martin... halt die Leute.“
„Gern!“ sagte ich erleichtert. Ich war nur froh, dass sie mich wegen der Sachen, die sie da gerade gehört hatte, nicht an die Luft setzte.
„ich verlange ja gar nicht, dass ihr mich besuchen kommt, also, ich zwinge euch ja nicht. Aber... wenn du mutig genug bist...“
„Soll ich mal vorbeikommen?“
Die Idee war mir gerade gekommen.
„Dachte ich, ja. Einen Haken hat die Wurt tatsächlich.“
Was tat ich da eigentlich? Lud Caro zu mir ein und erzählte ihr gleichzeitig von dem komischen Gefühl, das mich da immer überkam!
„Vielleicht trifft das ja nur auf Leute zu, die da wohnen“, begann ich zögernd.
„Ein... Angstgefühl. Wut. Wenn ich im Haus oder im Garten sauer werde, ist es auf einen Schlag weg, sobald ich die äußere Grenze überschreite. Also beim Kirschbaum, am Fluss, dem Weg und dem Gatter.“
„Das klingt ziemlich schräg, was du mir da erzählst“, sagte Caro.
„Das ist auch schräg.“ Ich stützte den Kopf in die Hände. „Mir passiert das, was ich eben erzählt hab, ständig, und keine Ahnung, was da eigentlich los ist. Ich hab nur diese komische Geschichte, das ist alles.“
Caro nahm mich in den Arm. „Dann bleibst du halt bei mir! Wir finden schon eine Lösung.“
„Nun hör auf, ich werde dort noch weiter wohnen, das Haus bringt mich nun nicht gleich um.“
Caro lachte. „Bestimmt nicht. Hey, du packst das, nur nicht den Kopf in den Sand stecken. Kommst du noch allein nach Haus, oder soll ich mitkommen?“
„Danke, Caro, aber es geht wieder. Bis dann in der Schule!“
Ich sah bei ihr flüchtig in den Spiegel, als ich ging. Ich sah aus, als hätte ich zwei Tage nicht geschlafen.
Als ich nach Hause kam, war Marion mittlerweile da. Mir war leicht schwindelig, als sie öffnete, und sie merkte gleich, dass es mir nicht gut ging. Sie legte mir einen Arm um die Schulter und führte mich ins Wohnzimmer. Ich legte mich auf die Couch.
Sie setzte sich auf die Lehne und reichte mir ein Glas Wasser.
„Erzähl.“
Ich trank mit großen Schlucken. „Das Haus macht mich verrückt.“
Sie setzte an, etwas zu sagen.
„Marion, du lügst, wenn du sagst, dass es nichts damit zu tun hat. Wie lange willst du das noch durchziehen?“
„Ich kann dich nicht wegschicken. Du musst hierbleiben.“
Sie presste die Lippen zusammen. Sie wollte mir nichts sagen. Immer noch nicht.
„Warum ich hierbleiben muss, kannst du mir natürlich auch nicht sagen, stimmt‘s?“
Ich richtete mich ruckartig auf und wartete, bis die schwarzen Punkte vor meinen Augen verschwanden, dann stand ich ganz auf und ging zur Tür.
„Dann erzähl mir halt nichts. Aber wunder dich nicht, wenn du als Hexe beschimpft wirst. Vielleicht haben die anderen damit ja Recht.“
Marion sah mir nach. Sie sah traurig aus, unverstanden, aber sie versuchte nicht, mich zurückzuhalten.

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