Schneekind V
von Sabine Herzke (melody)

 

30. April 2009
Ich ging schon seit einigen Wochen wieder zur Arbeit. Sie hatten sich mir vorsichtig genähert und mir war klar, dass es dauerte, bis ich wieder akzeptiert war. Sie erschraken nicht mehr, wenn sie in meinen Augen etwas Unheimliches sahen. Ich schlug dann den Blick nieder und suchte mir Arbeiten, bei denen ich allein sein konnte.
Sorgen machte ich mir eher um Marion. Sie war in den letzten Wochen immer stiller geworden und seit Ostern zu Anfang des Monats war es ganz schlimm. Außerdem hatte sie angefangen, mich zu umsorgen und zu verwöhnen, was ihr gar nicht ähnlich sah.
Gegen zehn Uhr abends verabschiedete ich mich, um ins Bett zu gehen. Marion war geistesabwesend, sie schien nachzudenken. Ich ging leise hinaus.

Ich wurde davon wach, dass ich Durst hatte. Ich wankte im Halbschlaf in die Küche und trank zwei Gläser Wasser. Danach ging es mir besser.
Auf dem Rückweg sah ich, dass die Wohnzimmertür offen stand, und im Kamin brannte ein Feuer. Es war Ende April und schon recht warm, wir hatten den Kamin seit Wochen nicht mehr benutzt. Ich stieß die Tür ganz auf und trat ein.
Wilhelm spazierte durchs Zimmer, mit auf dem Rücken verschränkten Händen und steckte überall seine Nase rein. Er musste Ohren wie ein Luchs haben, ich war noch nicht einmal eingetreten, da drehte er sich schon um. Er war nicht überrascht, mich zu sehen, es schien, als hätte er mich erwartet.
Er lächelte nicht. „Schön, dass du gekommen bist, Alicia.“
Es lief mir kalt über den Rücken.
„Komm“, sagte er, „ich möchte, dass du dir etwas ansiehst.“
Die Jahrhunderte als Geist hatten ihn erwachsen werden lassen.
Ich folgte ihm. Er ging zum Spiegel und setzte sich davor auf den Boden. Er sah mich schelmisch an und zwinkerte. „Setz dich doch.“
Ich tat es. Wilhelm hatte mich völlig in seinen Bann gezogen.
„Was hast du denn vor?“
„Schau einfach nur hin.“
Ich bekam langsam Angst. Im Spiegel lief ein Film ab, Wilhelm saß lächelnd neben mir, er dachte wohl, er tat mir wirklich einen Gefallen damit, aber es war der absolute Horror.

Endloses graues Meer erste Siedler Wasserverdrängung Deichbau eine Wurt eine Kirche Brand Hausbau und Langenwege wächst ein Kirschbaum auf der Wurt Sturmfluten morsches Holz das Haus bricht auseinander Schneestürme toben über die Ebene ein Kind ist unterwegs strauchelt tot Sturmfluten…

„Hör auf!“ schrie ich. Es war zu viel, mir reichte es. Ich erkannte endlich den Zusammenhang.
„Alicia?“ fragte Wilhelm und sah mich fröhlich an. „Komm schon, es ist Zeit für dich.“
Zeit für was? Ich stand auf und wich zurück, aber Wilhelm streckte die Hand aus und kam auf mich zu.

Licht aus dem Spiegel Catarina lächelt Wilhelm nimmt meine Hand brennender Schmerz Leichtigkeit und dann…

Stille.


ZWISCHEN DEN ZEITEN

Marion
Als ich am ersten Mai aufwachte, merkte ich gleich, dass etwas nicht stimmte. Ich stand auf und ging zu Alicias Zimmer. Sie war nicht da. Mein Herz begann zu rasen. Ich hatte die ganze Zeit die Anzeichen ignoriert. Ich rannte die Treppe runter ins Wohnzimmer. Ich hoffte noch, dass sie nicht dort sein würde.
„Du kannst sie nicht zurückholen“, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich stoppte noch auf der Treppe, drehte mich zu Wilhelm um, der mich aus stillen traurigen Augen anschaute. Da war es klar. Ich wurde wütend, wie noch nie zuvor im Leben. Wütend auf die Leute, die Wilhelm damals in den Schnee geschickt hatten, wütend auf Wilhelm, der sie mir genommen hatte.
„Ich glaube dir gar nichts!“ rief ich und rannte die letzten Meter zum Wohnzimmer.

Sie lag auf dem Rücken vor dem Kamin. Sie sah aus, als schliefe sie nur. Ich stockte, tastete nach ihrem Puls. Da war nichts mehr. Sie war schon kalt. Ich wich zurück, schaute auf, sah Wilhelm, der den Blick erwiderte und dann verschwand.
Ich rief den Arzt an.

Braunlage
„Ja ich komme ja schon!“ rief Doris, als das Telefon nicht aufhören wollte zu klingeln.
„Gerber.“
„Bist du das, Doris? Hier ist Marion.“
Am Tonfall der Schwägerin merkte Doris sofort, dass etwas passiert sein musste.
„Um Himmels Willen, ist etwas mit Alicia? Ist ihr etwas passiert? Vor drei Tagen ging es ihr doch gut, als wir telefonierten!“
„Doris… du setzt dich besser eben hin“, sagte Marion.
„Was ist passiert?“
„Alicia ist… Alicia hatte einen Unfall. Sie ist gestorben…“
„Das ist nicht wahr!“ schrie Doris. „Das stimmt einfach nicht, du holst sie mir ans Telefon, sofort!“
„Doris…“
„Ich glaube dir nicht! Ich komme sofort zu euch!“
Marion hörte nur noch das Tuten in der Leitung. Doris hatte eingehängt. Sie ließ sich auf das Sofa sinken und ließ die Tränen einfach fließen. Sie kauerte sich zusammen und weinte.

Marion war wie betäubt. Sie versuchte zu tun, was sie musste. Stellte am nächsten Tag eine Liste auf, wen sie noch benachrichtigen musste. Es brachte ein bisschen Ruhe hinein. Alicia fehlte ihr in jeder Sekunde. Sie kannten sich doch erst so kurz.
Als nächstes folgte Alicias Lehrstelle.

Marion
Ich tauchte zwei Tage nach ihrem Tod in der Werkstatt auf. Ich hatte es nicht fertig gebracht, einfach nur anzurufen und es damit gut sein zu lassen.
Ein Mann in Hemd und Jeans empfing mich.
„Ich bin hier der Chef, Zabel mein Name. Gut, dass Sie kommen“, sagte er ernst. „Ihre Nichte ist seit zwei Tagen nicht mehr zur Arbeit gekommen.“
Er führte mich an der eigentlichen Werkstatt vorbei einen engen dunklen Flur entlang, an einer Teeküche vorbei und in sein Büro. Das große Fenster ging auf den Hof.
„Setzen Sie sich doch. Möchten Sie Kaffee? Ist gerade ganz frisch.“
„Danke.“
Er füllte zwei Tassen aus einer Thermoskanne und setzte sich hinter seinen Schreib-tisch.
„Im Allgemeinen ist Frau Gerber eine pflichtbewusste, aufmerksame Frau, die die Anweisungen befolgt und gut lernt und bei allen Kollegen gut angesehen ist.“ Er machte eine Pause.
„Allerdings hat sie sich vor ungefähr drei Monaten auf einmal verändert, alle Kol-legen haben mir davon berichtet. Ich habe von merkwürdigen Geschäftsbriefen gehört, von Okkultismus, liegengebliebenen Glaskellen und dem hier.“
Er griff ins Regal und stellte eine kleine Glasfigur vor mich hin. Ich kniff die Augen zusammen.
„Darf ich sie anfassen?“
„Bitte.“ Er schob sie mir über den Tisch.
Die Figur war ungefähr fünfzehn Zentimeter hoch, aus klarem Glas geformt. Ich fuhr die Form nach, das Gesicht, die Kleidung. Es handelte sich um einen Jungen in altmodischer Kleidung, und ich wusste ganz sicher, wer er war.
„Das ist merkwürdig, weil alle bestreiten, diese Figuren hergestellt zu haben“, sagte Zabel.
„Sie gehört nicht zu Ihren üblichen Produkten? Ich war ja vor einigen Wochen ein-mal hier und kaufte eine solche Figur.“ Mein Mund wurde trocken. Ich griff nach meiner Tasse und trank ein paar Schlucke Kaffee.
„Wir haben keine Figuren im Programm“, sagte er.
„Himmel“, sagte ich tonlos. Ich erinnerte mich daran, wie ich Alicia die Figur mit-gebracht hatte. Damals dachte ich noch, dass sie auf die Werkstatt einen Einfluss gehabt hatte.
„Herr Zabel, ich kann Ihnen leider nicht sagen, was das für eine Figur ist. Ich muss Ihnen aber etwas mitteilen, deswegen bin ich hergekommen…“
„Kommt Frau Gerber vielleicht nicht mehr her, weil sie weitere Vorfälle befürchtet?“
„Das ist nicht der Grund, Herr Zabel. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll. Meine Nichte ist vor zwei Tagen ums Leben gekommen…“
„Frau Gerber, wenn das ein Scherz sein soll…“
„Glauben Sie, ich mache Witze über so eine Tatsache? Ich habe sie vor zwei Tagen verloren, glauben Sie, ich käme her und würde Ihnen irgendein Märchen erzählen, nur um zu entschuldigen, warum sie nicht wiederkommt?“
Er hob erschrocken die Hände. „Es tut mir leid. Was ist denn passiert? Hatte sie ei-nen Unfall? Können wir Ihnen irgendwie helfen?“
„Vielen Dank, Herr Zabel. Ich kann jede Hilfe gebrauchen… wenn es sich ergeben sollte, komme ich gern darauf zurück. Ich kann Ihnen leider nichts dazu sagen, was passiert ist. Ich fand Alicia am ersten Mai tot im Wohnzimmer. Am Abend davor haben wir noch zusammengesessen und ich bin etwas eher schlafen gegangen. Das war das letzte Mal, dass ich Alicia lebend gesehen habe.“
Ich hob die Hand, als er weiterfragen wollte.
„Selbst wenn ich mehr wüsste, würde ich es Ihnen nicht erzählen“, sagte ich. „Die Polizei war auch schon da, aber ich kann nur sagen, dass ich nichts weiß.“ Ich stand auf. „Tut mir leid, Herr Zabel. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen.“
„Ich bringe Sie noch nach draußen.“
„Wie viele Figuren haben Sie noch?“ fragte ich.
Er holte eine Kiste von einem Regal. Es waren über zwei Dutzend. Alle unwahr-scheinlich fein gearbeitet.
„Darf ich sie behalten?“
Er machte eine Handbewegung zum Karton. „Behalten Sie alle. Wir wollen sie hier nicht haben.“
„Danke“, sagte ich leise.
Er brachte mich zum Wagen und kehrte zur Werkstatt zurück.
Ich war heilfroh, das hinter mir zu haben. Die Polizei hatte auf einer Obduktion bestanden, solange konnte ich nichts tun. Ich hatte stundenlange Befragungen über mich ergehen lassen müssen.
Ich kehrte nach Hause zurück. Ich ahnte ja nicht, was für ein Gespräch in der Glaswerkstatt stattfand, nachdem ich fort war.

Lukas Zabel ging sofort in den Werkraum, nachdem Frau Gerber gegangen war.
„Hört mal her!“
Die anderen legten ihre Arbeit nieder. Abwartende Blicke.
„Brüll doch nicht so, was ist los?“ Paul kam als Letzter aus seinem Büro.
„Ich hatte gerade Besuch von Frau Gerber.“
„Alicia war hier?“
Lukas schüttelte den Kopf. „Ihre Tante war hier.“
Stille.
Andreas fing sich als erster. „Na so was! Was wollte die liebe Tante denn? Ihren Zögling gegen uns verteidigen? Oder hat sie uns gleich verflucht?“
„Nichts von alledem.“
Etwas in Lukas Stimme ließ sie aufhorchen. Elke wollte gerade ansetzen, etwas Spöttisches zu sagen, aber auf einen Blick hin verstummte sie.
„Sie ist gekommen, um mir mitzuteilen, dass Alicia tot ist.“
„Was? Du nimmst uns doch auf den Arm! Was soll das heißen, sie ist tot?“
Elke trat dicht an ihn heran. „Hör auf uns solche Lügen zu erzählen.“
Lukas verschränkte die Arme. „Sie ist tot. Punkt.“
In seinem Inneren war er längst nicht so kalt und abweisend wie er sich nach außen gab. Es tat ihm verdammt weh, dass sie Alicia verloren hatten.
„Ob die Alte was damit zu tun hat?“ fragte Paul.
„Paul!“ kam es von vier Seiten gleichzeitig.
„Na ist doch wahr!“ Er grinste in die Runde, er schien von Alicias Tod überhaupt nicht betroffen zu sein. „Ich glaube euch kein Wort, wenn ihr jetzt plötzlich behauptet, ihre besten Freunde gewesen zu sein.“
Lukas verließ kopfschüttelnd die Werkstatt.
„Ihr glaubt doch nicht, dass es bei ihrem Tod mit rechten Dingen zugegangen ist“, fuhr Paul fort. „Vielleicht sollte sich mal jemand auf dem Wurthof umsehen.“

Marion
Alicias Eltern waren sofort losgefahren. Sie kamen abends bei mir an. Ich brachte sie in einem der leeren Zimmer im ersten Stock unter. Wir gingen vorsichtig miteinander um. Mein Bruder war das ausgleichende Element, aber Alicias Mutter ging ein paar Mal auf mich los. Ich konnte ihr nicht einmal verdenken, dass sie mir die Schuld an Alicias Tod gab. Ich war heilfroh, als Alicias Leichnam ohne Ergebnis auf Fremdeinwirkung freigegeben wurde. Als sie hörten, dass Alicia erst zur Untersuchung gekommen war, blieb auch mein Bruder nicht mehr ruhig. Er fuhr sofort zum Institut und erst als man ihm dort sagte, dass es unvermeidlich war, fügte er sich.
Wir versuchten uns aus dem Weg zu gehen und die Trauer des anderen auszuhalten.
Die Beerdigung in Braunlage war schlimm. Sie machten mir keine offenen Vorwürfe, aber ich fühlte mich nicht willkommen, nicht einmal bei meinem Bruder. Sie schützten mich nicht einmal vor ihren Freunden. Ich war die Frau, bei der Alicia gestorben war. Ich reiste noch am selben Tag wieder ab, vollkommen geschafft davon, die ganze Zeit eine Zielscheibe gewesen zu sein. Niemand sprach mir das Beileid aus. Das war also meine Familie.

Zwei Tage später stand erneut die Polizei vor der Tür.
„Wir haben noch ein paar Fragen an Sie, Frau Gerber. Wir möchten Sie auch nicht lange stören. Dürfen wir hereinkommen?“
Ich öffnete ihnen die Tür ganz und führte sie ins Wohnzimmer. Sie schauten sich um. Mein ganzes Haus war untersucht worden, als sie am ersten Mai im Haus gewesen waren, ich hatte jetzt alle Spuren von dieser Heimsuchung beseitigt und fühlte mich gerade wieder zu Hause.
„Worum geht es?“
„Es gibt da ein paar ungeklärte Fragen.“
„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.“
„Fragen zu ein paar Gerüchten, die im Dorf erzählt werden. Ist Ihnen davon nichts bekannt?“
„Was denn für Gerüchte?“ Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel mir gar nicht. Sicher hatte ich so das eine oder andere gehört, aber dass die Polizei Gerüchte für relevant hielt, war äußerst beunruhigend.
Der ältere der beiden Polizisten fuhr fort. „Sie haben da unten in den Dörfern keinen guten Ruf.“
Ich schwieg.
„Finden Sie es nicht etwas seltsam, als Hexe bezeichnet zu werden? Dass Sie schwarze Messen feiern sollen, und es ist ständig von einer Sagengestalt die Rede. Das klingt alles etwas sehr wirr, finden Sie nicht? Haben Sie dafür eine Erklärung?“
„Das Kind“, sagte ich trocken.
Die Beamten wechselten einen Blick.
„Sie wissen also, was man sich erzählt.“
„Sie sind wohl nicht von hier. Die Geschichte ist hier überall bekannt in der Gegend.“
„Werden Sie mal nicht frech, Frau Gerber. Sie wissen etwas, und wir wüssten verdammt gern, was es ist.“
„Schön“, sagte ich gereizt. „Dann sage ich Ihnen jetzt mal was darüber, und ich würde Ihnen raten, es zu glauben. Das Kind hat tatsächlich gelebt, und bis zu einem gewissen Grad ist die Geschichte wahr. Im Laufe der Zeit kamen immer neue Einzelheiten hinzu, die Geschichte wurde ausgeschmückt, wie das halt so ist.“ Ich zuckte mit den Schultern und lehnte mich vor. „Am besten gehen Sie ins Stadtarchiv in Neustadt oder in eine gute Buchhandlung. Mit Fakten kommen Sie hier nämlich nicht weiter, wissen Sie?“

Ich ließ mich in einen Sessel fallen und rieb mir die schmerzende Stirn. Die Polizisten hatten kurz davor gestanden mich mitzunehmen, sie änderten ihre Meinung über mich von merkwürdig über spleenig bis völlig irre. Ich war irgendwann an mein eigenes Bücherregal gegangen und hatte ihnen einen Band über Sagen der Gegend in die Hand gedrückt und sie rausgeworfen. Sie hatten keine Handhabe, länger zu bleiben oder mich mitzunehmen und mussten wohl oder übel gehen.
Sie behielten sich aber weitere Schritte vor. Wenn sie mich noch mal brauchten, würden sie wiederkommen. Und ich bekam ein absolutes Sprechverbot für die Presse. Natürlich stand längst in der Zeitung, was hier passiert war.
„Das war aber knapp.“
Ich fuhr hoch. Hatte man denn nicht eine Minute lang seine Ruhe?
ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich die Stimme erkannte.
„Wilhelm!“ rief ich, „was soll das schon wieder?“
„Na und?“ gab er zurück und tauchte im Kamin auf, der Schelm.
„Wenn die Polizei merkt, dass ich mit einem Geist rede, den es gar nicht gibt, holen sie mich sofort ab.“
„Könnte interessant werden“, sagte er und saß in der nächsten Sekunde in Alicias Sessel. „Es wird sowieso heiß. Und wie willst du die Presse fernhalten?“
„Das klappt schon irgendwie.“
„Das heißt, wir können sämtliche Zeitungen auch noch im Auge behalten. Aber vielleicht ist ein bisschen Publicity ja auch gar nicht schlecht für die Gegend. Dann ist hier mal was los.“
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Habt ihr sie?“
„Ja“, sagte er unübersehbar selbstzufrieden.
Ich seufzte.
„So. Du hast dich also hochgearbeitet. Das könnte noch ganz nützlich sein.“
„Warts ab. Immerhin weiß ich, was du demnächst findest.“
„Du hättest es dezenter anfangen können. Jetzt hat mich die Polizei auf dem Kieker. Mein Bruder und meine Schwägerin hassen mich. Und wir bekommen Presse.“
Dieses Mal war sein Grinsen eindeutig frech. Der Knirps wurde ganz schön unverschämt. Schade, dass man einen Geist nicht ohrfeigen kann. Er streckte mir die Zunge raus.
„Du wiederholst dich. Außerdem bekommst du das schon hin“, sagte er.
Ich lehnte mich im Sessel zurück und sah ihn skeptisch an. Er setzte einen Dackel-blick auf. Ich stand auf und ohrfeigte ihn und rieb mir dann verblüfft die Hand.
„Wie kann das sein?“
„Du glaubst an mich“, sagte er.
Dann kicherte er. „Das ist mir schon sehr lange nicht mehr passiert“, sagte er. „Früher hat mich mein Vater ja versohlt, wenn ich mal wieder Hühner in den Schweine-stall gesperrt oder die Kühe geärgert hatte. Oder der Schulmeister.“
Ich lachte. „Das kann ich mir bei dir vorstellen. Du lässt doch nichts aus. Aber solltest du nach 200 Jahren nicht mal etwas erwachsener geworden sein?“
„Na und?“ Jetzt hing er an der Deckenleuchte. „Macht aber Spaß.“
Er schaukelte ein bisschen. „Ich werde auf die Heinis mal ein bisschen aufpassen“, sagte er. „Aber jetzt muss ich gehen.“
Er war also doch erwachsener geworden in der Zeit. Ich wollte noch etwas sagen, aber da hatte er sich schon in Luft aufgelöst.
Ich hielt es im Haus nicht mehr aus, zog mir Schuhe und Jacke an und machte einen Spaziergang, stemmte mich gegen den Wind und blieb über eine Stunde draußen. Ich kehrte ins Haus zurück, tauschte die Schuhe, hängte die Jacke auf und stellte mich vor den Spiegel, um meine verknoteten Haare wieder in Ordnung zu bringen.
Aus dem Spiegel sah mir Alicia entgegen. Ich trat an den Spiegel heran, in dem Moment verschwand ihr Bild wieder. Ich bürstete mir hastig die Haare. Meine Hand zitterte. Hätten die Polizisten das mitbekommen, sie hätte mich sofort in die Geschlossene gebracht. Ich war nämlich ganz sicher, dass ich in dem Moment ihre Stimme gehört hatte. Es hatte alles nicht geholfen. Alicias Beerdigung in Braunlage, die Tatsache, dass die Polizei so wieder abgezogen war.
Das, was da auf uns zukam, war vielleicht zu groß für uns. Es hatte heute Abend angefangen.

17. Mai 2009
Im Dorf wandte man sich von mir ab. Ich spürte die Feindseligkeit immer stärker. Doch merkwürdigerweise passierte nichts. Scheele Blicke, leise Worte, aber sonst blieb alles ruhig. Es kam auch nie jemand zum Hof raus. Kein Vandalismus, mit dem ich irgendwie gerechnet hatte. Und ja, die Presse tauchte auf. Und da wusste ich, dass die Polizei mich in der Tat im Auge behielt. Sie sperrten die Gegend ab, ein paar Tage lang wurde die Wurt bewacht und belagert, dann war der Spuk wieder vorbei. Ich kaufte alle Zeitungen, die ich bekommen konnte, las alles, was ich im Internet fand. Natürlich gab es dicke Schlagzeilen, aber die meisten Artikel waren unbedeutend und irgendwo im Lokalteil versteckt. Erstaunlich für die heutige Zeit.
Hatte Wilhelm das gemeint, als er sagte er werde ein bisschen aufpassen?

Die Tage gingen vorbei, und die Leute hatten bald anderes zu tun als mich zu beobachten.
„Bisher unbekannte Tagebücher aus dem 18. Jahrhundert entdeckt!“ lautete die neueste Schlagzeile unserer regionalen Tageszeitung.
Ich stellte meine Tasse ab, um den Artikel nicht mit Kaffee zu verunzieren.
„Bei Restaurierungsarbeiten in den Kellergewölben im Heimatkundemuseum ent-deckten die Historiker Tagebücher des Ratsherrn Thomas Heycken aus den Jahren 1774 bis 1791. Da der letzte Jahresband unvollständig ist, liegt die Vermutung nahe, dass sich zu diesem Zeitpunkt etwas Entscheidendes ereignet hat, das es dem Ratsherrn nicht möglich machte, seine Tagebücher fortzuführen. Die Redaktion hält Sie auf dem Laufenden.“
Heycken war weit nach 1791 gestorben, soweit ich mich aus meinen Museumsbe-suchen erinnern konnte.

Wilhelm und Catarina
Sie saß in ihrem Zimmer im ersten Stock und bürstete gedankenverloren ihr Haar, als er leise durch die Tür glitt.
„Grüß dich, Catarina.“
Sie zuckte zusammen und drehte sich um.
„Um Gottes Willen. Wer bist du denn?“
„Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Wilhelm.“
Sie ließ die Bürste sinken und musterte ihn.
„Vater hat von dir erzählt. Wir haben ein Trugbild gesehen. Du bist ein Geist.“
„Das bin ich wohl“, sagte er. „Ihr habt ein Abbild von mir gesehen? Dann wohl draußen im Schnee.
„Das ist wahr… warum bist du hier?“
„Ich sende Grüße von Alicia.“
„Bist du jetzt ein Botenjunge?“ Leiser Spott klang da durch. Catarina verlor die letzte Angst, die sie vor diesem Wesen hatte.
Da hatten die Erzählungen von Großvater doch geholfen.
„Wenn du das so sehen willst, verehrte Catarina.“
„Und wie geht es Alicia? Kommt sie noch einmal vorbei? Wann kann ich sie wie-dersehen?“
Er setzte sich auf das Bett und zwinkerte schnell mit den Augen.
„Man kann sagen, sie hat es jetzt gut“, sagte er.
„Ist ihr denn etwas passiert?“ fragte Catarina angstvoll.
Dieses Mal zögerte er. „Sie ist tot.“
Obwohl Wilhelm aufrichtig und ernst war, machte es Catarina wütend. „Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten!“
„Aber ich habe es gesehen.“
„Wann ist sie gestorben?“
„Vor ein paar Tagen.“
Sie konnte es einfach nicht glauben. „Dann werde ich sie also nie wiedersehen.“
„Doch, das wirst du. Ganz sicher, auch wenn es noch etwas dauern wird.“ Er lächelte. „Du musst den Spiegel an einen anderen Ort bringen.“
Catarina schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht tun.“
„Der Spiegel muss dahin, wo die Verbindung funktioniert. Möchtest du sie nie wiedersehen?“
Catarina starrte ihn an, zerknüllte ihr Kleid in einer Hand.
„Du kleiner Teufel.“
Wilhelm grinste zufrieden. „Ich glaube, ich habe gewonnen.“

Als Anna am Morgen das Haus verließ, schlich Catarina zu ihrem Bruder.
„Bitte, Markus, du musst mir helfen!“
„Nein“, sagte er kurz.
„Markus…“
„Es ist mir gleich, was dieses Gespenst zu dir gesagt hat oder ob es dir dabei um deine angebliche Freundin geht, die aus der Zukunft kommt - lächerlich!“
„So siehst du das also“, sagte Catarina und wandte sich ab.
Für Markus war die Sache damit erledigt, aber nicht für Catarina, die fieberhaft über eine Lösung nachdachte und nach Helfern Ausschau hielt.

Sie fand ihn schließlich in einem widerwilligen Hans.
„Aber auch nur, weil ich Wilhelms Launen kenne“; knurrte er. „Wenn’s Ärger gibt, hab ich nichts damit zu tun!“
„Hans, du bist ein Schatz!“
„Na na“, bremste er und bekam rote Ohren. Er war nur fünf Jahre älter als Catarina, ein guter Freund von ihrem Bruder.

Sie schlichen sich ins Elternschlafzimmer, nahmen den schweren Spiegel von der Wand und hängten ihn auf dem Treppenabsatz auf ohne gesehen zu werden.

Catarina ließ sich erschöpft im Kaminzimmer in einen Sessel sinken, als Wilhelm auftauchte.
„Ich wusste ja, dass du es machst!“ rief er begeistert.
Catarina fixierte ihn scharf. „Bedank dich bei Hans. Wenn er mir nicht geholfen hätte, wäre der Spiegel immer noch im Schlafzimmer.“
„Wieso“, fragte Wilhelm erstaunt, „war er dir etwa zu schwer?“
„Ja zufällig“, gab Catarina zurück. „ich meine, du kannst da natürlich nicht mitreden, so als Gespenst, wann musst du schließlich mal was Schweres tragen?“
Wilhelm klappte den Mund wieder zu. Ausnahmsweise wusste er mal nichts zu sagen.

Natürlich gab es Ärger. Gleich am nächsten Morgen rief Anna ihre Tochter zu sich.
„Sag mal, du hast nicht zufällig etwas damit zu tun, dass mein Spiegel im Flur hängt?“
Catarina zuckte mit den Schultern. Dann senkte sie den Blick. „Ja habe ich.“
„Und warum, bitte? Ich werde umgehend die Bediensteten bitten, ihn wieder zu-rückzutragen.“
„Tu das nicht!“ Catarina erklärte ihr die Zusammenhänge. Anna hörte ungläubig zu.
„Das ist absurd“, sagte sie.
„Ist es das? Und was war an Weihnachten, als du es noch geleugnet hast? Warte einmal ab, bis es leibhaftig vor dir steht, das möchte ich erleben!“
„Ändere sofort deinen Tonfall!“
Catarina erhob sich und rauschte aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzu-drehen.

Am selben Abend saß Anna mit ihrem Stickzeug am Fenster im Kaminzimmer. Ihr fehlte ein Fingerhut, sie legte den Rahmen beiseite und betrat das Treppenhaus. Als sie auf dem Absatz ankam, warf sie einen Blick in den Spiegel. Sie schrie auf.
Catarina erschien als erste. Überall im Haus wurden Türen aufgerissen.
„Mutter! Was ist passiert?“
„Oh Gott, Catarina!“ Anna lehnte an der Wand, sie war völlig blass. „Ich muss dich wohl um Verzeihung bitten… mir ist das Kind gerade im Spiegel erschienen.“
Catarina warf einen Blick zum Spiegel, aber er zeigte nur das Treppenhaus und sie selbst. Sie stützte ihre Mutter und half ihr wieder ins Kaminzimmer, wo das Mädchen schon mit einem Glas starkem Wein auf sie wartete.

Wilhelm genoss es, wie alles nach seinem Willen funktionierte. Nicht einmal Marion ahnte, was er ins Rollen gebracht hatte. Aber es wuchs ihm langsam über den Kopf. Zum ersten Mal in diesen Tagen merkte er, dass er mit dem Feuer gespielt hatte. Er war eben doch nur ein zehnjähriger Junge.

2009
Die Tagebücher! Sie ließen mir einfach keine Ruhe mehr. Ich musste sie einfach sehen. Ich musste wissen, was darin stand. Also ging ich in der nächsten Woche zur Gemeinde und erbat mir Einsicht.
Dort geriet ich an eine sture Verwaltungsangestellte, die alles nach Vorschrift machte.
„Die Bücher sind der Allgemeinheit nicht zugänglich. Wenn Sie sie ansehen möch-ten, müssen Sie warten, bis wir sie ausstellen.“
Ich stützte mich auf dem Tresen ab und versuchte es noch einmal.
„Ich möchte mir die Bücher nicht ansehen. Ich möchte Einsicht nehmen!“
Ihre Augenbrauen rutschten hoch, ihre Brille fast auf die Nasenspitze.
„Deswegen brauchen Sie mich hier nicht so anzuschreien. So einfach können Sie hier nicht Einsicht in historische Dokumente nehmen.“
„Schön. Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen.“
Durch die halb offene Tür konnte sie sehen, dass ein Mann im Anzug gerade am Schreibtisch saß. offenbar hatte er das Gespräch mit angehört. Er erhob sich und kam zu ihnen.
„Was ist denn hier los?“
„Wir erteilen nicht einfach so Genehmigungen, damit die historischen Dokumente eingesehen werden können!“ sagte die strenge Dame.
„Und was möchten Sie bitte?“ Er schien an den Tonfall seiner Angestellten ge-wöhnt zu sein.
„Einsicht in die Tagebücher des Ratsherrn, die vor kurzem aufgetaucht sind!“
„Sie brauchen dafür eine Sondergenehmigung.“
Ich haute auf den Tisch. „Deswegen bin ich hier! Ich versuche hier seit fünf Minuten klar zu machen, was ich will, vielleicht hören Sie mir auch mal zu!“
Er war völlig unbeeindruckt von meinem Wutanfall. „Ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte er.
Immerhin etwas. „Es kann aber ein paar Tage dauern.“
Noch länger warten. „Rufen Sie mich sofort an, wenn es möglich ist!“
Am 28. Juni konnte ich endlich in die Archive gehen.

Archiv
Eine Angestellte führte mich im Keller in einen Vorraum mit Arbeitstischen.
„Ich bringe Ihnen, was Sie brauchen.“
Sie brachte die Bücher, die in Ölpapier eingeschlagen waren und reichte mir Handschuhe. Dann hielt sie mir einen Vortrag darüber, wie mit den Büchern umzugehen war. Ich musste unterschreiben, alles verstanden zu haben, erst dann konnte ich mich an die Arbeit machen.
Ich habe keine historische oder wissenschaftliche Ausbildung. Heycken hatte eine ausladende schludrige Handschrift gehabt. Fast total unleserlich. Ich kämpfte mich Zeile für Zeile voran, ohne etwas zu finden, das mir weiterhalf. Dann entdeckte ich einen Kopierer. Ich sah mich im Raum um. Nicht einmal eine Überwachungskamera gab es hier. Wie leichtsinnig. Die Tagebücher waren erst zweihundert Jahre alt. Be-stimmt konnten sie noch nicht so anfällig sein wie Schwarten aus noch früheren Jahrhunderten.
Ich brauchte fast eine Stunde zum Kopieren. Ich steckte die Seiten gerade in meine Umhängetasche, als die Frau aus dem Archiv auf einmal vor mir stand. Ich schaute auf. Sie warf einen Blick zum Kopierer und dann auf die aufgeschlagenen Bücher.
„Geben Sie mir die Kopien. Fassen Sie hier nichts mehr an.“
Ich packte die Kopien aus und wich zurück. Sie sammelte die Bücher ein und brachte sie zurück, dann ergriff sie den Stapel Kopien und wies auf die Tür. „Kommen Sie.“
Aus. Vorbei. Ohne die Kopien hatte ich nichts in der Hand. In den Tagebüchern lag die Lösung. Soviel hatte ich herausgefunden, aber das, was wirklich wichtig war, stand in den Passagen, die ich nicht gelesen hatte, die Hinweise darauf waren eindeutig, und die Kopien waren jetzt in der Hand der Archivarin.
Sie führte mich in ihr Büro. Ich war ausgerechnet an die Chefin geraten. Sie nahm meine Personalien auf. Ich legte keine besondere Betonung drauf, aber sie stockte deutlich, als sie meine Adresse aufschrieb. Sie wusste, wer ich war.
„Warum interessieren Sie sich für die Tagebücher, Frau Gerber?“
„Das spielt doch keine Rolle.“
„Das stimmt bei jedem anderen, aber nicht bei Ihnen. Sie wissen, warum ich das fragen muss.“
Pause.
„Ja, ich weiß es. Aber ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben.“
„Wir werden darauf zurückkommen. Sie haben selbstverständlich Hausverbot.“
Selbstverständlich.

„Dein Meisterstück war das ja nicht gerade“, tönte eine wohlbekannte Stimme von der Küchentür her.
„Verschwinde.“
„Du musst ja nicht gleich sauer werden.“
„Ich bin aber sauer, ich habe jedes Recht dazu und jetzt verschwinde.“
„Du bekommst die Abschriften wieder, ganz bestimmt.“
Ich gab es auf und öffnete mir eine Flasche Wein. Wenn Wilhelm mit seinen Vor-hersagen anfing, war es am Besten, die Klappe zu halten und einfach abzuwarten.

In der Archiv-Verwaltung
Die Angestellte gab Ihre Daten an eine andere Stelle weiter, sobald Marion das Büro verlassen hatte. Dort überprüfte man diese Stammdaten zunächst auf ihre Richtigkeit, dann begannen sie, Marions Vergangenheit auf jede Einzelheit abzuklopfen. Diese Frau war ihnen noch nie geheuer gewesen. Wer wusste schon, was sich da auftat.
Nichts. Makellos. Beziehungsweise soviel, dass die Fachleute für diese Arbeit gar nicht wussten, was sie glauben sollten. Mal ganz abgesehen davon, wäre jede Erklärung falsch gewesen. Die Wahrheit lag an einer völlig anderen Stelle als gesucht wurde.
Zudem fanden die Untersuchungen ein jähes Ende, als die Angestellten eines Tages ins Büro kamen und feststellten, dass alles fort war. Sämtliche Dateien und Datenträger, alles, was es über Marion Gerber an Aufzeichnungen gegeben hatte – und die Kopien aus dem Archiv!

1791
Heycken versiegelte den Umschlag, machte einen knappen Eintrag in seinem Tage-buch und brachte den Brief zu Johann Tönnies.
„Dieser Brief kann uns den Kopf kosten“, warnte er. Tönnies nickte ungeduldig. „Herrgott, Thomas, ich bin doch kein Dummkopf!“
Sie verloren kein weiteres Wort mehr über die Angelegenheit.

Zwischen den Zeiten
Stille. Um mich herum graue Nebel, in die ich eingewoben war. Von überall und nirgends leuchtete ein Licht. Ich wusste nicht, wann die Stille angefangen hatte. Ich hatte keine Erinnerung an das, was vorher gewesen war. Als ich erwachte, schwebte ich. Ich wusste nicht, was passiert war oder wo ich mich befand. Nur diese Stille, die war überall.

Als ich das zweite Mal erwachte, war Wilhelm bei mir.
„Was ist denn passiert?“ murmelte ich. Ich versuchte mich zu erinnern, aber mein Kopf war leer. Mein Körper war taub, ich fühlte nichts mehr.
Wilhelm schüttelte den Kopf. „Nicht bewegen“, sagte er sanft. Er sah traurig aus. Ich kannte ihn so überhaupt nicht. Es war etwas passiert, das alles überstieg, was ich mir vorstellen konnte.
„Wilhelm“, flüsterte ich, „was ist denn passiert?“
Er sah noch trauriger aus. „Alicia, ich kann es dir nicht sagen.“
Hinter Wilhelm erschien eine verschwommene Gestalt. „Sag es ihr.“
Ich zuckte zusammen und spürte ein schwaches Ziehen in meinen Muskeln.
Die Gestalt lachte leise. „Versuch es nicht, Alicia. Du wirst mich nicht erkennen.“
Ich sank zurück. Der Gesichtslose hatte etwas an sich, das einem die Kraft raubte.
„In Ordnung“, sagte Wilhelm. „Irgendwann musst du es ohnehin erfahren.“
Inzwischen hatte er so sehr drum herum geredet, dass ich von selbst darauf kam.
„Ich bin tot. Stimmt’s?“
Er wandte sich ab. Das war für mich Antwort genug. Ich rang nach Luft, hatte das Gefühl zu fallen, unter mir nur Leere. Der Schock schüttelte mich durch, Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich war tot, und ich konnte mich an nichts erinnern. Ich fiel schneller, und dann spürte ich nichts mehr. Die Bewusstlosigkeit hatte mich wieder.
Was auch immer der Tod sein mochte, das hier war etwas anderes.

Zeitrat
„Na prachtvoll. Sie weiß jetzt, was mit ihr los ist, aber außer Gefecht gesetzt, ja?“ fragte der Gesichtslose.
Wilhelm wand sich, wahrte aber seine Fassung. „So ist es.“
„Dann sieh zu, wie du sie auf die Beine bekommst. Es wird höchste Zeit.“
Ein anderer ergriff das Wort. „Und zwar nicht nur grundsätzlich. Heycken hat Übles vor. Mit dem Brief ist etwas geschehen.“
„Was denn?“
„Wir wissen es nicht. Wir haben alles abgesucht. Er ist verschwunden.“

Es hatte lange gedauert, bis der Vorsitzende wieder Ordnung in die Versammlung gebracht hatte.
„Wilhelm, du musst jetzt vor allem Alicia wieder fit machen. Wir brauchen sie. Sie ist die einzige, die den Brief wiederfinden kann.“
Der Junge nickte grimmig. „Ich bin schon unterwegs.“

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