Fugu Music 1
von Sabine Herzke (melody)

 

Bestimmte Örtlichkeiten und Personen, die hier vorkommen, sind so nicht gemeint.

Im kalten hellen Licht auf der Tanzfläche sah der Tote brutal aus, sinnlos gestorben und ohne sichtbare äußere Einwirkung oder Verletzungen. Die Freundin stand unter Schock und saß, eine Decke um die Schultern, auf der Außentreppe in der kühlen Nacht und starrte stumm auf die vorbeifahrenden Autos.
Ein Polizist nahm ihre Personalien auf. Sie fragte tonlos, was mit ihrem Freund passiere.
Der Polizist zögerte, durfte keine Auskünfte geben. Er fühlte sich der Freundin des Toten gegenüber hilflos. Dann kam ein Leichenwagen angefahren. Das Mädchen sank auf den Stufen zusammen.
In der Ferne hörte man Martinshörner. In die Einsatzkräfte vor Ort kam neue Bewegung. Ein Notarzt rannte zu seinem Wagen und fuhr so schnell weg, dass die Reifen quietschten. Zwei Reporter, die schon vor Ort waren, griffen sich einen Polizisten und redeten auf ihn ein. Sie spürten, dass hier etwas nicht stimmte. Der Polizist blieb ihnen eine Antwort schuldig.

In einem Club am anderen Ende der Stadt bot sich ein Bild, das die Szene in der anderen Disco nur wie einen harmlosen Unfall aussehen ließ. Hier war kaum jemand unversehrt geblieben. Zwanzig Menschen waren tot.
Niemand hatte eine Erklärung dafür. Die Stadt stand unter Schock. Es stellte sich bald heraus, dass beide Clubs von derselben Cateringfirma an diesem Abend beliefert worden waren. Die Polizei schickte Proben ins Labor.
In den sozialen Netzwerken tauchten die ersten Fotos auf, Gerüchte machten die Runde. Jeder fragte bei seinen Bekannten nach, ob es ihnen gut ging. Für die Polizei war es ein Alptraum. Die Sanitäter kamen in beiden Häusern kaum durch die Menge. Die Menschen hatten sich zu statischen Massen zusammengezogen, drängten sich aneinander und bewegten sich nur noch in Zeitlupe, suchten Halt aneinander. In diese Statik kam auf einmal Unruhe hinein, die Polizei wurde nervös, bei den Sanitätern brach Hektik aus. Eine Nachrichtensperre war unmöglich. Bekannte, die Bekannte hatten, die an einem anderen Ort waren… es war auch in anderen Clubs, Discotheken und Kneipen passiert. Die Polizei hatte jetzt die zusätzliche Aufgabe, Gäste daran zu hindern, die Orte zu verlassen, um sich direkt zu vergewissern, dass es ihren Freunden gut ging.
Die Handynetze brachen zusammen. Das Internet wurde von immer neuen Nachrichten überschwemmt. Erst als die Lokale gegen Morgen schlossen, kamen keine neuen Meldungen mehr herein. Die Nachrichten waren voll davon.
Und es kam noch schlimmer.
Zuerst gab es die Laborberichte, die bescheinigten, dass keine Lebensmittel vergiftet waren. Sämtliche Orte waren nach Drogen durchsucht worden, aber außer den üblichen Produkten war nichts gefunden worden. Die Polizei hob in dieser Nacht achtzig Prozent der Drogenszene aus. Die Verletzten hatten keinerlei gefährliche Stoffe im Blut. Man behielt sie zur Beobachtung im Krankenhaus und bei allen besserte sich der Zustand über den nächsten Tag.
Die Polizei ermittelte in alle Richtungen. So hatten sie es an die Medien weitergegeben und sie glaubten auch nichts zu übersehen.
Dann gingen die ersten Notrufe am frühen Samstagabend ein. Seit dem ersten Todesfall waren 20 Stunden vergangen. Die Notrufzentralen vernetzten sich und legten eine Karte an, auf der sie die Notrufe eintrugen. Zunächst kamen sie nur aus der Stadt und dann gingen auch die ersten von außerhalb ein. Es verbreitete sich sprunghaft in alle Himmelsrichtungen und als die ersten Notfälle plötzlich einige 100 Kilometer entfernt auftraten, stuften sie den Alarm hoch.
Der Alarm wurde zur Panik, als es weltweit Menschen traf. Vollkommen zusammenhanglos, vor allem Teenager und junge Erwachsene, Sportler genauso wie Stubenhocker, ausgenommen waren nur alte Leute. Sie schienen vollkommen immun gegen die neue Seuche zu sein. Es war ein Sanitäter in Prag, der einen ersten Zusammenhang herstellte. Er winkte einen Kollegen heran, als der Teenager zum Krankenwagen getragen wurde.
„Schau dir das hier mal an.“
Der Kollege wandte sich nach einem flüchtigen Blick auf den PC-Bildschirm wieder ab.
„Ein Musikvideo. Und?“
„Es ist ein Live-Mitschnitt aus dem Club in Deutschland, der als erstes betroffen war.“
Der Kollege sah genauer hin. „Vielleicht sollten wir das melden.“
Bei der Polizei nahm man es als ernst zu nehmenden Hinweis auf und schickte die Sanitäter wieder weg. Aber dann war da der Nachtclubbesitzer, der ein Wochenende später auf ein unbestimmtes Gefühl hörte. Er ließ sich die Einnahmen entgehen und öffnete beide Abende nicht. Am nächsten Morgen ließ er eine Reinigungsfirma kommen, die den Müll beseitigte und die Wände und Türen von dagegen geworfenen Flüssigkeiten und Graffitis befreite. Wütende Feierfreudige hatten das verursacht und seine Webseite quoll in den nächsten Tagen von Kommentaren über. Er meldete es als Sachbeschädigung und machte die Sachbearbeiterin rund um seinen Ärger loszuwerden. Dann dankte er seiner Eingebung, den Club nicht geöffnet zu haben, als er zu Hause ins Internet ging und dort mit wachsendem Entsetzen las, was mittlerweile überall passierte, im Inland wie im Ausland. Die Krankenhäuser riefen den Notstand aus. Politiker schalteten sich ein. Die Polizeidirektionen schworen, diejenigen, die diese Anschläge, denn davon sprach man mittlerweile, zu verantworten hatten, würden ohne Pause gesucht werden, bis man sie zur Strecke gebracht hatte. Das Virus griff weiter um sich. Entsprechend der Zeitzonen kam es sechs Stunden später in den USA an und legte die Ostküste lahm. Dort reagierte man wie erwartet. Die Panik legte das Land quasi lahm und auch Kanada wurde angesteckt. Die USA erklärten den Angriff zur Bedrohung der nationalen Sicherheit.
In allen betroffenen Ländern wurde der Hinweis auf Live-Mitschnitte an alle Stationen gegeben. Nur veröffentlicht wurde diese Information nicht. Sie wollten einen Teil zurückbehalten um Hinweise besser einsortieren zu können. Man wusste noch zu wenig, um das Risiko einer Veröffentlichung einzugehen.
In den Labors setzten sich Spezialisten an die Computer und werteten die Mitschnitte aus, andere besuchten in Zivil Discotheken.
Dadurch wurde eine neue Stufe ausgelöst. Der erste Polizist brach in Heidelberg zusammen. Der zweite als Zivilist in einer Discothek in einem Nest an der französischen Grenze. In Frankfurt schlug ein sehr wütender Kommissar in der Morgenkonferenz mit der Faust auf den Tisch.
„Es ging von Deutschland aus und wir haben die verdammten Leute immer noch nicht gefasst, die das verursacht haben! Ich will Einsatz. Ich will, dass Sie auch unkonventionelle Ideen verfolgen. Alles, was wir mit herkömmlichen Mitteln überprüft haben, ist bisher fehlgeschlagen. Also, machen Sie sich an die Arbeit!“
Zeitgleich schaute sich ein Kriminaltechniker in Dresden einen Mitschnitt des ersten Abends an.
„Ich verstehe jetzt nicht, was daran aufschlussreich sein sollte“, sagte er zu seinem Kollegen. „Bringst du mir auch einen Kaffee mit?“
Sein Kollege verließ den Raum. Der Techniker ließ das Video weiter durchlaufen. Es begann mit Schwenks durch die Discothek, Jugendliche, die sich vor der Kamera produzierten, Freunde vom Jungen hinter dem Handy, dann wieder ein Schwenk…
Der Techniker rang nach Atem. Er griff sich an die Brust.
„Hilfe! Ich brauche sofort…“ Er röchelte, starrte weiter auf den Bildschirm, wand sich in Krämpfen, dann entspannte er sich, aber die Krämpfe setzten sich in seinem Körper fort. Zuletzt setzte seine Atmung aus und er sank in seinem Bürosessel zusammen.
„Frank, dein Kaffee… Frank? Oh Scheiße!“ Der Kollege ließ die Becher fallen, stürzte zu Frank, suchte nach Lebenszeichen, setzte einen Notruf ab.
Sie kamen innerhalb von einer Minute, versuchten Frank wiederzubeleben und brachten ihn auf schnellstem Weg ins Krankenhaus. Der Techniker fiel auf der Fahrt ins Koma. Seine Frau kam gerade noch rechtzeitig um in seinen letzten Minuten da zu sein, dann versagte sein Herz endgültig.

„Jetzt sterben auch noch Polizisten! Wo soll das enden?“ titelten Boulevardzeitungen.
Den toten Kriminaltechniker konnten sie noch geheim halten, aber nicht die fünf Männer, die in Zivil der Seuche zum Opfer fielen, zeitgleich mit weiteren jungen Erwachsenen, die als Gäste am gleichen Ort waren.
„Ich muss mit Ihnen reden! Hören Sie mir zu!“
„Mädchen, wir haben jetzt keine Zeit, geh aus dem Weg und mach Platz.“ Der Polizist, der den Club absperrte, schob sie beiseite.
„Aber ich weiß was! Mir ist was aufgefallen!“
„Komm“, sagte ihre beste Freundin, legte ihr einen Arm um die Schulter und führte sie weg. Sie versuchte sich zu wehren, schrie es immer wieder heraus.
Das Mädchen fuhr am nächsten Morgen zur Polizei. Sie winkte dem Kommissar zu, als er zufällig den Raum betrat.
„Ich weiß was zu dieser Discogeschichte, aber Ihr Kollege hier nimmt mich nicht für voll!“
„Kommen Sie her. Was ist los, was wissen Sie? Waren Sie dabei?“
„Ja! Und ich habe schon Mitschnitte auf Youtube gesehen und das, was da gestern abgegangen ist, war genau das gleiche wie die letzten Male auch!“
„Lassen Sie sie durch. Ich will hören, was ihr aufgefallen ist.“ Die autoritäre Stimme des Kommissars wirkte.
Das Mädchen warf ihr Haar zurück, schaute den Polizisten hinterm Tresen wütend an und folgte dem Kommissar. Sie zogen sich in einen ruhigen Raum zurück. Das Mädchen sah nervös aus. Sie gab ihre Personalien an.
„Was mir aufgefallen ist… Das war jetzt das dritte Mal, dass ich dabei war. Mir is‘ nie was passiert und um mich rum sind Leute gestorben…“ Sie kämpfte mit den Tränen. „Und immer beim gleichen Song.“ Sie atmete tief durch und sah den Kommissar an.
„Verstehen Sie? Ich weiß, das klingt total abgedreht. Als hätte die Musik die Leute umgebracht.“
Der Kommissar dankte ihr und schickte sie nach Hause. Dann gab er den Hinweis weiter, mit einem Eilvermerk, ihn an Interpol weiterzuleiten.
Das Musikstück kam ins Labor. In Großbritannien waren kurz zuvor zwei junge Männer verstorben. Eine Autopsie wurde angeordnet. Man fand nichts außer Spuren von Alkohol.
Der Zusammenhang fiel irgendwann auch anderen auf. Zum Nervenkitzel kam jetzt noch die Jagd nach der Ursache. Hob-bydetektive waren unterwegs, Amateurmusiker, jeder wollte das Rätsel als erster lösen. Alle Betreiber von Lokalen und Discotheken wurden angewiesen, das Stück aus dem Programm zu nehmen. Sie reichten Verfügungen bei allen Internetanbietern ein, die sofort Widerspruch dagegen einlegten. Sie weigerten sich das Stück zu sperren. Man kannte bald kein anderes Thema mehr. Der Versuch das Stück aus den Medien zu verbannen, bewirkte das Gegenteil. Der Hype wurde noch mehr angeheizt. Sie spielten Russisch Roulette und genossen es. Eine Zeitung prägte den Begriff „Disco Fugu“, nach dem Fisch, der bei falscher Zubereitung tödlich war.
Für die Behörden war es ein Alptraum. Sie appellierten an den Verursache sich zu stellen. Es meldete sich niemand. statt-dessen tauchte ein paar Tage später ein neues Musikstück auf.
Wieder achtete keiner darauf, von wem es kam, es wurde wieder zuerst in den Clubs gespielt.
„Disco wird zum Darkroom!“ schrien die Zeitungen am folgenden Tag mit entsprechenden Fotos.
„Ich will, dass die Kerle gefunden werden, das kann unmöglich ein einziger gewesen sein!“ brüllte der Frankfurter Polizeipräsident und warf die Zeitung auf den Konferenztisch.
„Sex auf der Tanzfläche – Discotheken treiben’s bunt.“
Vielen waren noch einen Schritt weiter. Schutz von Minderjährigen bekam auf einmal eine ganz neue Bedeutung. Die Musik-stücke wurden zerlegt und komplett analysiert. Man versuchte sie weiterhin aus der Öffentlichkeit zu entfernen, aber schwarz wurden sie weiter gehandelt.

„Wir müssen aufhören“, sagte der Mann zu seinem Freund. „Es ist aus dem Ruder gelaufen.“
„Übertreib nicht, es ist perfekt! Warum sollten wir es gerade jetzt stoppen?“
„Weil es nicht mehr unter Kontrolle ist! Sie versuchen die Ursachen herauszufinden, sie werden uns finden. Und ich wollte nie ernsthaft jemanden verletzen und jetzt sind Leute tot!“ Die letzten Worte hatte er gebrüllt, jetzt fuhr er sich durch die Haare und ließ sich auf einen Stuhl fallen, vergrub das Gesicht in den Händen.
„Jetzt stell dich nicht so an.“ Sein Freund war da wesentlich ruhiger. „Noch zwei Versuche, okay?“
Stille.
Irgendwann nickte der andere. noch zwei und sie hätten ausgesorgt – oder saßen im Knast.

Bis endlich jemand auf die Idee kam die Stücke in Noten zu übersetzen, vergingen fast vier Wochen. Dann ging bei der Frankfurter Polizei ein weiterer Hinweis aus der Bevölkerung ein.
„Ein Chemiker?“
„Er sagte, eigentlich gehört es in die Biologie, aber er hatte Biologie als Nebenfach.“
Erst testete er die Stücke auf chemische Bausteine in den Notenschriften, aber das passte nicht. Daraufhin legte er die Noten, die er aus dem Internet gezogen hat, offen auf den Tisch und wartete auf einen Geistesblitz. Als der kam, rief er umgehend bei der Polizei an und die ließen den Hinweis von eigenen Biologen überprüfen. Es herrschte höchste Geheimhaltung. Was die Fachleute da herausfanden, und das erst auf diesen externen Hinweis hin, war eine Bombe.

„DNA? Sind Sie sicher?“

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