Fugu Music 3
von Sabine Herzke (melody)

 

Sie tobten bei der Polizei, als sie am nächsten Morgen die Artikel lasen. Die Pressekonferenz hatte sogar bei einigen Zeitungen andere wichtige Themen vom Titel verdrängt.
„Warum hat das keiner verhindert? Nehmen Sie diese Kerle an die Kandare, verhaften Sie sie, sorgen Sie dafür, dass das nicht noch einmal passiert!“
Die beiden Männer hatten die Nacht durchgearbeitet. Ihnen war klar, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, bis die Sache hochging. Kersten war nach Hause gefahren und kam gerade aus der Dusche, als das Telefon klingelte.
„Ich bekam gerade einen Anruf von Kommissar Lachner. Sie haben den Bogen überspannt. Sie sind jetzt mit einem Haftbefehl zu Ihnen unterwegs. Packen Sie was ein, ich erwarte Sie im Untersuchungsgefängnis.“
Verdammtes Vertrauen, das sein Anwalt ihm da entgegenbrachte. Kersten überlegte für einen Moment, eine Tasche zu packen und sich dann abzusetzen so schnell er konnte. Noch war er nicht zur Fahndung ausgeschrieben. Dann verwarf er die Idee wieder. Als sie ihn wenige Minuten später holten, ging er ruhig mit.
Meyers Anwalt gebrauchte wesentlich stärkere Worte, als er Meyer anrief.
„Ich habe versucht Kommissar Lachner aufzuhalten, aber dieses Mal hole ich Sie da nicht heraus. Ich habe Sie vorgewarnt und Sie haben den Bogen überspannt!“
„Das ist schon in Ordnung so“, erwiderte Meyer ruhig. „Wir sehen uns dort.“
Die Anwälte konnten für ihre Mandanten in dem Moment nichts mehr tun. Sie standen vor einem Rätsel, was passiert war und warum die beiden Männer sich so verhielten.
Meyer und Kersten sahen sich nicht. Sie brauchten jetzt keine Kommunikation. Die Vorbereitung des Prozesses war Sache ihrer Anwälte und alles andere war ein Selbstläufer.
Während die Anklage vorbereitet wurde, wurden in Regensburg die Festspiele vorbereitet, Terminpläne wurden verfeinert, der Kartenverkauf lief bereits seit Wochen. Die Proben waren in vollem Gang, die Schauspieler gewöhnten sich an neue Regisseure und neue Auslegungen der einzelnen Opern. Ausgerechnet beim Ring des Nibelungen lief es nicht gut. Man ließ niemanden bei den Proben zu, schon nach wenigen Stunden wurden die Türen geschlossen. Sie verkauften es als Strategie. Versuchten hinter den Türen das Stück in den Griff zu bekommen. Sie überlegten dreimal die neue Partitur auszusortieren, das Konzept umgestoßen und eine frühere Inszenierung nach der klassischen Partitur und alten Regieanweisungen auf die Bühne zu bringen. Sie verzichteten darauf. Man brauchte Erfolge und vor allem brauchte man etwas, womit man im Gespräch blieb. Seit die Frage der Festspielleitung geklärt war, waren Themen umso wichtiger.

Der Beginn des Prozesses fiel in die Woche vor Regensburg. Das Medieninteresse war enorm.
Sie hatten soweit aus den Reinfällen der letzten großen Prozesse gelernt, dass sie von Anfang an einen großen Saal zur Verfügung stellten.
Dann wurde trotzdem alles auf den Kopf gestellt. Als herauskam, dass die beiden Männer später vom Staat beschäftigt werden sollten, ging ein Aufschrei durch das Land.
Kersten und Meyer blieben entspannt und machten ihre Aussagen und ließen scheinbar keine Fragen offen. Die Medien gruben tiefer, suchten nach Haken, nahmen sich beide Männer noch einmal vor und die gingen auf das Spiel ein.
„Die werden sich noch wundern“, sagte Meyer.
Sie saßen in einem ruhigen Teil des Flurs im Landgericht, bewacht von Justizbeamten.
„Sie glauben, sie wissen alles.“
„Ich freue mich drauf – und die Folgen kann ich einstecken. Kannst du es?“
Meyer schwieg einen Moment. Kersten wunderte sich. Dann sagte er doch noch etwas.
„Wir stecken fest. Wir wollten es so, da kann jetzt keiner mehr raus. Jetzt ist nicht mehr die Frage, ob ich es kann.“
Als ein Freund auf sie zukam, hielten die Justizbeamten ihn auf.
Kersten sah ihn warnend an. Zum Glück verstand Janssen den Wink.
„Ich wollte euch nur sagen, hat doch geklappt mit den Karten. Martina und ich fahren zu den Festspielen.“
„Schön für euch“, sagte Meyer höflich. „Wir können nicht, das siehst du ja.“
„Schluss jetzt.“
Die beiden Justizbeamten schoben sich zwischen sie, drängten Janssen weg. In dem Moment wurden sie zurück in die Verhandlung gerufen.

In Regensburg konnten sie es vor gewissen wichtigen Leuten irgendwann nicht mehr geheim halten.
„Kann das das Werk von diesen beiden Wahnsinnigen sein?“
„Wir müssen das anzeigen.“
„Das können wir jetzt nicht mehr.“
Sie schauten den Direktor fragend an.
„Es ist zu kurz vor dem Eröffnungstermin. Wir haben keine andere Option mehr. Wir haben uns selbst dazu verpflichtet, jedes Jahr eine neue, solide, frische Inszenierung zu bringen.“
Sie verstanden. Es war unmöglich, jetzt noch einen anderen Ring einzustudieren.
„Wir treten die Flucht nach vorn an“, sagte der Direktor.
Man sah ihm an, dass ihm diese Entscheidung nicht leicht gefallen war.
„Sagen Sie sofort den Brüdern Bescheid. Diese Sache müssen sie wissen.“
Bertram ging nicht in die Luft. Er wurde eiskalt im Tonfall.
„Warum hat keiner die Noten überprüft, bevor sie verwendet wurden?“
Thomas hingegen bekam den Wutanfall, den alle gefürchtet hatten.
„Also jetzt ist die Situation aber eingetreten. Die Auswirkungen haben Sie hoffentlich im Griff.“ Er lief rot an, alle wichen zurück, hofften, der Chef würde nicht in die Luft gehen.
„Wenn das hier schiefgeht, sind Sie alle dran, Sie alle zusammen! Ich dulde keine solche Schlamperei in meinem Hause!“ Da war er, der Ausbruch.
„Die Auswirkungen sind nicht gravierend“, wagte der Dirigent sich vor. „Das kann man den Zuschauern zumuten.“
„Wir erstatten trotzdem Anzeige. Sollen sich doch die beiden Herren und ihre Anwälte damit auseinandersetzen.“

„Es wurde ein weiterer Anklagepunkt zugelassen.“
„Das kann nicht sein!“ rief Meyer. „Das ist gegen jede Verfahrensregel!“
„Um was handelt es sich?“ fragte Kersten viel ruhiger.
„Sie sollen eine geänderte Ausgabe vom Ring der Nibelungen nach Regensburg geschickt haben. Die Herren merkten erst in der Probe, was ihnen untergeschoben wurde und jetzt ist es zu spät um daran etwas zu ändern.“
Die Anwälte sahen ihre Mandanten durchdringend an. „Wir müssen wissen, was da los ist, ob Sie beide damit etwas zu tun haben“, sagte Hoffmann.
Meyer und Kersten wechselten einen Blick und schwiegen.

„Wir erweitern die Anklagepunkte um einen weiteren.“
Sofort herrschte Ruhe im Saal.
„Den Angeklagten wird weiterhin zur Last gelegt, eine manipulierte Version vom Ring des Nibelungen nach Regensburg geschickt zu haben in der Absicht die Festspiele in ihrem Sinne zu beeinflussen…“
Alle Blicke richteten sich auf die Anklagebank. Kersten und Meyer blieben reglos, erwiderten die Blicke nicht. Als sie die Gelegenheit zur Aussage bekamen, legten sie los.
Ja, sie hatten eine solche Version samt Regieanweisungen hingeschickt. Sie hatten nicht die Absicht jemandem zu schaden. Der Protest, der daraufhin losbrach, übertönte Meyer, der seine Aussage abbrach und hilfesuchend zum Richter schaute.
„Ich unterbreche hiermit die Sitzung. Beruhigen Sie sich! Bringen Sie Ruhe in diesen Saal! Jeder, der die weiteren Ausführungen der Angeklagten stört, wird umgehend des Saales verwiesen!“
Das wirkte.
„Was haben Sie in den Ring hineingeschrieben?“
Kersten stand auf.
„Die Freude“, sagte er.

Am Ende mussten sich beide Männer einem psychologischen Gutachter stellen, der sie als hochintelligent und im Übrigen gesund einstufte. Meyers absolute Kälte spürte der Mann nicht einmal.
Die Urteilsverkündung wurde trotzdem verschoben. Die Richter wollten Regensburg abwarten.
Sie brachten Kersten und Meyer nicht sofort nach draußen.
„Es ist zu gefährlich, Sie jetzt schon zum Wagen zu bringen.“
Die beiden sahen aus dem Fenster, überprüften selbst die Lage.
„Dann sperren Sie uns hier ein. Mir egal, wann ich zurückgehe“, sagte Meyer müde und auch Kersten sah erschöpft aus. Die ganze Sache zehrte von ihren Kräften.
Ein unerkannt in der Nähe hinter einer Säule stehender Reporter machte unauffällig Fotos und schrieb mit, was er sah. Und vor dem Gericht vermehrte sich eine gewaltbereite Menge.
Richter, Anwälte, Angeklagte waren sich einig, dass die Sache so schnell wie möglich erledigt werden musste.

Der Reporter fuhr danach sofort in die Redaktion. Die Fotos und der Artikel dazu schlugen am nächsten Tag voll ein.
„Sie sind die meist gehassten Männer im Land.“
„Das ist uns auch klar“, sagte Meyer leicht verschnupft. „Aber stellen Sie sich vor, wie die Leute nach uns rufen werden, wenn unsere Entdeckung in der Medizin eingesetzt wird und sie die positiven Seiten zu spüren bekommen.“
Hoffmann gab darauf keine Antwort. Und auch Kersten schwieg, wurde blasser. Meyer bemerkte es nicht.

Der Ring wurde in diesem Jahr mit einem „Erlebnis der besonderen Art“ beworben. Die Stammgäste nahmen ihre Karten. Nur wenige verzichteten darauf, kaum 5 Prozent traten davon zurück. Insgesamt gab es allerdings für den Ring einen Einbruch von 20 Prozent. Die Festspielleitung betrachtete das mit Sorge und schickte eine Mitteilung nach Frankfurt.

„Da kommen Schadenersatzansprüche auf Sie zu, die alle anderen übertreffen. Sie werden Ihr Leben lang dafür zahlen.“
„Damit haben wir sowieso gerechnet“, sagte Kersten resigniert. Man merkte ihm an, dass er in der letzten Zeit nicht gut geschlafen hatte.
„Ich bin sicher, die werden nicht so hoch“, merkte Meyer an. „Wenn die ersten Zuschauer erzählen, was sie erlebt haben, werden denen die Türen eingerannt.“
„Aber sie werden auf die Forderungen nicht verzichten. Auf keinen Fall.“

Wer später in Regensburg dabei gewesen war, sprach von einer Erleuchtung, von etwas nie da gewesenem. In den Feuilletons überschlugen sich die Kritiker, jeder versuchte eine bessere Formulierung als die anderen zu finden, für etwas, das unbeschreiblich war. Janssen fuhr zum Gefängnis und versuchte Meyer oder Kersten zu sprechen. Als klar war, dass er offenbar nur ein Freund war, ließen sie Kersten zu ihm. Der Freund sah erschöpft aus, hatte abgenommen, aber er lächelte. Gaben sich unter den wachsamen Blicken des Personals die Hand.
„Mir geht’s gut“, sagte Kersten.
„Du siehst nicht so aus.“
Kersten sah Janssen warnend an, nicht zu viel zu sagen. Der andere nickte kurz.
„Wir waren in Regensburg. Das hättet ihr sehen sollen. Oder vielmehr erleben.“ Sein Gesicht leuchtete, er unterdrückte die Gefühle, die jetzt nachträglich noch hochkamen, nur mühsam. Sehr klug von ihm, so zu tun, als wüsste er nichts von Kerstens Verwicklungen in die Sache, dachte der Gefangene.
„So ein Gefühl, verdammt, das war besser als Sex, besser als jeder schnelle Wagen.“
Janssen wusste, wovon er sprach. Kersten lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Also war es gut?“
„Besser. Wenn ich könnte, würde ich sofort wieder hinfahren. Und Martina auch.“
Erleichterung erfasste Kersten, so stark, dass er sich die Stirn rieb, lächelte und stärkere Reaktionen zurückhalten musste. Er atmete tief aus. „Danke.“
Janssen war das nicht entgangen. „Lass den Kopf nicht hängen, ihr schafft das schon, okay?“
„Lass gut sein. Du solltest jetzt gehen.“
Schroffe Worte, die aber von einem Lächeln und einem flüchtigen Zwinkern begleitet wurden. Janssen entspannte sich.

Kersten bekam vor dem nächsten Prozesstermin keine Gelegenheit mehr mit Meyer zu sprechen. Die beiden wurden voneinander vorläufig ferngehalten und sahen sich erst vor Gericht wieder. Vielleicht war es ganz gut gewesen, dass Meyer bei dem Treffen mit Janssen nicht dabei gewesen war, dachte Kersten.
Er beobachtete, wie sein Freund eiskalt, aber charmant seine Aussage in der Verhandlung machte, eine unwahrscheinliche Ruhe ausstrahlte und fragte sich, ob er schon immer so gewesen war, gefühllos und berechnend. Offenbar ja, als er jetzt Meyer beobachtete, wie der die Mitteilung aufnahm, wie die Aufführung in Regensburg verlaufen war.
Meyer sah zufrieden mit sich selbst aus, aber das war alles. Bei Kersten veränderte sich in diesem Moment alles. Er schaute das erste Mal zur Bank der Nebenkläger und Opferanwälte, hob den Kopf, suchte Blickkontakt.
Sie sahen ihn an, manche hasserfüllt andere voller Schmerz und alle registrierten die Veränderung bei Kersten. Es entging auch nicht dem Staatsanwalt und dem Richter. Kersten und Meyer wurden gebeten auszusagen.
„Sehen Sie, es ist alles gut ausgegangen, wir hatten keinerlei Absicht, noch jemandem zu schaden!“ in seiner Stimme klang Triumph mit, Meyer war sich seiner Sache absolut sicher und Kersten wurde schlecht.
„Ich entschuldige mich“, sagte er und schaute dabei die Zeugen und Nebenkläger offen an, „für alles, was wir Ihnen angetan haben und“, jetzt wanderte sein Blick kurz zu Meyer, „ich entschuldige mich für Dr. Meyer. So wie er es darstellt, haben wir es nie geplant und ich unterstütze seine Ansichten über dieses Projekt der Vermischung von Musik und DNA in keiner Weise!“
Wer dachte, der Prozess sei fast vorbei und man wisse alles über die Angeklagten, musste seine Meinung in diesem Augenblick ändern. Sie hörten Kersten zu und im Gegensatz zu der dramatischen Aussage von Meyer glaubten sie ihm allmählich. Meyer begann auch die Sympathie der letzten zu verlieren, die noch auf seiner Seite gestanden hatten, die sich von ihm hatten blenden lassen. Die ersten Hasstiraden waren zu hören.
„Lebenslang ist noch zu gut für den“, sagte eine Frau mit Kinderwagen, als ein Reporter sie vor dem Gerichtsgebäude befragte.
Mit der Meinung war sie nicht allein. Kersten dagegen wurde immer noch nicht geliebt, denn niemand vergaß, dass er nur die andere Hälfte dieses kriminellen Paares war. Trotzdem hielt man sich bei ihm zurück. Er hatte auf überhebliche Auftritte verzichtet und gab eher die stille Gefahr im Hintergrund und das merkte man sich.
Dazu kamen die vielen Neider, denn trotz allem, was sie getan hatten, blieb da immer noch der Riesenerfolg, den sie mit ihrem umgeschriebenen „Ring“ hatten.
Kein Geld, aber Ruhm, der Satz wurde jetzt wahr. Inzwischen wusste jeder, wer die Fassung geschrieben hatte und alle wollten auf einmal hin. Regensburg blamierte sich regelrecht mit seiner Klage gegen die Verfasser. Sie konnten sich nicht über leere Stuhlreihen beklagen, mussten für die Oper sogar noch weitere Aufführungstermine ansetzen. Jeder wollte das erleben, wovon alle so schwärmten. Dieses Mal war es keine Wirkung, die nur wenige traf. Die Abende oder Nachmittage waren kollektive Erlebnisse des puren Glücks. Sänger und Orchestermitglieder mussten mit Beruhigungsmitteln behandelt werden, damit sie überhaupt weiter arbeiten konnten.

„Sie haben die Schadenersatzforderungen auf ein Minimum pro forma reduziert, aber die Klage gegen Sie beide bleibt weiter bestehen.“
„Die haben wir nun wirklich nicht verdient.“ Meyer lief rot an vor Wut. „Wir haben ihnen Einnahmen verschafft, den Sommer ihrer Geschichte, und die wollen uns trotzdem noch weiter mit einer Klage belästigen?“
„Lass es gut sein“, sagte Kersten.
Meyer fuhr zu ihm herum. „Was ist mit dir passiert? Kriegst du etwa ein schlechtes Gewissen? Willst du am Ende auch noch das Urteil annehmen?“
„Was dagegen? Glaubst du, die lassen uns für sie arbeiten, wenn wir nicht kooperieren?“
Meyer verschloss sich, seine Miene wurde starr. Kersten begriff, dass er jetzt nicht mehr zu ihm durchdrang.
„Meine Herren, hören Sie auf damit!“ Die Anwälte gingen dazwischen.
„Dr. Meyer, was ist mit Ihnen los? Das hier ist die Chance, einigermaßen heil aus der Sache rauszukommen, ist Ihnen das klar? Eine weitere wird es nicht geben!“
„Wir haben hier etwas geleistet; ich habe mich nur auf den Prozess eingelassen um zu zeigen, dass wir im Recht sind! Sie wollten doch sogar mit uns zusammenarbeiten!“
„Damit wird das wohl nichts mehr, Peter“, sagte Kersten leise.
„Du hast keine Ahnung davon!“ schrie Meyer. „Was ist mit dir passiert? Wir hatten doch so große Pläne!“
„Und mir ist klar geworden, dass diese Pläne auf Kosten anderer gehen und in diesem Ausmaß kann ich das nicht mittragen“, erwiderte Kersten.
Ihre Anwälte hörten fassungslos zu. Jetzt hatten sie zwei Seiten und das kurz vor den Schlussplädoyers und am Schlimmsten war, sie hatten keine Ahnung, wer diese beiden Personen da vor ihnen eigentlich waren.
Hoffmann und Reiter waren sich einig, sie wechselten nur einen Blick und gingen dann zu den beiden Justizbeamten, die vor dem Raum Wache standen.
„Wir müssen umgehend mit dem Richter und dem Staatsanwalt sprechen. Bleiben Sie hier!“
Die Beamten trauten der Sache nicht. Kersten ließ sich ergeben Handschellen anlegen, während Meyer lautstark dagegen Protest einlegte, der die Wachleute nicht im Geringsten beeindruckte.

„Das wäre ungeheuerlich“, sagte der Staatsanwalt. „Warum hat keiner etwas gemerkt?“
„Weil er so gut ist, dass er jeden täuscht. Nicht einmal Herr Kersten scheint etwas gemerkt zu haben.“
„Der Gutachter auch nicht. Er ist so eiskalt, dass er Gefühle vorspielen kann und sich alles merkt, was er in bestimmten Situationen gesagt hat. Er irrt sich nie.“
„Also ist er hochgefährlich für die Allgemeinheit. Herr Kersten muss eine Art Bremse gewesen sein, sonst hätten wir noch viel mehr Tote zu beklagen.“
„Kümmern Sie sich darum. Schicken Sie Dr. Wille noch einmal zu ihm“, fuhr der Richter den Staatsanwalt an.
„Wozu sollte noch ein Gespräch mit dem Psychologen gut sein?“
Der Staatsanwalt sah Hoffmann grimmig an.
„Sie verteidigen ihn noch? Was für ein Mensch sind Sie nur?“
„Ich bin sein Verteidiger“, sagte Hoffmann scharf, „falls Sie das vergessen haben sollten.“
„Und Sie stehen vollkommen zweifelsfrei hinter seinen Taten?“
„Meine Herren, bitte…“
Sie ließen wieder voneinander ab.
„Gut, dann schicken Sie ihn so schnell wie möglich noch einmal zu Dr. Wille. Uns läuft die Zeit davon. Die Bürger wollen endlich ein Urteil sehen.“
Hoffmann sah aus, als würde er bald platzen. Er atmete aus, presste die Lippen zusammen und beschrieb das Formblatt, das ihm der Richter hinschob.
„Warum sieht hier keiner, dass es Kersten ist, der aus dem Raster fällt?“
Als er den Raum verlassen hatte, räusperte sich der Staatsanwalt.
„Ich schlage vor, die Verfahren zu trennen. Mir gefällt es nicht, aber Herr Kersten scheint der Vernünftigere von beiden zu sein.“
Genau das taten sie. Die nächste Verhandlung wurde mit dem Beschluss zur Splittung unterbrochen.
„Das können Sie nicht machen!“ schrie Meyer. Er verlor völlig die Fassung, hatte Farbe verloren. „Ich lege dagegen sofort Widerspruch ein!“
Hoffmann legte ihm mit resigniertem Gesichtsausdruck die Hand auf den Arm.
Die Reporter stürzten sich auf den Staatsanwalt genauso wie auf die Opfer und die Anwälte der Angeklagten.
Die Opfer vermuteten natürlich, dass das Verfahren verschleppt werden sollte.
Kersten wich Meyers Blicken aus, als sie nebeneinander zum Transporter gingen und ignorierte ihn auch auf der Rückfahrt. Im Gefängnis flüchtete er regelrecht in seine Zelle. Reiter kam am nächsten Tag zu ihm.
„Dr. Meyer ist am Kochen. Er tobt. Herr Hoffmann hat sich komplett verspekuliert.“
„Höre ich da Schadenfreude bei Ihnen heraus?“
„Freuen Sie sich nicht zu früh.“

Ein paar Tage herrschte Stille in Bezug auf den Prozess. Die Stücke, die nicht lebensgefährlich waren, wurden wieder überall im Netz verbreitet. Radiosender handelten sich Ärger ein, weil sie die Songs in der Rushhour spielten und Unfälle provozierten.
Meyer bekam eine Nachrichtensperre, nicht einmal Hoffmann durfte ihm noch irgendetwas mitteilen. Meyer weigerte sich, Kontakt zu anderen Häftlingen aufzunehmen, die Angebote zu nutzen. Kersten beobachtete die Rangordnung, hielt sich viel im Kraftraum auf, ließ sich ansprechen und abchecken. Reiter sprach mit ihm, erzählte davon, was die Stücke draußen anrichteten, dass sie oben in den Charts standen. Ein Produzent hatte sich bereiterklärt ein Album daraus zu machen und den Gewinn zu teilen.
„Ich fass es nicht.“ – Der Satz fiel bei beiden, Kersten ungläubig, Meyer brüllte ihn mit hochrotem Kopf.
„Ich verklag den Mistkerl!“
Kersten blieb gelassener. „Was ist mit der Kohle? Wie viel kriegen wir denn nun eigentlich?“
„Ihr Anteil fließt ohnehin direkt in die Schadenersatzleistungen.“
„Das können Sie nicht machen!“ Jetzt war es auch mit Kerstens Geduld am Ende. „Wir haben da was geleistet…“
„Und damit unzähligen Menschen Schaden zugefügt!“
Kersten schwieg. Reiter hatte in den letzten Tagen einen neuen Zugang zu ihm gefunden, aber jetzt biss er auf Granit. Kersten war noch immer meistens misstrauisch und unzugänglich, aber immerhin sprach er mit Reiter und kooperierte mit ihm. Es dauerte auch nicht mehr lang, bis er Kersten soweit hatte. Nach Rücksprache mit den anderen schickte er gemeinsam mit Hoffmann ein Anwaltsschreiben an den Produzenten.
Kersten nahm in diesen Tagen ab, schlief noch schlechter, versuchte Meyer, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen. Sie hatten sich im Gefängnis mittlerweile einen gewissen Ruf erworben. Beide zogen Ärger an, doch Meyer war davon noch ganz anders betroffen als Kersten. Von dem ging in diesen Tagen eine kalte stille Bedrohung aus, die den anderen Respekt einflößte. Meyer mit seinen unkontrollierten Wutausbrüchen wurde nicht halb so ernst genommen. Da galt, man konnte zurückschlagen und die Sache hatte sich erledigt.
Bei Kersten kamen sie in den nächsten Tagen nach und nach an und klärten die Rangordnung.
„Du hast einen guten Stand hier“, sagte einer von ihnen schließlich. „Dein Kollege da wird noch echt Ärger bekommen. Ihr seid Stars geworden, aber der macht es nicht lang, wenn er so wahnsinnig bleibt.“
Kersten hörte ihm zu und beobachtete Meyer, der auf der anderen Seite des Raums von drei Männern in die Ecke gedrängt wurde. Er wandte sich ab.
„Ich habe mit dem nichts mehr zu tun“, sagte er.
Und gewann Respekt dazu. Irgendjemand hatte die Stücke ins Gefängnis schmuggeln können und bald liefen die ungefährlichen auf allen Abteilungen und der Ring wurde als Ereignis für alle Insassen auf den Plan gesetzt. Die Gefängnisleitung gab offiziell nicht zu, dass sie die Wirkung der Oper als Mittel einsetzte, um das Gewaltpotential zu senken. Sie hätte auch keine Chance dagegen gehabt, diese Stücke waren wie die allgegenwärtigen Drogen, die offiziell nicht existierten.
Kersten taten diese Tage gut. Er setzte sich mit den Stücken noch einmal auseinander, ließ sie an sich heran. Als Wochen später der Prozess weiterging, übertrieben sie in den Zeitungen.
„Kersten: Vom Monster zum Heiligen! – Aus Saulus wird Paulus – Angeklagter zeigt Reue.“
Als er am Ende dieses Gerichtstages aufstand und noch ein paar Worte mit Reiter wechselte, schaute diese Frau zu ihm herüber. Er kannte sie vom Sehen. Sie hatte als Zeugin ausgesagt, ihre Freundin war in einer Disco gestorben, sie selber hatte unerträgliche Kopfschmerzen bekommen. Ihren Namen wusste sie nicht mehr, es hatten so viele Leute ausgesagt. Er stutzte, schaute genauer hin. Sie machte drei Schritte auf ihn zu, dann drehte sie sich um und rannte fast aus dem Gerichtssaal.
„Was war das denn?“ Reiter zuckte nur mit den Schultern. Er wusste es auch nicht.

Einen Tag später stand Meyer vor Gericht. Es war kaum noch möglich, diesen Prozess unparteiisch zu führen. Meyer schritt siegesgewiss in den Saal, er lehnte den Schutz für sein Gesicht ab, ignorierte die Bank der Nebenkläger, wandte sich den Pressevertretern zu und präsentierte sich ihnen. Hoffmann wurde es zu viel. Er schob Meyer zu seinem Platz, hängte ihm dessen Mantel über den Kopf und zischte ihm zu, wenn ihm seine Ehre und Freiheit lieb seien, sollte er unten bleiben.
Dr. Meyer erstarrte bei dieser rüden Behandlung, aber er gehorchte. Überlegte sich, dass er später im Prozess noch Vorteile für sich herausschlagen konnte, wenn er jetzt kooperierte.
Und dann ging alles schief, was aus seiner Sicht schief gehen konnte. Dr. Meyer ließ das Procedere mit unbewegtem Gesicht über sich ergehen, gab die Auskünfte, die von ihm verlangt wurden und Hoffmann entspannte sich schon wieder. Dann wurde die Anklage verlesen und Dr. Meyer wurde unruhig. Hoffmann behielt ihn im Auge. Der Mann brachte es fertig und sprengte durch sein Verhalten die ganze mühsam aufgebaute Verteidigung, nachdem Hoffmann die Scherben zusammengekehrt hatte. Dr. Meyer hielt durch. Die endlose erneute Verlesung der Anklageschrift, die Zeugenaussagen. Er mahlte mit seinem Kiefer, manche der Hinterbliebenen und Opfer starrte er an, wich ihrem hasserfüllten Blick nicht aus. Ihm entschlüpfte sogar ein kleines Lächeln. Und das sahen viele. Auch die Frau, die am Tag zuvor noch auf Kersten zugegangen war. sie bebte, wurde rot im Gesicht, und Dr. Meyer erwartete, dass sie sich vergessen würde, aber es geschah nichts. An diesem Tag kehrte er ins Gefängnis zurück ohne selber ausgesagt zu haben.

Meyer kam direkt zur Freistunde zurück. „Du lebst ja noch“, empfingen ihn zwei Männer, als er den Aufenthaltsraum betrat.
Die anderen verstummten. Kersten war im oberen Flur, er kam aus seiner Zelle und wollte gerade nach unten gehen. Jetzt erstarrte er und blieb still stehen.
„Du denkst vielleicht, wir haben hier nur eingeschränkt News von außen“, sagte der größere der Männer und kam auf Meyer zu, der noch glänzte wie gelackt, auch wenn er seinen schicken Anzug wieder gegen Alltagskleidung eingetauscht hatte.
„Ich weiß nicht, was Sie wollen.“ Dr. Meyer rettete sich in einen gebildeten, empörten Tonfall und wich zurück.
Es kam ihm niemand zu Hilfe. Bis die Justizleute da waren, dauerte es erstaunlich lang. Als Dr. Meyer vor ihnen in Sicherheit gebracht wurde, hatte er einige Schrammen und Beulen, warf einen Blick nach oben und sah Kersten an der Treppe stehen. Er begriff es in dem Moment. Nicht einmal sein ehemals bester Freund und Komplize stand noch auf seiner Seite.

Er schlief schlecht in dieser Nacht. Sie hatten es am Gericht so eingerichtet, dass die beiden Termine von Dr. Meyer direkt hintereinander stattfanden. Andere Prozesse wurden in den Hintergrund gedrängt, Verhandlungen vertagt. Sie brachten damit andere gegen sich auf, noch mehr Leute, die Dr. Meyer hassten. Straftäter, Leute mit Zivilsachen, Anwälte. Kersten bekam das mit, ihm wurde es ungemütlich. Am liebsten hätte er einen Deal ausgehandelt, das Urteil genommen, damit er damit durch war.
„Bist du korrekt?“ Der Riese war zu ihm herübergekommen.
Kersten stand locker da, erwiderte seinen Blick und versuchte sein Herzrasen zu verbergen.
„Willst du wissen, auf welcher Seite ich stehe?“
Die Stimmung im Raum kühlte sich ab, war kurz vor einer Explosion. Kersten schaute auf Dr. Meyer und drehte sich wieder weg.
„Ich stehe auf der richtigen Seite.“
Er hielt den Atem an. Dann nickte der Riese ihm zu.

Kersten hatte ein paar Tage Pause. Er bekam Besuch von seinem Anwalt, von Janssen. Und blieb angespannt. Er machte sich keine Illusionen – und es war für alle anderen interessant zu beobachten, wie die beiden Männer mit der Sache umgingen. Reiter hielt ihn auf dem Laufenden, was den Prozess von Dr. Meyer anging.
„Läuft für ihn nicht gut, was?“
Reiter schaute ihn aufmerksam an.
„Sie sprechen nicht viel miteinander, was?“
„Gar nicht.“ Kersten sah bitter aus. „Ich habe mich so sehr in ihm getäuscht.“ Er hieb gegen die Wand. „Diese verdammte Idee, wenn ich ihm doch nur nie von ihr erzählt hätte.“
Reiter schaute zu den Justizbeamten herüber. Der beobachtete Kersten aufmerksam.
„Ganz langsam. Sie haben das angefangen?“
„Ja. Aber allein hätte ich es nicht geschafft. Ich brauchte einen Partner mit anderem Fachwissen.“
„Erzählen Sie.“
Kersten erzählte ihm alles. Als sie sich verabschiedeten, hatte Reiter genug Material, um in der nächsten Verhandlung der Sache eine neue Richtung zu geben. Sie mussten Dr. Meyer von seinem selbstgebauten Sockel stoßen.

Dr. Meyer rastete aus, aber selbst dabei verlor er nicht seine Haltung. Als sie ihn dieses Mal zu einer Aussage aufforderten, tat er ihnen den Gefallen. Was Dr. Meyer zum Verhängnis wurde, war die mangelnde Kommunikation zwischen den Anwälten. Und Kersten dachte nicht im Traum daran, Meyer etwas zu sagen.
Meyers Glaubwürdigkeit sank mit jedem Satz. Niemand hatte vergessen, wie er am Vortag geschaut hatte, keiner nahm ihm den betroffenen Tonfall ab, selbst als er behauptete, für ihn habe Geld als Motiv nie eine Rolle gespielt, ganz im Gegensatz zu seinem Komplizen. Im Gegenteil, ihm sei es immer nur um die Forschung gegangen und er hatte nicht gewollt, dass jemand ernsthaft zu Schaden kam. Es täte ihm leid, dass Menschen gestorben seien, er bitte um Verzeihung, und natürlich nehme er die Verantwortung auf sich.
Was will er damit erreichen? – Das fragten sich alle entsetzt, schockiert, nicht im Geringsten beeindruckt und jetzt bezogen auch die letzten Position für Kersten, soweit man überhaupt für einen der beiden Stellung beziehen konnte. Die paar kritischen Stimmen, die mahnten, dass auch Kersten ein Krimineller sei, wurden komplett überhört.
„Wenn Sie nicht aufpassen, stehen Sie in den Geschichtsbüchern und haben Ihre Rolle weg.“
„Das habe ich sowieso.“ Der gelassene Satz erinnerte Reiter daran, dass er es mit einem eiskalten Mann zu tun hatte, der genau wusste, was er tat, als er die Stücke schrieb. Der einzige Unterschied zu Dr. Meyer war das Fehlen des Wahnsinns.
„Sie legen es drauf an, die volle Höhe der Strafe zu bekommen, was? Vergessen Sie nicht, die Leute da draußen hassen Sie. Ich kann nur versuchen das Bestmögliche für Sie herauszuholen.“
„Das reicht nicht.“ Kersten wusste genau, was er wollte. „Ich will auf jeden Fall als Berater für die Polizei arbeiten. Und ich will die Mindeststrafe. Ich bin absolut nicht auf das Höchstmaß aus.“
„Ich werde sehen, was ich tun kann, aber das hängt nicht von mir ab.“
Kersten trat dicht an ihn heran. Reiter wich leicht zurück. Kersten hatte sich verändert, sah ihn eisig an. „Dann machen Sie es möglich.“
Im nächsten Moment hatte er sich wieder unter Kontrolle, so schnell, dass Reiter nicht sicher war, ob er das eben wirklich erlebt hatte.

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