GOLF, oder: DIE BLEISTIFTE SIND GRATIS
von Jürgen Karl Otto Bartsch (bartsch)

 

Golf entspannt – nicht.

Oh Golf
Von
Jürgen Karl Otto Bartsch


Hinweis:
Originaltext mit vielen Bildern hier …
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–> Oh Golf


Können Sie sich vorstellen, die Weisheit und Gelassenheit eines indischen Heiligen oder japanischen Zen-Meisters, die Kraft eines walisischen Bergarbeiters, die Grazie eines russischen Balletttänzers und das scharfe Auge eines schweizerischen Steinadlers in sich zu vereinen? Nun, in diesem Fall haben Sie zwei Möglichkeiten. Die erste: Sie machen sich auf, die letzten Mängel dieser Welt morgen oder übermorgen auszuräumen und am Tag darauf die beste aller Welten zu erschaffen. Die zweite: Sie spielen Golf. Der Erfolg wird in beiden Fällen zumindest zweifelhaft sein, im Falle des Golfspielens eher noch unwahrscheinlicher.

Eine gute Golfrunde beginnt am späten Vormittag. Mit einem oder einigen guten Freunden ziehen Sie hinaus, gutgelaunt und in freudiger Erwartung eines angenehmen Tages an frischer Luft. Diese Golfrunde wird am Abend in Streit, gegenseitigen Beschuldigungen und nicht eben selten in völliger Verzweiflung der Protagonisten enden, hervorgerufen durch die sichere Erkenntnis absoluten persönlichen Unvermögens. Hinzu kommt erschwerend der Verlust wesentlicher Vermögenswerte, die in völliger Verkennung der Realitäten ehemals in jetzt verbogene, fortgeworfene oder zerbrochene Schläger und eine Unmenge verschlagener Bälle investiert wurden.
Am besten ziehen Sie sich danach in Ihre eigenen vier Wände zurück, verderben Ihren Single Malt durch eine oder zwei Tränen und beschließen, sich so etwas nie wieder anzutun. Ihre kaputte Ausrüstung können Sie ja im Pro Shop neben Loch 19 morgen wieder auffrischen.

Wie alles begann
Bis heute liegen Holland und Schottland in erbittertem Streit darüber, wem von beiden eigentlich das Verdienst zukomme, diesen Anlass unermesslicher Verzweiflung namens Golf über die Menschheit gebracht zu haben. Jedenfalls begann die Geschichte vor mehr als fünfhundert Jahren, entweder an der holländischen Nordseeküste oder an der schottischen Ostküste.
Man schrieb das Jahr 1430 oder 1440 oder irgendeines dazwischen, und es herrschte wohl Sommer. Das heißt, die Temperatur lag messbar über null Grad Celsius, und es regnete beinahe überhaupt nicht. Ganz in der Nähe der Küste war ein Schäfer – ein Holländer oder ein Schotte – unterwegs, der seine Schäfchen sprichwörtlich schon im Trockenen hatte. Folglich ein recht zufriedener Mann, an sich, aber auch ein Mann, der seine Bewegungsenergie noch nicht einmal annähernd aufgebraucht hatte für heute. Immerhin hatte er seine Arbeit viel zu früh beendet.
Feierabend am helllichten Nachmittag! Der Mann wusste nicht so recht, wie er den angefangenen Tag befriedigend zu Ende bringen sollte, und genau aus diesem Grunde war er ein wenig unruhig. Gedankenverloren trat der Schäfer gegen einen Stein, ein Impuls, den der Stein unverzüglich aufnahm und in einen zielgerichteten Ortswechsel umsetzte. Er rollte.
Freilich rollte er nicht einfach so. Dieser spezielle Stein rollte unverzüglich in ein nahe gelegenes Kaninchenloch hinein. Weg war er! Was er dort anrichtete, ist nicht genau überliefert. Dem Schäfer aber, der tatsächlich nichts besseres zu tun hatte, gefiel das. Er suchte einen zweiten Stein und trat wiederum dagegen. Auch dieser zweite Stein rollte erwartungsgemäß los, rollte … rollte … rollte in Richtung Kaninchenloch, und als er es fast erreicht hatte, bis auf einen oder zwei Zentimeter, da blieb er liegen.

Einfach so!
Das ärgerte den Schäfer maßlos. Er ging hinüber zum Kaninchenloch, hob den Stein auf, legte ihn auf den ursprünglichen Platz zurück und trat nochmals dagegen. Wieder rollte der Stein los, und wieder verfehlte er das Loch nur knapp.
„Wenn der eine Stein hineinfällt, und der andere nicht“, dachte der Schäfer bei sich, „dann fehlt es vielleicht an der richtigen Technik.“ Vielleicht hatte er sich auch bei seinem letzten Fehlversuch den Zeh angeschlagen, jedenfalls trat er beim nächsten Mal nicht gegen den Stein, sondern schlug ihn mit seinem Stock. Der rollte los, überschlug sich ein paar Mal, flog sogar ein bisschen in der Luft herum und landete schließlich gut einen bis eineinhalb Meter hinter dem Kaninchenloch.
Nun verhielt es sich jedoch so, dass ausgerechnet an diesem Tag dieser eine Schäfer zwar als erster mit der Arbeit fertig war, aber nicht wesentlich früher als zwei seiner Kollegen. Ebendiese nämlich bogen gerade in dem Moment um die Biegung des Weges, als der erste versuchte, den Stein mittels Stock in das Kaninchenloch zu schießen. So erlebten sie quasi live das Missgeschick der Golferfindung mit.
Sofort waren auch sie fasziniert von der Chance, einen dafür nicht vorgesehenen Stein in ein dafür nicht vorgesehenes Loch zu bekommen, und zwar mit einem Hilfsmittel, das ebenfalls nicht dafür vorgesehen war.
Der eine der beiden nahm den Stein auf, legte ihn eine größere Strecke zurück und holte mit seinem Stock gewaltig aus. Mit einem Schwung, angesichts dessen jedes seiner Schäfchen unverzüglich die Herde gewechselt hätte, drosch er auf den Stein ein. Der zischte schwer getroffen ab und vergrub sich beleidigt im Sand des nahe gelegenen Strandes.
Kaum hatten die drei den Stein wieder gefunden, also rund eine Stunde oder zwei danach, versuchte der dritte sein Glück, und irgendwann war wohl auch dieser Stein im Kaninchenbau versenkt. Die Schäfer aber kamen an diesem Abend erheblich später nach Hause als an gewöhnlichen Arbeitstagen.

Das Unglück nimmt seinen Lauf
Im Jahre 1457 schließlich – inzwischen waren unzählige Steine in ungezählten Kaninchenbauten verschwunden, und eine bedauernswert große Zahl von Kaninchen litt an heftigen Kopfschmerzen – erwähnt die schottische Geschichtsschreibung erstmals das Wort „Golf“.
Zunächst wurde das Spiel an sich verboten, was zwar durchaus ein vernünftiger Ansatz war. Allerdings war es in diesem Fall wieder einmal die beste Methode, um die Sache richtig ins Rollen zu bringen; jedenfalls trat das Spiel unverzüglich darauf seinen Siegeszug um die Welt an.
Im Zuge des sich zunehmend durchsetzenden Tierschutzes legte man in den folgenden Jahren bis heute zunächst einmal Plätze mit einer Bar und 18 künstlichen Löchern an, 10,8 Zentimeter breit und rund zehn Zentimeter tief. (Tiefere Löcher hatten sich nicht bewährt, sie wurden sehr schnell von Kaninchen besiedelt, und somit hätte man letztlich nicht viel erreicht. Die Bar dagegen blieb zumeist kaninchenfrei.)
Ebenfalls zum Schutz des Tierlebens veränderte sich das Spielmaterial: Aus Hirtenstöcken, die zum Schlagen von irgendwelchen annähernd runden Gegenständen nicht geeignet waren, entstanden Golfschläger, die zum Schlagen von rundlichen Gegenständen nicht geeignet sind.
Die Steine wiederum, die gegen jede Vernunft dennoch manchmal getroffen wurden und in die erwartete Richtung flogen, wurden recht bald durch kleine Lederbälle mit Federfüllung ersetzt („Featheries“), später – seit etwa 1850 – dann durch niedliche kleine Bälle aus malayischem Gummi, Guttapercha, die, kaum hat man sie getroffen, mit tödlicher Sicherheit verschwinden und niemals wieder gefunden werden.
Die „Gutties“ führten unmittelbar zur nächsten entscheidenden Verbesserung. Wenn man sie mit einem Eisenschläger bearbeitete, bekamen sie lustige Muster außen herum, die „Dimples“. Diese Muster verbesserten angeblich die Flugeigenschaften um ein Vielfaches und wurden 1905 patentiert. In der Tat zischen gedimpelte Bälle viel schneller ins Rough; die Suche nach ihnen dauert freilich genauso lang.
Die vorläufig letzte Verbesserung stammt aus dem Jahre 1968. Die ersten Bälle mit Surlynschale tauchten auf, innen mit einem festen Kern aus Polyurethan, was genauso chemisch ist wie es sich anhört. Diese Verbesserung sorgte in erster Linie für Aufsehen; entscheidende Veränderungen an dem inzwischen über fünfhundertjährigen Spiel namens „Verdammt, wo ist er jetzt schon wieder hin (der Ball)?“ konnte sie nicht mehr bewirken.
Last not least wurde irgendwann – Sport ist, was man messen kann – der Score eingeführt, ein vertrackter kleiner Zettel, auf dem man notiert, wie viele Schläge man pro Loch verbraucht hat. Das an sich wäre schon gemein genug; allein, die Regeln machen es menschlich noch ein wenig fieser. Denn sobald man nicht allein spielt – und wer spielt schon gern allein, immerhin schreiben Dieter Genske und Sammy Minkoff in der Einleitung zu „Golf – verständlich gemacht“, dass „wichtige Geschäfte immer weniger am Verhandlungstisch, sondern beim Golf abgeschlossen werden“ – wenn also ein Partner dabei ist, dann schreibt der die Anzahl der Schläge auf, die man selbst vollbracht hat, und man selbst schreibt dessen Schläge auf.
Das Gute am Scoring sei freilich auch nicht verschwiegen, zumal es in Amerika dank des „Stupid Little Golf Book“ von Leslie Nielsen („I don‘t play golf to feel bad. I play bad golf, but I feel good.“) bereits gesellschaftliches Bildungsgut ist, mithin zur Allgemeinbildung zählt und folglich in den Schulen gelehrt wird: Die Bleistifte sind gratis.

Wandern zwischen Glück und Wahn
„Golf“, so wird Walter Scheel zitiert, der in den Siebzigern deutscher Außenmininister und Bundespräsident war, außerdem ein recht passabler Sänger deutscher Volkslieder mit einigem Erfolg auch in den Charts, „Golf gehört zu den Sportarten, die Außergewöhnliches verlangen, wenn man es hervorragend spielen will. Das ist der erste Punkt. Zweitens ist es ein Sport, der vielleicht sogar mehr noch als andere Sportarten geistige Konzentration erfordert. Für jemanden, der diesen Sport nur aus Liebhaberei betreibt (…), hat das einen Nebeneffekt, der zunächst ganz fremd anmutet: Dass man das, was man vermeintlich bei dem einsamen Gang über den Golfplatz tun könnte – nämlich über vieles nachdenken – eben nicht kann.
Das war das frappierendste Erlebnis für mich: dass meine Erwartung, alleine über den Rasen zu gehen und dabei ungewöhnlich tiefe Gedanken zu wälzen, gänzlich enttäuscht wurde. Sie kommen zu keinem Gedanken, es sei denn, wie am besten den Ball in die richtige Richtung und an den richtigen Platz bringen. Wenn also jemand eine sportliche Betätigung sucht (…), die ihn von dem, was ihn täglich beschäftigt, mal eine Weile abbringt …“
Nach unserer Ansicht hat sich Scheel hier doch sehr weit vorgewagt. In Anbetracht aller Fakten gibt es eine zweifellos sicherere Methode, sich mit komisch geformten kleinen weißen Bällen, merkwürdigen Stöcken und einer dem Geist eines teuflischen Landschaftsarchitekten entwachsenen Botanik auseinanderzusetzen.
Nämlich, sich einen guten Whisky einzuschenken, gern auch einen doppelten, sich bequem im Sessel zurückzulehnen, vielleicht das Kaminfeuer zu beobachten und sich an den Flammen zu erfreuen, dabei schließlich einen oder zwei Gedanken an all die geplagten Menschen zu verwenden, die in diesem Moment draußen auf den Plätzen die Länge ihres aktuellen Loches falsch eingeschätzt haben und darüber soeben verzweifeln.
Sollten Sie jedoch bar jeder Vernunft und wider besseres Wissen auch hinaus auf den Platz gehen, so seien Sie unseres vollsten Verständnisses versichert. Aber sagen Sie nie, niemals, wir hätten Sie nicht gewarnt.

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