Harri Winters
von Daniela schmidt (gedichtstellerin)

 



Es war eine lauwarme Sommernacht, in der Harri Winters, wie in so vielen anderen Nächten nicht richtig schlafen konnte. In letzter Zeit ging er jede vierte Nacht auf den nahegelegenen Dorf- Friedhof spazieren. Unbemerkt schlich er sich nachts aus dem Haus, während seine Frau tief und fest schlief. Susanne Winters nahm Schlaftabletten und reiste ab 22 Uhr in das Reich der Träume. Die Kinder Jonathan und Teresa, schliefen eine Etage tiefer. Harri musste immer sehr leise sein, wenn er sich unbemerkt aus dem Haus schlich, um niemanden zu wecken. Es war sein Geheimnis, sein Doppelleben, dass er führte und niemand durfte etwas davon erfahren. Seine Familie wäre darüber entsetzt, wenn sie erfuhr, dass Harri sich heimlich nachts aus dem Haus stiehlt, um auf dem Dorffriedhof eine Leiche auszugraben, mit der er sich dann auf einer Parkbank unterhält.
Wenn er das Haus verließ, nahm er nur wenig Werkzeug mit. Der Spaten, mit dem er die Gräber aushob, hing in der Garage neben dem Werkzeugregal. Die schmutzigen Schuhe stellte er zu den anderen schmutzigen Arbeitsstiefeln. Jene Stiefel, die er trug, wenn er in seinem Garten arbeitete. Die Erde trocknete in der Nacht fest, somit konnte man nicht genau sagen, ob die Schuhe bei der Gartenarbeit oder auf dem Friedhof getragen wurden. Die schmutzige Hose legte er zu der Gartenkleidung. Es konnte also gar nicht auffallen. Und wenn seine Frau einmal dahinter kommen würde, dann würde er einfach behaupten, in der Nacht nicht schlafen zu können und im Garten etwas zu arbeiten, um müde zu werden. Harri vertraute auf die Schlaftabletten, die seine Frau einnahm. Er war immer anwesend, wenn sie die Tabletten nahm. Und bisher ist sie mitten in der Nacht nie aufgewacht.

Eine schwarze Katze streifte im Mondlicht umher. Ihr seidenweiches Fell reflektierte die Stille der Nacht. Nur ein paar wenige Grillen waren zu hören. Ein Uhu rief durch den Nachthimmel. Sein Gesang klang wie ein Wiegenlied. Die schwarze Katze streifte Harri Winters Beine und gab ein leises Miauen von sich. Er bückte sich, um ihr über den Rücken zu streicheln. Das Schnurren vibrierte in seiner Hand. Das Mondlicht leuchtete ihm den Weg. Die Katze begleitete ihn. Zwei einsame Wesen die durch die Nacht zogen. Sie war in dieser Nacht sein einziger Gefährte. Die Katze vertraute ihm, als kannten sie sich schon seit Jahren.
Auf dem Friedhof hielt Harri an einem verwahrlosten Grab an. Die Erde war ausgetrocknet, die Blumen lagen verwelkt und leblos auf dem Grab. Es gab keine Umfassung oder einen Stein aus Marmor. Ein einfaches Holzkreuz steckte lieblos am oberen Rand in der Erde. Die Katze setzte sich daneben und verschwand wenige Augenblicke später in der Anonymität der Nacht. Auf dem Grabstein stand ein Name, Yvonne Feld. Geboren am 20.09.1964, gestorben am 11.02.2014. Sie wurde nur 50 Jahre alt. Die Frau wurde erst vor wenigen Wochen begraben. Perfekt, dachte sich Harri und steckte den Spaten in die Erde. Den Rucksack stellte er direkt daneben. Er begann zu graben. Er grub und grub, bis er ein tiefes Loch hinterließ. Die Erde bröckelte teilweise, lies sich aber leicht ausheben. Harri schüttelte den Kopf über den Zustand des Grabes, wo sie doch erst vor wenigen Wochen beerdigt wurde. Er wunderte sich darüber, dass Angehörige wenig Interesse an der Grabpflege zu haben schienen.
Als er das Grab restlos von der Erde befreite, kamen kleine Lebewesen zum Vorschein. Würmer und Baumwurzeln bahnten sich einen Weg in die Freiheit. Ein schwarzer Käfer lief ihm über die Hand. Harri setzte ihn am Rand des Grabes ab und ging ein paar Schritte den Weg entlang, bis er an einem Brunnen anhielt. Hinter dem Brunnen wuchsen Tannen und dichte Sträucher. Eine große mit einem blauen Kreuz gekennzeichnete Tanne, versperrte den Weg. Hier hatte Harri sein Werkzeug im Gebüsch versteckt. Er holte eine Leiter, die man bei Bedarf verlängern konnte, hervor.
Die Leiter stellte er in das Grab, um so hinabsteigen zu können.
Als Harri auf den hellen Sargdeckel aus Kiefer sprang, wischte er den Rest der Erde zur Seite und hebelte den hölzernen Sargdeckel auf. Das Holz des Sarges knarrte. Die Scharniere klemmten etwas. Nach wenigen Handgriffen lag die Leiche frei. Sie lag in gepolsterten, weißen Seidenkissen, der Sargauskleidung und trug ein braunes Samtkleid, sowie schwarze Lederschuhe. Die Hände waren zusammen gefaltet. Ihr Teint wies eine großflächige Farbpalette auf. Von weiß bis violett. Ihr Gesicht schien zu lächeln, der Mund war leicht verzerrt und rot geschminkt. Es roch nach Lavendel und Melisse.
Harri hob die steife Frau aus dem Grab, man konnte sogar hin und wieder einen Knochen brechen hören und legte sie über seine Schulter, sodass sie über seinem Rücken hing und kletterte mit ihr die Leiter hoch. Die Frau war nicht sonderlich groß und sehr leicht. Er versuchte sie so gut er konnte aufzurichten. Durch die Leichenstarre war es fast unmöglich die Frau in eine gerade Position auf die Bank zu setzen. Er bog ihr Knie, die Knochen brachen. Harri winkelte ihre Beine an und richtete die Frau auf. Als ihr Körper immer wieder zur Seite kippte, band er die Leiche mit einem Seil an den Rücken der Bank fest.
Nun saß die Leiche auf der Bank und Harri setzte sich daneben, holte aus seiner Tasche eine Thermoskanne und goss sich heißen Tee in einen Becher. Genüsslich trank er einen Schluck, holte ein Butterbrot heraus, biss hinein und begann zu erzählen.
„Ich bin ein Lügner, ein Hochstapler. Mein ganzes Leben ist eine einzige Lüge. Ich führe ein Doppelleben. Ich habe nie wirklich studiert, habe nicht mal Abitur. Das einzige was ich kann, ist hervorragend fälschen. Unterschriften, Zeugnisse, Diplome, alles was du willst. Ich musste sogar mein Führungszeugnis fälschen, damit ich eine Anstellung als Sachbearbeiter beim Arbeitsamt bekommen habe. Jetzt bin ich ein Beamter. Ein Hochstapler und Lügner, arbeite als 1. Ortsvorsteher in der Landesparteizentrale der CDU und erwäge eine Kandidatur zum Bürgermeister. Ich bin politisch aktiv, helfe bei Wahlen und kümmere mich um mein kleines Dorf.“ Seine Worte hallten durch die Nacht ins Leere.
„Ich führe ein perfektes Leben, habe eine Frau, zwei Kinder, ein Haus und fahre regelmäßig in den Urlaub. Und soll ich ihnen was sagen? Es macht mir nichts aus. Ich bereue keine meiner Taten. Ich bereue keine meiner Lügen. Dennoch kann ich nachts nicht schlafen und habe das Bedürfnis auf den Friedhof zu gehen, um mit einer toten Person zu sprechen.“
Harri lachte leise vor sich hin. Sein Gesicht nahm die Züge eines Wahnsinnigen an. Dann lehnte er sich entspannt zurück, und starrte in das Mondlicht, dass die Bank erhellte und Schatten entlang des Weges warf.
Harri dachte nach. Sein Kopf neigte sich in Richtung der toten Frau. „Und Sie? Was haben Sie so gemacht? Ich meine in Ihrem Leben? Hatten Sie Kinder, Familie? Wieso sieht Ihr Grab eigentlich so fürchterlich aus? Sie waren bestimmt sehr einsam, sonst hätte man sich wohl um Ihr Grab gekümmert. Im Grunde sind wir uns irgendwie ähnlich oder nicht? Sie sind körperlich tot, ich seelisch, sonst könnte ich mein Doppelleben wohl nicht so durchziehen. Ich habe das Gefühl, mich Ihnen anvertrauen zu können. Meine Frau hat andere Interessen als ich und meine Kinder sind groß. Sie leben noch bei mir, machen ihren Abschluss, studieren dann wahrscheinlich. Und ich? Nun ja, ich halte mein Doppelleben aufrecht. Bisher hat es niemand gemerkt. Die Leute mögen mich und vertrauen mir. Ich würde schon sagen, dass ich einen guten Ruf habe. Warum sollte man also in den Papieren herum schnüffeln und meine Abschlüsse anzweifeln? Das, was ich über meinen Beruf und mein Studium wissen muss, habe ich mir angelesen, für den Fall, dass Fragen aufkommen. Ich habe mich sehr gut darauf vorbereitet, wenn ich mal einem Menschen begegnen sollte, der die gleiche Uni wie ich besucht hat. Na ja, was soll´s es ist doch jeder irgendwo ein Lügner, Heuchler und Betrüger. Schließlich muss man sehen wo man bleibt“, rechtfertigte sich Harri und klopfte sich dabei auf die Schenkel. Er bedankte sich bei der Frau, dass sie ihm die Zeit geschenkt hatte und ihm zuhörte. Dann erhob er sich und legte die Leiche wieder zurück in den Sarg. Schwerfällig schüttete er die Erde auf das Grab und richtete es wieder genauso her, wie er es vorgefunden hatte. Sein Ausflug nahm in der Regel etwa drei bis vier Stunden in Anspruch. Zum Schlafen hatte er dann noch ca. vier bis fünf Stunden übrig, mehr benötigte er nicht, um ausgeschlafen sein Doppelleben zu führen.
Aber dieses mal war er schon nach zwei Stunden wieder auf dem Weg nach Hause, viel früher als gewohnt.
Als Harri an seinem Haus ankam, bemerkte er, dass das Licht in der Küche brannte. Die Schweißperlen liefen ihm über die Stirn. Tausend Gedanken schwirrten ihm, wie ein Schwarm Hummeln im Kopf herum. Von der Ferne konnte er nicht erkennen, wer in der Küche war. Harri schlich sich leise durch die hintere Gartentür, an das Küchenfenster heran. Er sah hindurch und was er entdeckte, verschlug ihm die Sprache. Ihn blickte ein nackter männlicher Hintern an, der vor dem offenen Kühlschrank stand. Harri stellte sich auf seine Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Aber es half nichts. Harri konnte die Person immer noch nicht erkennen. Doch plötzlich, als sich der Mann umzudrehen schien, stolperte Harri über eine Gießkanne, die direkt nehmen ihm stand. Die Gießkanne fiel um und machte einen höllischen Lärm. Der nackte Mann am Kühlschrank wurde aufmerksam, rannte zum Küchenfenster und nun sahen sich die beiden direkt in die Augen. Es war Harris Nachbar, Lukas Stock. Das entsetzen stand beiden ins Gesicht geschrieben. Lukas hörte, wie sich im Haus etwas regte. Der Lärm im Garten, hatte jemanden im Haus aufgeweckt. Lukas rannte so schnell er konnte nach draußen in den Garten, blickte dem schockierten Harri kurz ins Gesicht und sprang über die Hecke, zurück in sein Haus. Harris Frau Susanne, kam mit einem Bademantel bekleidet in die Küche, um nach dem Lärm zu sehen. Harri wusste nicht, was er machen sollte, also grub er aus Verzweiflung, so schnell er konnte im Garten ein Loch und legte einige Blumen hinein. Was sollte er auch anderes tun. Wenn er jetzt nicht hier wäre, würden alle misstrauisch werden und ihn fragen, wo er denn um diese Uhrzeit gewesen sei. Das Licht im Garten ging an, Susanne erblickte ihren Mann, wie er sich ins Blumenbeete kniete und grub. Sie sah Harri völlig entsetzt an und fragte ihn, was er denn um diese Uhrzeit hier draußen macht. Harri wischte sich den Schweiß von der Stirn und wirkte dabei sehr beschäftigt. „Ich kann nicht schlafen. Die Gartenarbeit in der Nacht hilft mir, müde zu werden. Ist doch nichts Schlimmes dabei oder?“
„Um Himmelswillen, kannst du das nicht am Tag machen, was sollen denn die Nachbarn denken? Wohl möglich denken sie noch, du verscharrst um diese Uhrzeit eine Leiche oder so. Komm wieder ins Bett und zieh die schmutzigen Sachen aus“, klang sie genervt.
Doch Harri hatte großes Interesse daran, seine Frau mit dem Nachbarn zu konfrontieren, denn immerhin, hatte er die beiden ja auf frischer Tat ertappt. „Und du? Was machst du, während ich hier im Garten arbeite?“, flüsterte er.
„Was meinst du?“
„Hast du mir nichts zu sagen? Ich habe euch gesehen.“
„Gesehen? Wovon redest du Harri?“
„Jetzt tu doch nicht so, ich habe gesehen, wie Lukas nackt in der Küche stand und sich ein Brot schmierte.“
Susanne sah ihn ungläubig an.
„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren? Du weißt doch das ich meine Schlaftabletten nehme und durchschlafe.“
„Ja von wegen, wer sagt, dass du sie nicht ausspuckst, um dich heimlich, während ich hier im Garten arbeite, mit Lukas triffst?“
„Du machst dich lächerlich Harri, du solltest dir zuhören. Ich habe keine Lust auf deine Hirngespinste und gehe wieder ins Bett. Ich weiß nicht was du meinst.“
Susanne drehte sich um und verließ den Garten. Harri hingegen blieb noch eine Weile im Blumenbeet sitzen und starrte auf das Haus nebenan, wo gerade das Licht anging. Lukas Stock kam im Bademantel bekleidet durch die Hintertür, an Harris Gartenzaun. Harri überlegte kurz, ob er das Gartentor öffnen sollte und Lukas hereinbat.
Dann öffnete er und bevor Harri auch nur einen Ton sagen konnte, flüsterte Lukas.
„Hör zu, das was du eben gesehen hast, bleibt unter uns. Ich will nicht, dass du eine große Sache daraus machst, deine Frau anstachelst, sie dann meiner Frau was erzählt und meine Frau dann verdacht schöpft. Es ist nicht so wie es scheint. Ich habe nix mit deiner Frau. Ich habe hin und wieder das Bedürfnis, nachts, wenn meine Nachbarn schlafen, in ihr Haus zu gehen und ihre Sachen zu berühren, etwas zu essen und mich so zu fühlen, als sei es meine Familie.“
„Und das machst du nackt?“, fragte Harri ungläubig.
Lukas antwortete: „Ja, es ist, wie soll ich sagen, es gefällt mir, ich mache nichts schmutzig, es merkt auch niemand, das ich da war. Ich bitte dich, niemanden etwas von meinem Doppelleben zu erzählen.“
„Das ist total krank Lukas, weißt du das? Ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll, ob ich etwas sage oder nicht.“
Lukas schnaubte. „Wenn du etwas sagst, erzähle ich allen, das du dich nachts heimlich aus dem Haus stiehlst und auf den Friedhof gehst. Ich bin dir eines Nachts heimlich gefolgt, ich musste ja wissen, wann du das Haus verlässt und wieder kommst, um so ungestört in deinem Haus sein zu können. Nenne mich nicht krank, was du da mit den toten Leuten machst, ist auch nicht normal.“
Harri überlegte. „Einverstanden, dann bleibt das unser Geheimnis.“

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