Haus ohne Seelen
von Daniela schmidt (gedichtstellerin)

 



Es war bereits Abend, als Laura durch die Straßen ihrer Erinnerungen ging. Es ist eine lange Zeit vergangen, als sie das letzte Mal durch die Straßen ihrer Kindheit lief. Autos fuhren an ihr vorbei. Es roch nach Abgasen und verschmutzter Luft. Laura war nie wirklich weg, obwohl das Leben sie manchmal in andere Städte zog. Aus beruflichen Gründen, dann wieder aus privaten. Dennoch kam sie immer wieder zurück. Sie ging immer wieder zurück an das grüne Eckhaus, in dem ihre Großeltern gewohnt hatten. Jenes Eckhaus, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte. Sie blieb vor dem verschlossenen Eingang stehen, drückte gegen die Tür, die sich nie öffnen ließ. Von draußen konnte sie nur in durch die leeren Fensterscheiben der Stockwerke starren. Nichts als leere dunkle Räume.
Laura stand am Straßenrand, sah sich um, aber erkannte nur wenige Gesichter wieder. Sie waren gealtert, verlebt. Floskel Bekannte sprachen sie hin und wieder beim Vorbeigehen an. Alte Bekannte die sich übers Wetter unterhielten. Jene, die sich schon immer übers Wetter beklagten, über die Preise und ihre Krankheiten. Sie warfen dir in Gesprächen vor, wie dick oder dünn du geworden bist, warum du allein oder verheiratet bist.
Baugerüste versperrten ihr den Weg. Sie versuchen brüchige Fassaden zu retten, marode Geschichten klebten am Gestein. Hier war viel geschehen, surreal, alles wurde verschwiegen. Jahrelang blieb das alte Haus unbewohnt und sich selbst überlassen. Doch die Mauern vergessen nichts. Nur die alten Geister, der toten Großeltern, wanderten Nachts durch die Zimmer, auf der Suche nach ihren Verwandten.

An der Ecke stand jetzt ein großer Supermarkt. Dort ist Laura als Kind immer einkaufen gegangen. Sie erinnerte sich an ihren Onkel, der dort früher, täglich zwei bis drei Flaschen Bier gekauft hatte. Er war Alkoholiker und starb an seiner Sucht. Man fand ihn viele Jahre später, wenige Straßen weiter, tot in seiner Wohnung auf. Er saß fast zwei Wochen lang tot auf einem Stuhl, bis ihn einer seiner Freunde dort entdeckte. Selbst den Nachbarn ist der Verwesungsgeruch nicht aufgefallen. Eine ignorante Nachbarschaft. Lauras Onkel wurde in einem anonymen Grab beerdigt, weil seinen Kinder, mit denen Laura ihre Kindheit verbrachte, keine Beerdigung wollten. Es lag weniger an den Beerdigungskosten, als an der Vergangenheit, die viel zu teuer war. Lauras Onkel hatte das Leben seiner beiden Kinder ruiniert. Die anonyme Beerdigung war eine Art Abschiedsgeschenk an ihren Vater.
Laura erinnerte sich daran, wie sie mit ihrer Schwester und Mutter, den Onkel an einem Wochenende in einer Entzugsklinik besuchen ging. Es war an einem Samstag, an dem andere Familien Ausflüge mit ihren Kindern machten. In dieser psychiatrischen Einrichtung waren auch Strafgefangene, Mörder und Vergewaltiger in Therapie, und mitten unter ihnen Laura.
Mit ihrer Mutter hatte sie sonst nie etwas unternommen. Es gab keine Ausflüge, Kinobesuche, Museen. Wie gern wäre sie durch die Wälder gewandert, schwimmen gegangen oder durch die Straßen fremder Städte gelaufen. Die Mutter musste den ganzen Tag arbeiten und kam spät nach Hause. Ihre Mutter war recht beschränkt und von einfältiger Natur, einfach strukturierte und Arbeiterin von Beruf. Sie war völlig unfähig einen anderen Menschen zu erziehen, da sie emotional und geistig selbst noch ein Kind war. Sie hatte als kleines Kind einen Unfall. Dieser Unfall war einer der Hauptgründe, warum sie so war. Irgendwann zog sich ihre Mutter in eine Scheinwelt zurück, erfand Geschichten und begann pathologisch zu lügen. Aus seelischem Selbstschutz spaltete sie Teile ihrer Persönlichkeit ab. Sie schaffte es sogar Laura ein ganzes Leben lang im Glauben zu lassen, dass ihr Vater sie nicht wollte und einfach davon gelaufen wäre, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Es stellte sich jedoch heraus, dass er nichts von einer Schwangerschaft wusste. Zu spät!
Laura lief weiter durch die Straße und erinnerte sich an ihre Schwester. Jene einzige Schwester, die mit 40 an Krebs erkrankte. Die beiden Geschwister konnten von ihrem Wesen her nicht unterschiedlicher sein. Das Leben ihrer Schwester drehte sich zu fast nur um Männer und Sex. Aber wenn man tiefer schaute, bröckelte die Fassade. Sie war schwer depressiv und hatte keine Lust mehr zu leben. Als sie schwer erkrankte, freute sie sich über die Diagnose. Weil sie hoffte endlich gehen zu können. Sie war innerlich leer und inhaltslos, weil sie ihr Leben damit verschwendet hatte, anderen Männern zu gefallen. Sie wollte um jeden Preis geliebt werden und schlüpfte dafür immer wieder in die Rolle einer Hure.

Gegenüber auf der anderen Straßenseite, wo früher eine Metzgerei gewesen war, hatte jetzt ein türkischer Trödelhändler seinen kleinen Laden. Laura ging täglich mit ihren Cousins in die Metzgerei. Sie haben sich dort immer Wurst gekauft. Die Wurst wurde im Laden in einer Mikrowelle aufgewärmt. Das Fett triefte durch das Papier. Sie liebte diesen salzigen Geschmack und den Geruch. Nebenan war ein Herrenfriseursalon. Die angestellte Friseurin schnitt aber auch Frauen die Haare und so zählte ihre halbe Verwandtschaft zu den Kunden.
Laura hielt vor dem Friseursalon an und setzte sich auf einen großen Stein. Sie sah durch das Fenster und erinnerte sich an den Geruch der Trockenhaube. Sie dachte an die vielen Haare auf dem Boden. In einer kleinen Ecke konnte man sich hinsetzen und in den Zeitschriften blättern, während man wartete. Der Friseurmeister unterhielt immer die Kundschaft mit platten Sprüchen und albernen Witzen. Es glich mehr einer zur Schaustellung der eigenen Person. Ein Hahn der auf seinem Hof tanzte. Direkt daneben gab es einen türkischen Obst und Gemüseladen. Das Obst zog im Sommer viele Mücken und Bienen an. Das war sehr gefährlich für die Kinder, da sie an einem kleinen Brunnen, direkt vor dem Laden spielten. Laura liebte es mit ihrer Cousine dort hinauf zu klettern, von einer Seite zur anderen. Oben konnte man sich wunderbar hinsetzen und die Umgebung inspizieren. Der Brunnen war aus Sandstein und etwa 2 Meter hoch. Aus dem verrosteten kleinen Wasserhahn kam tatsächlich kühles, frisches Trinkwasser, an dem man sich an heißen Sommertagen erfrischen konnte. Im Sommer gab es nebenan auch Feste, Kirmes mit Ständen.

In der Straße wohnte auch ein großes Mehrfamilienhaus. Ihre damalige beste Freundin aus der Grundschule, wohnte fünf Straßen weiter. Es war eine türkische, recht moderne Familie. Dennoch war der Vater manchmal seltsam. Wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam, musste Laura nach Hause gehen. Sie fühlte sich manchmal als heimliche Freundin. Laura war mit ihrer Freundin jeden Tag zusammen, bis zur fünften Klasse, dann kamen sie in verschiedene Schulen und die Freundschaft löste sich auf.
Das grüne Eckhaus, bildete das Zentrum der Altstadt und war die Seele der Umgebung. Ein deutsches älteres Ehepaar hatte dort im Erdgeschoss einen Tabakladen. Im ersten Stock, über dem Tabakladen, wohnte eine alte griechische Frau. Laura erinnerte sich noch sehr gut an ihr duftendes Fladenbrot, dass sie immer für ihre Oma, die einen Stock darüber wohnte, backte. Sie waren zwar keine wirklichen Freunde, aber gute Nachbarn. Die alte griechische Dame wohnte allein in der großen Wohnung. Ihr Mann verstarb noch vor Lauras Geburt. Im ersten zweiten Stock wohnten ihre Großeltern, bei denen sie jeden Tag zu Besuch war. Die Wohnung bildete nicht nur das Herz des Hauses, sondern auch die Seele.
Es gab noch ein weiteres, drittes Stockwerk, aber dort hielt Laura sich nie auf. Als Kinder hatten sie keinen Kontakt zu den Nachbarn. Sie spielten und lebten für sich. In derselben Straße wohnten auch ihre beiden Cousins. Wenn Laura nicht gerade bei ihrer Oma war, dann spielte sie mit ihren beiden Cousins den ganzen Tag draußen auf der Straße. Die Kinder bauten sich auf der nahegelegenen Wiese Tore, um Fußball zu spielen.
Das grüne Eckhaus ihrer Kindheit, war der Treffpunkt für die ganze Familie. Nicht nur Laura wuchs in dem Haus ihrer Großeltern auf, sondern auch ihre Cousins und Cousinen, die fast jedes Wochenende zu Besuch kamen. Es wurden zahlreiche Feste gefeiert, Hochzeiten, Geburtstage. Doch als ihr Großvater, nach langjähriger schwerer Krankheit in dem Haus verstarb, war es nicht mehr wie früher. Alles hatte sich verändert. Die Cousins und Cousinen kamen mit Laura zeitgleich in die Pubertät und gingen ihre eigenen Wege. Die Feste wurden nicht mehr gefeiert, auch Besuch kam recht selten. Jene Verwandte, die der Oma am liebsten waren, ließen sie im Stich und wandten sich von ihr ab. Lauras Oma vereinsamte immer mehr. Nur wenige nahe Verwandte, besuchten die alte Witwe, die zunehmend depressiver wurde und den Wunsch äußerte, ihrem Ehemann in den Tod zu folgen. Der Opa hatte noch am Sterbebett zu seiner Frau gesagt, dass er sie in zwei Jahren nachholen werde. Und tatsächlich verstarb Lauras Oma, zwei Jahre später, in dem gleichen Schlafzimmer wo der Opa starb. Als Laura mit ihrer Mutter die Wohnung leer räumte, konnten sie noch die Schritte auf dem Holzboden knarren hören. Omas Geist musste noch wenige Stunden nach ihrem Tod anwesend gewesen sein. Laura hatte ein komisches, bedrückendes Gefühl in der Brust, als spürte sie ihre Anwesenheit.
Die Großeltern waren nun tot. Die beiden Seelen, die das ganze Haus am Leben hielten, verließen diese Welt. Die Familie spaltete sich auf, Habgier und Missgunst machten sich breit. Sie waren zerstritten und keiner der Familienmitglieder hatte noch wirklich engen Kontakt miteinander. Jeder lebte für sich allein. Der Altbau bröckelte. Das Ehepaar, das den Tabakladen führte, schloss wenige Jahre nach dem Tod der Oma das Geschäft. Die Wände wurden zunehmend marode, Risse bildeten sich in der Decke. Das große grüne Wohnhaus, war nun wenige Jahre nach dem Tod der Großeltern einsturzgefährdet und unbewohnbar. Die restlichen Mieter und Nachmieter mussten das große Haus räumen und umziehen. Von außen konnte man nur noch in leere dunkle Zimmer starren. Die Scheiben waren verstaubt und verdreckt. Es gab keinen Zutritt mehr. Die Vordertüre wurde versiegelt. Nun steht das Haus ohne Seelen seit fast zwei Jahrzehnten leer und wartet darauf, saniert zu werden und Laura schaut immer mal wieder vorbei, um nach den Seelen zu suchen.

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