Hexenjagd
von Rutz Rische

 

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"Das war dann wohl der letzte Wagen, der unter den Hammer gekommen ist." Erika seufzt. "Komm, Mutter, wir haben hier nichts mehr verloren!" Rita legt ihrer Mutter den Arm um die Schulter:"Bei Joanna und mir ist genug Platz."
Joanna nickt verständnisvoll.
"Danke, Mädels", sagt Erika. "Laßt uns trotzdem ein Stück gehen. Diese Zwangsversteigerung hat mich total fertig gemacht.."
Der letzte Gebrauchtwagen rollt vom Platz, als Erika mit den jungen Frauen den kleinen Feldweg hinabwandert. Wehmütig betrachtet sie das zarte Grün. Wie glücklich war sie hier gewesen. Trotz allem. Hatte sich immer stark gefühlt. Nichts hatte sie bisher aus der Ruhe gebracht. Aber jetzt - aus und vorbei. Und die Nachbarn tuscheln, sobald sie einem von ihnen begegnet. Ihre Autos haben sie sich trotzdem gerne unter den Nagel gerissen. Waren ja auch für einen Spottpreis weggegangen. Anscheinend kann man sich an billigen Autos nicht infizieren. Würde kaum reichen, um die Schulden zu bezahlen. Diese Heuchler. Dabei behaupten sie doch so gerne von sich, sie seien modern und tolerant. Schon als junges Mädchen hätte sie aus dem kleinen Walddorf wegziehen müssen. Mitten im Sauerland.
Hartmut hatte sie damals gehalten. Voller Zärtlichkeit denkt sie zurück an den schüchternen jungen Mann, der sie immer häufiger besucht hatte. Damals in den 50ern. Seine Eltern hatten einen Bauernhof, wie die meisten hier. Aber er war der jüngste Sohn und damit nicht Hoferbe.
Erikas Eltern hatten aufgeatmet, als Hartmut auftauchte. Endlich hatte auch ihre Tochter einen Kavalier.
Dabei war Erika gar nicht häßlich. Sie hatte sogar ein hübsches Gesicht.
Aber sie war groß und kräftig. Und ihre Brust war Flach. So flach, daß sie keines ihrer drei Kinder hatte stillen können.
Außer Muskeln besaß sie noch Verstand und Bildung. Attribute, die die Bauernburschen nicht gerne bei jungen Mädchen sahen. Obwohl sie alle auf die Autos scharf waren, die ihr Vater verkaufte.
Da kam der sommersprossige Hartmut wie gerufen. Erika denkt gerne zurück an die langen Spaziergänge am See und die intensiven Gespräche. Und daß Hartmut auch noch Autoschlosser war, beeindruckte ihre Eltern. Das Gebrauchtwagengeschäft war in den besten Händen.
Hartmut war anders als die anderen. Das hatte Erika von Anfang an gewußt. In der Hochzeitsnacht hatte er sich äußerst linkisch benommen. Aber Erika liebte ihren sommersprossigen Autoschlosser und verzieh ihm seine skurilen Schwächen. Er wiederum war dankbar für Erikas mütterliche Stärke. Und irgendwann hatten sie dann drei Kinder. Zwei Mädchen und einen Jungen.
Daß Hartmuts Leidenschaft mit den Jahren nachließ, störte sie nicht. Das kam in vielen Ehen vor. Und Hartmut nahm ihr den Seitensprung mit dem holländischen Urlauber nicht übel. In der Dorfkneipe verteidigte er sie vehement, was ihn bei den Kerlen noch suspekter machte. Daß Hartmut anfing, dem heimatlichen Herd fernzubleiben, war natürlich Gesprächsstoff in den Frauenrunden. Auch sie verstanden nicht, daß Erika und Hartmut trotz allem beieinander blieben. Nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil sie einander brauchten, wenn auch nicht mehr im Bett. Irgendwann kamen schließlich Gerüchte auf. Jemand hatte Hartmut in der Stadt am Bahnhof gesehen und er hätte einem jungen Mann Geld gegeben. Was der angebliche Augenzeuge aber zu gleicher Zeit auf dem Bahnhofsklo zu suchen hatte, stand dabei nie zur Debatte.
Natürlich war Erika geschockt. Daß Prostituierte im Spiel waren, hatte sie längst begriffen, spätestens seit Hartmut anfing, das Geschäft zu vernachlässigen und Schulden zu machen. Daran, daß die Prostituierten Männer waren, hatte sie allerdings nie gedacht.
Es kam zu einer tränenreichen Aussprache. Hartmut schwor, daß er seine Leidenschaft aufgeben würde. Er versuchte es redlich. Doch Erika sah, wie er litt. Wie krank ihn die Verstellung machte. Natürlich hatte sie auch an Scheidung gedacht. Aber die Kinder brauchten ihren Vater. Und Hartmut war ein guter Vater. Sie brauchte ihn für das Geschäft. Und sie brauchte ihn. Denn daß sie sich immer noch sehr nah waren, stand außer Frage.
Als das jüngste Kind in die Pubertät kam, brachte Hartmut seinen Mike in die Familie.
Mike war ein hübscher unkomplizierter Bursche, den die mütterliche Erika sofort in ihr Herz schloß. Mike kam häufig zu Besuch. Auch zu Weihnachten. Schenkte den Kindern selbstgebaute Modellflugzeuge. Packte im Geschäft mit an. Nahm an Familienausflügen teil und übernachtete in Hartmuts Schlafzimmer.
Die Dorfbewohner zerissen sich die Mäuler über das ungewohnte Familienleben.
Erika konnte darüber nur den Kopf schütteln. Die Kinder hatten mit Mike einen zusätzlichen Gesprächspartner, mit dem sie sich gerne mal gegen die Eltern verbündeten. Sie gingen nicht in Lumpen. Vielen Kindern im Dorf ging es materiell und psychisch schlechter. In Familien, in denen der Vater die Mutter vertrimmte. Und auch mancher Kerl brachte seine junge Geliebte ungeniert ins Haus.
Autos konnten Hartmut und Erika nicht mehr verkaufen und ihre Werkstatt wurde gemieden. Die Dorfbewohner nahmen lieber den langen Weg in die Stadt in Kauf.
Dann wurde Mike beim Schützenfest zusammengeschlagen. Die Kinder mußten die Schule wechseln, weil selbst die Lehrer nicht gegen die ständigen Beleidigungen vorgingen.
Doch die wahre Hexenjagd begann, als Hartmut krank wurde. Er magerte ab, hustete, seine Haut bekam dunkle Flecken. Im Fieber verfluchte er seine Jahre auf dem Bahnhofsstrich. Dankte Erika für ihre Liebe. Dankte Mike für seine Liebe.
Oft saßen Erika und Mike an seinem Bett. Hielten jeder eine von Hartmuts Händen und weinten.
Eines Nachts flogen Backsteine in ihr Wohnhaus, in die Schaufenster des kleinen Autohauses. Auf die Motorhaube der E-Klasse hatte jemand "Schwule Sau" gesprayt.
Niemand kam zu Hartmuts Beerdigung. Ein paar Wochen später war sein Grab verwüstet.
Da griff Rita ein. Rita, die dem Volksmund nach die Perversion ihres Vaters geerbt hat und mit einer Frau zusammenlebt. Der liebenswerten, robusten Joanna.
"Mutter, du mußt hier weg." hatte sie gesagt. "Wir Kinder sind doch längst alle aus dem Haus. Hier hast du nur Feinde und Schulden. Mike wird auch wieder zurück in seine Männer-WG ziehen. Komm zu uns."

Erika hakt sich bei Rita und Joanna unter. "Schade, daß Mike nicht gekommen ist, um uns den Rücken zu stärken", bedauert sie.
Rita und Joanna lächeln. "Denk daran, er leidet sehr unter Vatis Tod", erwidert Rita. "Genau wie wir", seufzt Erika.
Schweigend gehen sie zurück zum Autohaus. Die Schaulustigen haben das sinkende Schiff verlassen.
Als Erika das Tor abschließt, reißt ein Hupkonzert sie aus den Gedanken.
"Spring auf, Erika!" ruft Mike und zieht sie in ein rosa Cabriolet. Seine Begleiter in den anderen Wagen hupen begeistert.
"Umzug für Hartmuts Witwe" steht auf ihren Bannern.

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