Der letzte Sapiens - 3. Minoische Gesänge
von Rouven Bronk (spinowachs)

 

3. Kapitel

Minoische Gesänge

Unser erster Auftritt im alten Europa war alles andere als perfekt. Als wir auf der Insel am Hang eines Berges auftauchten, ergriffen zwei Männer, die bunt gekleidet waren wie Harlekine, sofort die Flucht. Wir schauten einander an und beschlossen, dass wir uns erst einmal hinsetzten. Die Zeitreise hatte uns ziemlich durchgeschüttelt. Ganz in der Nähe lagen einige Felsstücke, die als Sitzmöbel dienen konnten. Wir legten unsere Bündel auf den Boden und ich ließ meinen Blick in die Runde schweifen: Wir sahen aus, wie aus einem Guss, weil wir kurzfristig uns entschlossen hatten, eine recht einheitliche Kleidung anzulegen. Auch Lira hatte sich für Beinkleider entschieden, die bequemer waren für die Reise. Die unaufdringlichen Farben des karierten frischen Looks traten gefällig ins Auge und der Leinenstoff ließ die Luft angenehm zirkulieren. Wir wussten, dass das Klima ähnlich mediterran warm sein würde, wie in unserer Zeit. Es war absolut angebracht, eine leichte Kleidung zu bevorzugen. An den Füßen trugen wir Sandalen und über den Hemden die roten leichten Mäntel, welche an den Säumen dunkelblau gefärbt waren.
Blau und Rot waren die Farben der Macht und auch unserer Kleidung. Vor 8000 Jahren, noch bevor die Seidenstraße existierte, kam ein Blau auf den Markt, welches als Lapislazuli bezeichnet wird. Dieses Blau ziert auch die Totenmaske des Tutenchamun. Später stellten die Ägypter erstmals aus Kupferschlacke einen blauen Farbton chemisch her: Ägyptisch-blau schmückt auch die Büste der Nofretete. Farben galten und gelten immer noch als Instrument politischer Kontrolle, hierbei stachen besonders die Römer hervor. Der Kaiser, und zwar nur der römische Kaiser, durfte das Purpur der Levante auf seinem Stoffen erstrahlen lassen. Später übernahm die römisch katholische Kirche das Purpur im Rahmen ihrer eigenen Machtinteressen. Wir verzichteten aus gutem Grund auf die Farben der unteren gesellschaftlichen Klassen (Brauntöne), denn wir wollten möglichst ungeschoren von unserer Mission zurückkehren und nicht auf irgendeinem orientalischen Sklavenmarkt landen. Die Farben unserer Kleidung und die Bündel, die mit Tauschobjekten gefüllt waren, unser relativ großer Körperwuchs sowie ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, sollten mit dazu beitragen, uns einen Weg zu bahnen zum Palast nach Knossos und uns auch wieder heil nach Hause bringen.
>Ist das heiß!< stöhnte André, während seine Augen verzweifelt nach einem schattigen Plätzchen Ausschau hielten.
Aber bis auf eine verkrüppelte kleine Kiefer, ein paar Meter entfernt von unserem Lagerplatz, war da nichts, was auch nur annähernd uns vor der Hitze der Mittagssonne hätte schützen können.
>Auf Anderran ist es nie so heiß< gab Orestes zur Antwort und strich sich durch seinen Vollbart. Wir waren inzwischen alle unrasiert, aber bei André und mir zeigte sich nicht viel an Bartwuchs und Lira war eine Frau – sie gefiel mir auch wesentlich besser ohne Bart.
Wir wollten ja ursprünglich als keltische Händler auftreten, die bekannt dafür waren, meist lange Haare und Bärte zu haben – das hatte alles nicht so ganz hingehauen. Später erfuhr ich, dass die Kelten durchaus sehr gepflegte Menschen waren und so etwas kannten wie Kulturbeutel, die auch Rasierzeug beinhalteten. Es stimmte: Die Geschichte wurde von den Siegern geschrieben und die Römer hatten die Kelten und Germanen meistens besiegt und so kamen die Unterlegenen naturgemäß auch nicht gut weg, sie waren eben ungebildete und unkultivierte Barbaren, für immer und für alle Zeiten!
Wenn man davon ausging, dass der ägäische Raum eine Art Schmelztiegel der verschiedensten Völkerschaften war, dann würden vier Fremdlinge mit relativ kurzen Haaren und gestutzten Bärten nicht sonderlich auffallen. Die zwei Männer, die bei unserer Ankunft geflohen waren, waren sicherlich total geschockt gewesen, als sich vor ihren Augen plötzlich ein Tor aus dem Nichts öffnete und vier Menschen „ausspuckte“. Wir hofften, dass die beiden nicht weiter über diesen Vorfall sprachen; wahrscheinlich würde ihnen sowieso niemand die Geschichte glauben.
>Sieh mal da, der Berg!< Lira hatte sich zur Seite gedreht und zeigte auf das rauchende Monument vor unseren Augen. Wir konnten es nicht fassen: Das war zweifelsfrei ein Vulkan!
Auf Kreta gab es aber keine Vulkane. Ich unterrichtete meine Begleiter über diese Erkenntnis. Orestes holte aus seinem Mantel den Multiverser hervor und begann, das Gerät zu überprüfen.
>Mit dem Multiverser ist alles in Ordnung. Wir müssten den Koordinaten nach, eigentlich auf der Insel Kreta sein<. Er unterzog dem Gerät eine erneute Überprüfung. Die Anderraner waren zweifellos die Leute mit den besseren Kenntnissen bezüglich dieser Technologie, aber wie man sehen konnte, hatten auch die sie nicht völlig im Griff.
>Na ja, man kann es auch so sehen: Es hätte schlimmer kommen können< meinte André und verscheuchte mit seinem linken Fuß eine Eidechse, die ihm zu Nahe gekommen war.
>Ja< gab ich ihm Recht >Der Spalt hätte sich auf dem Meer öffnen können oder direkt im Schlot des Vulkans!< erwiderte ich ziemlich ernüchtert.
>Wenn das hier nicht die Insel Kreta ist, wo sind wir dann?< wollte Lira wissen.
Unumwunden gab ich mein bescheidenes Wissen preis:
>Wir sind auf Thera gelandet – dem späteren Santorini. Und das da hinten am Hang des Berges ist höchstwahrscheinlich Akrothiri<.
Auf dem Berg über der Stadt war ein gemauerter Turm zu erkennen. Von ihm aus hatte man die Gegend und auch das Meer im Blick. Das war wichtig, um beispielsweise die Bevölkerung vor herannahenden Piraten zu warnen, aber auch die Aktivität des Vulkans konnte so in stetem Augenschein gehalten werden.
Die historischen Aufzeichnungen der Erde konnten nicht mit letzter Bestimmtheit sagen, wann der Vulkan die Insel auseinandersprengte, aber dass er es tat, war unumstritten. Wir schrieben das Jahr 1626 vor Christi Geburt und manche Leute hatten genau dieses Datum für den Ausbruch tatsächlich auf dem Zettel. Hinzu kam leider, dass der Rauch, der dem Vulkan entströmte nicht gerade ein Indiz für dessen Schläfrigkeit war. Mir war klar, dass wir von der Insel weg mussten.
Da Tom, unser Schnüffler aus Oakland nicht dabei war, glaubte ich berufen zu sein, eine gewisse Anführerrolle zu übernehmen. Zumindest fühlte ich mich in starkem Maße verantwortlich für die Gruppe, obschon mir niemand diese Verantwortung auferlegt hatte.
>Du weißt ja doch eine Menge über diese Zeit< meinte dann auch Lira zu mir, als ich von den Schiffen erzählte, die die Minoer auf die See gebracht hatten. Tatsächlich war ich mir sicher, unterhalb von Akrothiri im Hafen schon das passende Schiff ausfindig zu machen, um nach Kreta zu kommen.
>Du hast mich ja gelehrt, die Datenbank von Anderran zu nutzen. Ich hatte da noch einiges recherchiert< antwortete ich Lira.
Tatsächlich waren das überwiegend Informationen aus diversen Lexika und einigen wenigen Berichten anderranischer Besucher auf der Erde, die in der Antike unterwegs gewesen waren. Darüber hinaus wusste ich auch ein wenig über Vulkane Bescheid. Es bestand kein Grund zur Panik, so viel war klar. Der Vulkan könnte noch ein paar Jahre vor sich hin rauchen, ohne zum Ausbruch zu kommen, aber eine gepflegte Eile sollten wir dennoch an den Tag legen. Als wir gerade aufstehen wollten, um hinunter ans Meer zu gelangen, fiel mir Andrés Bündel auf, weil es sich zu bewegen schien.
>André, du hast doch nicht….< Mein Freund schnürte sein Bündel auf und entnahm ihm einen Rucksack, in dem sich der Gobiconodon befand. Das Tier kletterte langsam aus seinem Gefängnis, bewegte sich etwas kränklich, wie ich fand, auf Lira zu. Auf halbem Weg zu ihr blieb der Beutelteufel stehen und begann, in einen Ginsterbusch zu kotzen. Tatsächlich wuchsen hier außer Ginster auch Steineichen, Mastix (Pistazie) und Olivenbäume – Vulkanerde ist sehr fruchtbar und erlaubt unter Umständen auch den Anbau von Weintrauben.
>Na, prima, ein rauchender Vulkan, die falsche Insel und dann auch noch ein kotzender Dinosaurier!< ich versuchte, nicht allzu erschüttert zu wirken. André entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten, betonte aber die außerordentlichen Fähigkeiten dieses Tieres.
>Ich weiß nicht, im Moment, sehe ich nur einen Minisaurier, der sich übergibt< meinte ich zu André.
>Der hat bestimmt Jetlag< versuchte André sich mit einer Erklärung.
>Was ist Jetlag?< wandte sich Lira an meinen Freund und Hundenarr. Ich schaute unterdessen in Richtung Meer und meinte, einen Mast mit Segel auszumachen. Das war ein Schiff, welches sich auf Thera zubewegte. Ich war der Meinung, dass es ein Frachtschiff der Minoer wäre.
Es tat sich also etwas im Staat der antiken Handelsgiganten. Das war gut so und ich beschloss, mir einen kräftigen Schluck aus der Limonadenflasche zu gönnen, die Lira mir kurz vor unserer Abreise zugesteckt hatte. Das schmeckte köstlich, war äußerst erfrischend und überhaupt nicht süß – es war anderranisch. So etwas gab es auf der Erde nicht.
Ich strahlte Lira an und sie lächelte freudig zurück.
Da waren wir also: Zwei Bewohner eines drei Millionen Lichtjahre entfernten Planeten – je ein Mann und eine Frau – und zwei Erdbewohner aus dem 21. Jahrhundert, in der Ägäis unterwegs. Ihr Auftrag: Das Artefakt einer unbekannten Spezies zu finden, zu stehlen und auf einen fernen Planeten zu bringen, bevor sich das Multiversum in Wohlgefallen auflöst. Helfen sollten uns bei der Mission die besonderen Fähigkeiten der einzelnen Leute: Lira, Studentin der Astrophysik. Orestes, Student der Astrophysik und Kenner des antiken Roms. André, Musiker, mit Vorliebe für Jazz und Blues. Paul, Autor und Gärtner. Tatsächlich waren André und ich die einzigen, die zumindest rudimentäre Kenntnisse eines Handwerks besaßen.
Bevor wir gestartet waren, sollte Lira eigentlich noch den Sternenhimmel eines Teils der Andromedagalaxie kartografieren. Vielleicht konnten ihre Kenntnisse, auf dem Gebiet der irdischen Kartografie, noch nützlich sein. Orestes hatte ein Faible für fremde Kulturen und war geschickt im Umgang mit technischem Gerät, auch das war von Vorteil. So gesehen stand es gar nicht schlecht um uns. Und dann war da ja noch der Gobiconodon, der eine Art Schnüffler Ersatz für Tom sein konnte, vielleicht würde diese kleine Bestie uns ja im Palast von Knossos noch zu Diensten sein, wenn er sich von seinem Jetlag erholte, dachte ich, und bekam einen Lachanfall! Meine Gefährten waren äußerst verdutzt und Lira wollte wissen, was so lustig wäre und dann meinte Orestes:
>Sollen wir nicht besser zuerst nach Akrothiri?< und auch Lira hielt die Oberstadt für die bessere Wahl, um eine Schiffspassage nach Kreta zu bekommen.
>Wir könnten uns auch aufteilen< meinte Orestes weiter.
Vielleicht sollten wir uns erst einmal eine Genehmigung auf dem Planeten Anderran einholen oder ein Plenum einberufen lassen, mit der Dringlichkeitsstufe Zwei, dachte ich ziemlich abfällig und stellte fest, dass ich nach meinem Heiterkeitsausbruch, ziemlich übel drauf gekommen war.
Ich vermutete, es lag an dem mir selbst auferlegten Anspruch, das All retten zu wollen oder zumindest die Ärsche dieses ziemlich desolaten Haufens semiprofessioneller Abenteurer.
Ich war absolut schlecht gelaunt und beschloss, meinen Anspruch auf die Rettung des Universums aufzugeben!
Dann trat Orestes auf mich zu, drückte mir einen der anderranischen Kommunikatoren in die Hand und meinte:
>Wenn du hier das Display berührst, dann entfaltet sich eine Art Kommunikationsschirm über die Menschen, die sich in deiner Nähe befinden<.
Ich betrachtete das Smartphone ähnliche Gerät und entgegnete:
>Ich habe mich sowieso schon die ganze Zeit gefragt, wieso wir uns alle auf Deutsch unterhalten<.
>Ich verstehe nur anderranisch< erklärte Orestes weiter >Man vernimmt immer nur die Sprache, die man selber auch spricht.
Das Gerät ist so eine Art Simultan Übersetzer, nur dass es absolut niemandem auffällt, dass eine technische Finesse im Spiel ist, die die Kommunikation über alle Grenzen hinweg ermöglicht. Der Multiverser – übrigens – hat auch diese Funktion. Davon ist die Technik eigentlich abgeleitet<.
>Ich verstehe. Und welche Sprachen spricht das Gerät, ich meine, kann der Apparat auch minoisch?< wollte ich wissen. In Orestes` Bart konnte ich ein Grinsen erkennen, welches signalisierte: Ich habe nicht die geringste Ahnung!
In den folgenden Minuten beschlossen wir einvernehmlich, dass Lira mit Orestes nach Akrothiri gehen würde und André mit mir auf direktem Weg zum Hafen hinunter. Östlich von unserem Lagerplatz lag die Stadt, die sich an den Berghang schmiegte und sich bis an die Küste erstreckte, wo sich auch Lagerhäuser für die Waren befanden, die für den Überseehandel gebraucht wurden. Ich hatte gelesen, dass Akrothiri zu dieser Zeit etwa zwei bis neuntausend Einwohner hatte. Der Anzahl der Häuser und meiner visuellen Wahrnehmung nach, rechnete ich mit etwa 5000 Einwohnern, also etwa der Hälfte der lexikalischen Schätzung und tatsächlich eine kleine antike Stadt.
Die Sonne hatte inzwischen den Zenit überschritten. Es wäre gut, wenn wir heute noch die Überfahrt klar machen könnten, meinte ich eher beiläufig. Falls dies nicht klappt, müssten wir uns irgendeine Schlafgelegenheit organisieren. Wir verabredeten uns am Hafen um 18 Uhr und zwar am Anleger des größten Schiffes, welches dort vor Anker lag. Jeder von uns hatte nun einen der Kommunikatoren und so konnten wir auch miteinander telefonieren. Wir sollten dies aber nur im Ausnahmefall tun, um in der Öffentlichkeit kein Aufsehen zu erregen. Ich glaubte nicht an das Märchen vom weißen zivilisierten Mann, der von den „Wilden“ zum Gott erhoben wird, weil der technisch den „Primitiven“ ach so überlegen ist; vorstellen konnte ich mir dagegen allerdings sehr gut, dass ein telefonierender Mensch aus der Zukunft Misstrauen und Angst auslösen würde. Und das wiederum könnte sehr schnell zu Aggressionen führen, die uns nicht nur den Zugang zur Welt der Minoer verschließen würde, sondern auch das Scheitern der Mission zur Folge haben könnte.
Wir mussten uns so viele Optionen wie möglich offen halten, um in Kontakt treten zu können mit den Menschen, denn wir waren angewiesen auf Nahrung, Obdach und die Nutzung der Infrastruktur.
Da es als Zahlungsmittel noch kein Geld gab, mussten wir uns im Tauschhandel üben, auch das war eine enorme Herausforderung, vor der wir standen. Bei all den Überlegungen war klar, dass wir die Zeitlinie nicht verändern durften, das heißt: Unsere Spuren im Sand der ägäischen Geschichte mussten nach unserem Verlassen der Welt ganz schnell wieder vom Ozean der Zeit hinweggespült werden!
André hatte den Gobiconodon an eine Leine gelegt, die ihm Gondvira gegeben hatte. Offenbar hatte sich das Tier, nachdem es etwas getrunken hatte, wieder von der Zeitreise erholt, denn es lief nicht nur flott daher, sondern zog geradezu an der Leine, sodass André Schwierigkeiten hatte, Trumpy zu folgen.
Wir liefen den Hang hinunter, bis wir auf einen Pfad gelangten, der offenbar von den Bewohnern der Insel häufig genutzt wurde, denn er war gut befestigt, und hier konnten wir entschieden komfortabler unseren Fußmarsch fortsetzen. Lira und Orestes hatten wir inzwischen aus den Augen verloren und in mir machte sich allmählich ein Misstrauen gegenüber den Anderranern breit. Wieso drängte Orestes auf eine Weiterreise mit Lira in Richtung Stadt?
Aber der wirklich entscheidende Punkt für meine negativen Gefühle war der, dass wir nicht am richtigen Ort gelandet waren. Wie konnte es sein, dass eine technisch so hochstehende Zivilisation, wie die der Anderraner es nicht fertigbrachte, ein Gerät so zu konfigurieren, dass es auch einwandfrei funktioniert? Stattdessen brachte die Technik seine Reisenden um 100 Kilometer vom Kurs ab; Kreta lag genau diese Distanz von uns entfernt.
Fast drängte sich mir der Verdacht auf, diese „Kursänderung“ sei beabsichtigt. Ich erzählte während unseres Abstiegs zum Hafen, André von meinem Verdacht.
>Komisch ist es schon, aber ich würde das nicht überbewerten< versuchte André mich zu beschwichtigen. Ich solle mir da nicht zu viele Gedanken machen, denn die Technologie und ihr fataler Einfluss auf das Leben im All, das sei es ja schließlich, warum wir hier wären, und ganz offensichtlich seien auch und gerade die Anderraner völlig überfordert mit dieser Technologie, da sei eine Kursabweichung von 100 Kilometer eigentlich gar nichts im Vergleich zum Verschwinden ganzer Sonnen. Da hatte er absolut Recht!
Ich begann an mir selber zu zweifeln. Ich hasste dieses Misstrauen und alles was damit zusammenhängt. Mein Selbstwertgefühl geriet ins Wanken, und physisch tat ich dies auch, denn ich stolperte über einen Tuffstein, den der Vulkan „verloren“ hatte, konnte mich aber noch so gerade wieder fangen.
>Wir sind gleich am Hafen< meinte André beruhigend >dann kannst du dich ausruhen. Ich schaue mir dann mal die Schiffe an und versuche, die Reise nach Kreta klarzumachen<.
Das hörte sich für mich extrem gut an. Ich war nämlich ziemlich fertig mit den Nerven und fühlte mich nicht in der Lage, etwas wirklich konstruktives am Hafen zu unternehmen.
Ich musste an Gondvira denken; mir war aufgefallen, dass auch sie nicht gesund war, ich hielt sie tatsächlich für depressiv. Auch mich hielten depressive Schübe immer wieder gefangen und führten zu Blockaden und starken Beeinträchtigungen in meiner Flexibilität.
Manche Dinge, die meiner vollsten Konzentration bedurften, konnte ich dann nicht mehr erledigen. Angst, Schweißausbrüche, bis hin zu Kreislaufstörungen, Unterzuckerung und letztlich sogar Herz-Rhythmusstörungen, wegen derer ich auch kurz vor meiner Abreise aus Aachen noch in Behandlung war, waren die Folgen letztlich von Depression. André kannte all die Probleme von mir und umgekehrt war es genauso. Es bedurfte nicht der vielen Worte, damit wir uns verständigen konnten und das tat gut, beruhigte und ließ die langjährige Freundschaft, die uns verband, zum größten Schatz werden, der mit nichts im materiellen Sinne vergleichbar war.
Und dann fiel mir auch ein, was mir wirklich den Rest gegeben hatte: Als Lira fortging mit Orestes, war das für mich, als ginge sie für immer, als wäre die vertraute Zweisamkeit tatsächlich schon wieder Geschichte.
Vielleicht hatte Tom Recht: Er gab mir auf Anderran zu verstehen, dass meine Liebesbeziehung von nicht allzu langer Dauer sei - nach seiner Einschätzung; nicht ganz, denn Tom war ja ich, oder zumindest mein Parallelwelt Doppelgänger und ich bzw. Tom wusste ziemlich genau Bescheid über die Irrungen und Wirrungen bezüglich meiner und seiner Frauengeschichten.
Ich zog mir gerade meine Kopfbedeckung auf, die aus einem simplen hellblauen Tuch bestand, welches ich im Nacken verknotete, als André mit dem Finger auf das Frachtschiff zeigte, welches langsam auf den Hafen zusteuerte:
>Das sieht doch gut aus – wie bestellt!< meinte er zufrieden.
>Das ist eines dieser größeren Pötte mit über vierzig Ruderern< entgegnete ich. Und dann sahen wir auch, dass die Minoer im Konvoi über das Meer fuhren. Wir zählten insgesamt acht Schiffe: Der große Frachter, vier kleinere Handelsschiffe und drei Wasserfahrzeuge, die ebenfalls von kleinerer Bauart waren und so etwas wie einen Rammsporn am Kiel befestigt hatten, wahrscheinlich zur Abwehr von Piratenschiffen.
Wir legten einen Zahn zu, denn wer wusste schon, was der Vulkan im Schilde führte und außerdem hatte ich vor, mich nach dieser Mission zur Ruhe zu setzen; das hatte ich soeben beschlossen! Je früher wir nach Kreta kamen und dem Palast von Knossos unsere Aufwartung machen würden, umso besser.




Am Hafen in der Unterstadt von Akrothiri angekommen, löste André sein Versprechen ein, übernahm das Anheuern für die Überfahrt und ging den Strand hinunter, um die Ankunft eines passendes Schiffes abzuwarten. Ich achtete derweil auf Trumpy, der sich artig wie ein Schoßhund vor meinen Füßen zusammenrollte, während ich es mir auf einer Holzkiste bequem gemacht hatte. Von meinem Sitzplatz aus hatte ich einen guten Überblick über den Handelshafen von Akrothiri und die Häuser der Stadt, die sich harmonisch in die spärliche Landschaft einfügten. Der Stil der meisten Bauten war unauffällig und schlicht, meist zwei- bis dreistöckig und häufig mit Lehm verputzt. Das hielt die Räume im Sommer kühl und im Winter isolierte der Putz die Häuser und hielt die Wärme im Haus. Ich erinnerte mich an den Bauhausstil der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und bekam eine Vorstellung von der pragmatischen Intention der Architekten. Nicht Pomp und glamouröser Exzess sollten vorherrschen, sondern Funktionalität sowie klare Formen und Linien.
Die Baumeister der ägäischen Antike hatten den Weimarer bzw. Dessauer Stil schon im 17. Jahrhundert vor unserer Zeit vorweggenommen. Wenn mein Blick bei den Häusern weilte, hatte ich nicht das Gefühl, 3600 Jahre entfernt zu sein von meiner eigentlichen Realität. Ich freute mich schon auf die Gespräche mit André, der einige Jahre Architektur studiert hatte; er würde bestimmt mit einigen Details aufwarten, die ich noch nicht kannte.
Von der landläufigen Vorstellung, den Begriff „Hafen“ betreffend, musste man sich auf Thera verabschieden. Es gab keine lärmenden Maschinen, noch verpesteten Abgase die Luft. Stattdessen war die Umgebung aromatisiert von den Gerüchen der ägäischen Macchie: Ein Konglomerat von Düften der verschiedensten Blüten, Blätter und Gehölze. Und in das Gewebe dieses betörenden Aromateppichs ergoss sich schließlich der salzige, alles überragende Duft der weiten ägäischen See.
Es gab zwei Naturbuchten, die genutzt wurden, wo die kleineren Schiffe und Boote an Land gezogen wurden, um sie dort zu be- und entladen. Zusätzlich gab es noch eine Kaimauer, die sich an der Landzunge befand und die zwei Buchten voneinander trennte. Wahrscheinlich würden hier die größeren Frachter anlegen. Vor mir am Strand befand sich ein kleineres Schiff, von dem gerade Amphoren entladen wurden. Muskulöse, dunkelhäutige Männer packten die Teile, als wären sie Leichtgewichte. Ich spürte, wie mir der Rücken schmerzte – ein Phantomschmerz, der ein „Geschenk“ meiner langjährigen Arbeit im Gartenbau war. Etwas höher am Strand verlief eine gepflasterte Straße, von dort kamen dürftig bekleidete Arbeiter mit einigen Eseln den Strand hinunter. Von hier aus, so nahm ich an, würden die angelandeten Waren dann zu den Lagerschuppen und Speichern transportiert werden, die etwas weiter, an einigen Strandhäusern vorbei, auf halbem Weg zu der zweiten Bucht sich befanden. Am Nachbarstrand schien das Treiben nicht so groß zu sein. Dort befand sich hauptsächlich der Bereich der Fischer, die dort ihre Boote reparierten, die Netze flickten. Einige der Männer saßen oder lagen im Schatten ihrer Boote. Es war kurz nach Mittag und sehr heiß, das hieß: Siesta auf minoisch.
Als das Flaggschiff des Konvois in den Hafen einfuhr, erblickte ich auch André, wie er die Mole entlangging. Er war nicht alleine dort. Auch hier warteten Männer auf die Waren, die bald von ihnen entladen würden. Kräne und ähnliche moderne Hilfsmittel der Hafentechnik konnte ich nirgends erblicken. Das puristische Treiben des antiken Handelsverkehrs kam ohne Motorenlärm und digitale Technik aus, aber was mich am meisten erstaunte: Es gab keine Sklaven auf Thera! Nirgends ein Aufseher, niemand, der gellende Kommandos schrie, kein brutaler Menschenschinder, der die abgemagerten Leiber malträtierter und völlig entrechteter Menschen zu Tode quälte. Ich hatte die Antike bis hier hin immer als eine Sklavenhaltegesellschaft definiert. Zum Teil, und vor allem bezogen auf die römische Gesellschaft, stimmte dies auch, aber was den minoischen Außenposten auf Thera anbelangte, kam der Handelsstaat ganz offensichtlich ohne die Sklaverei aus. Das empfand ich als sehr beruhigend, äußerst modern, human und wirtschaftlich effizient. Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt mit deren eigener Hände Arbeit verdienten und den Job sogar gerne machten, waren motivierter und für sie musste kein Heer von Aufsehern und auch sonst keine Logistik bereitgestellt und letztlich finanziert werden. Ich war wirklich sehr angetan von dieser Facette einer zutiefst für mich humanistischen Einstellung der minoischen bzw. kykladischen Politik, denn streng genommen gehörte Thera zu den griechisch-kykladischen Inseln und war kein Teil eines minoischen Imperiums. Zu den Kykladen gehörte beispielsweise auch die Insel Melos, die eine Seereise von einem halben Tag entfernt lag und die ebenfalls zum minoischen Netzwerk des Seehandels gehörte.
Thera war ein minoisch dominierter Handelsposten, dessen Bewohner Importartikel aus Kreta schätzten. Darunter befanden sich Keramik ebenso wie Olivenöl oder auch Schmuck, dessen Materialien häufig aus Ägypten kamen, wiewohl auch der ägyptische Einfluss in Akrothiri in Form von stilvollen Fresken sich widerspiegelte: Alltagsszenen, die sich offenbar im Nildelta abspielten waren keine Seltenheit. Die Malereien und übrigen bildlichen Darstellungen wurden in den Wohnstuben so positioniert, dass sie von der Straße aus Beachtung finden konnten. Hierbei öffnete man bereitwillig die Fenster in Nord-Südrichtung, wobei dies den zusätzlichen Effekt einer natürlichen Klimaanlage hatte und es so im Sommer in den Häusern angenehm kühl blieb. Die Anwohnerschaft sollte sehen, wie man lebte und wofür man stand. Wenn im 21. Jahrhundert die Bürger einer Stadt ihre 250 PS Boliden vor dem Haus parkten und den Lack des Wagens mit tiefster Inbrunst auf Hochglanz polierten, dann war das vielleicht etwas ähnliches und spiegelte den Status wider und die Hingabe an den materiellen Wohlstand, den jemand vorzuweisen hatte.
Der Frachter hatte inzwischen angelegt. Ich ging davon aus, dass es ein minoischer war, konnte es aber nicht mit Bestimmtheit sagen. André stand jetzt ganz nah bei den Hafenarbeitern und redete mit einem von ihnen. Dieser deutete schließlich auf den in purpur gehüllten Mann, der auf einer Art Thron im Heck des Schiffes saß. Auf dem Kopf trug er eine safrangelbe Mütze mit einem orangenen Bommel. Da legst dich nieder, dachte ich, der Kerl sieht ja aus in seinen Klamotten, dem können wir nichts mehr andrehen, was er nicht schon hat! Purpur und Safran, da blieb uns wirklich nur der Bernstein zum Handeln. Mit ein paar karierten pseudo- keltischen Stofffetzen konnten wir da unsere Schiffspassage vergessen. Ich ging davon aus, dass der Typ mit dem Bommel an seiner Mütze der Kapitän war – wer sonst!
Und den musste André jetzt herumkriegen, aber für solche Aufgaben war mein Kumpel genau der Richtige. In seiner düsteren Vergangenheit war er im Rahmen seines Drogenkonsums auch auf die Geschäfte der Straße angewiesen. Das war eine harte Schule und er hatte sich da über viele Jahre hinweg zwar keinen Namen gemacht, aber immer das bekommen, was er haben wollte. Der Kerl würde das schon machen. Ich hatte absolutes Vertrauen in die Kompetenzen meines Freundes und zudem genoss ich es, am Strand zu sitzen und einfach mal keine Last von Verantwortung zu spüren.
Auch die anderen sieben Schiffe füllten allmählich die Bucht dieses kleinen Naturhafens. Einige der kleineren ankerten in seichtem Gewässer und wurden von Ruderbooten empfangen, die später die Fracht von dort an Land brachten. Zwei Schiffe mit je einem Dutzend Ruderern an Bord hielten Kurs auf den Strand; es waren die Schiffe mit Rammsporn am Bug, es waren kleine und vor allem wendige Kriegsschiffe, die der Piratenabwehr dienten. Die Ruderer waren zugleich kampferprobte Soldaten, die speziell für diesen Job angeheuert wurden. Man könnte auch sagen, es waren Söldner im Dienste einer Handelsmacht, die einen Konvoi vor den Räuberbanden der Meere schützten.
Oh Gott, dachte ich, hoffentlich kommen die jetzt nicht auf mich zu, dann ist es mit der Ruhe vorbei! Ich schaute auf den Gobiconodon, der im Schatten meines Körperprofils lag und schlief. Na toll, dachte ich weiter, auf den Saurier kann ich auch nicht unbedingt bauen, sollte es Ärger geben.
Die „Soldaten des Minos“ hatten ihre Ruder eingeholt und waren bereit, an Land zu gehen, als der Boden anfing zu wackeln. Sofort streckte der Gobiconodon seinen ledrigen Hals in die Höhe. Etwas spät, aber immerhin, dachte ich, merkt das Tier doch, dass was mit der Erde nicht stimmt. Da hatten wir also nach unserem Aufenthalt im Jura wieder ein Erdbeben. Die Soldaten schienen verwirrt zu sein: einige wollten wieder auf das Meer zurück, andere an Land. André hatte auf der Mole auch keinen leichten Stand, aber die Mauer hielt – noch. Der Kapitän war inzwischen auf der Mole und wurde von seinem Steuermann begleitet, der ein unauffällig gekleideter Typ mittleren Alters war. Ich muss mich korrigieren: Es war eine Frau! Unter der Mütze, die sie nun abnahm, quoll eine endlos lang erscheinende Mähne hervor, dunkelblond und an einer Seite zu einem Zopf geflochten. Die Frau schien überhaupt nicht erschreckt zu sein, offenbar ein gewisser Gewöhnungseffekt. Und auch der Kapitän blieb cool. Tatsächlich hatte André die Chuzpe, den Kapitän anzusprechen und in ein Gespräch zu verwickeln.
Das Beben hatte aufgehört; die Soldaten hatten es vorgezogen, in ihren Booten zu bleiben. Der Kapitän und sein Gefolge gingen die Mole hinunter zum Strand und bewegten sich dann auf die Stadt zu. André gestikulierte noch ein paar mal und verließ dann die Gruppe und kam langsam auf mich zu. Trumpy hatte sich losgerissen, um sein Herrchen zu begrüßen. Der Saurier hatte das Bellen immer noch nicht erlernt. Wie auch, wir hatten bis jetzt die wildesten Geschichten erlebt, aber ein Hund war mir bisher noch nicht vor die Füße gelaufen. Von daher hatte sich meine Reise wirklich gelohnt: Ich bewegte mich offenbar in hundefreien Zonen.
>Hey, alles klar< frohlockte André >Der Deal ist so gut wie gelaufen!<.
Nach dem kurzen Erdstoß war dies nun wirklich eine gute Nachricht.
>Wir sollen heute Abend beim Captain erscheinen. Der wohnt da oben im Westteil der Stadt< André deutete in die Richtung der Oberstadt von Akrothiri, von wo aus der Kapitän eine hervorragende Sicht auf das Meer haben würde – wie sich das gehört für so einen wichtigen Mann, dachte ich etwas ironisiert. War ich etwa neidisch? Bevor ich den Gedanken weiterspinnen konnte, unterbrach mich mein Freund:
>Und, was sagst du dazu?<
>Ich...ja, hervorragend, danke, ich hatte eine tolle Zeit hier am Strand und Trumpy geht`s auch ganz gut<
André schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren:
>Was du davon hältst, wollte ich wissen<.
>Ach so, entschuldige bitte. Ja, natürlich. Hast du gut gemacht. Die Nachwelt wird dir ein Denkmal setzen< meinte ich.
>Das ist das Mindeste, was ich erwarte!< war die Antwort. Er schien nicht pikiert zu sein, ob meiner schon fast zynischen Bemerkung wegen des Denkmals. Ich war tatsächlich stolz auf meinen Kumpel.
Sich in einer so fremden Welt zu bewegen, einen Handel abzuschließen mit dem Kapitän eines minoischen Frachtschiffes – das war schon was. Ich dankte André, dass er diesen Part übernommen hatte und war wirklich froh, eine kleine Auszeit gehabt zu haben am Strand der Insel Thera, am Fuße von Akrothiri.
>Ich werde mal unsere beiden Begleiter anrufen< meinte ich zu André. Lira und Orestes waren da oben in der Stadt und brauchten sich nun nicht mehr zu kümmern um eine Passage nach Kreta. Wir mussten jetzt nur noch bestimmen, wer alles zum „Captains Dinner“ hingehen sollte. Vor allem konnten wir den Saurier nicht in die gute Stube eines minoischen Kapitäns mitbringen; das war völlig ausgeschlossen!


Die Dämmerung hielt Einzug über der Insel. Das Meer war ruhig und der Mond schien genauso hell und klar, wie ich das aus meiner Heimat kannte. Orestes und Lira waren zu uns an den Strand heruntergekommen. Sie wollten beide unbedingt das terranische Meer aus der Nähe sehen. Während wir dem Rauschen der Wellen lauschten, nutzten wir die Zeit bis zu unserem Treffen bei dem Kapitän, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen.
Als es bereits dunkel wurde, standen wir vor dessen Haus in der Oberstadt. Die gepflasterte Straße führte an einem dreieckigen Platz vorbei, an dem sich dicht beieinanderstehend eine Bebauung mit Wohnhäusern und Werkstätten anschloss. Es war noch sommerlich warm und wir konnten das Zirpen der Zikaden vernehmen. Die Luft war am Abend noch intensiver angereichert von den Aromen der Wildblumen und den ätherischen Ölen einiger Gehölze, die frisch geschlagen in der Nähe des Anwesens fein säuberlich aufgestapelt auf ihren Abtransport warteten.
>Ich nehme dann den Saurier mit< meldete sich Lira freiwillig; sie hatte offensichtlich großen Gefallen gefunden an den landschaftlichen Reizen von Thera. So nahm sie also Trumpy an die Leine und spazierte mit dem Reptil weiter den Berg hinauf. Weil der Mond inzwischen ziemlich hell am Himmel stand, konnte man sich auch am Abend so leidlich orientieren. Natürlich gab es keine wie auch immer geartete Beleuchtung, abgesehen von einigen wenigen Fackeln, die in der Stadt hin und wieder entzündet wurden, um einen Weg oder ein Haus zu beleuchten. In der Regel endete das Tagewerk der meisten Menschen bei Einbruch der Dunkelheit. Nur einige wenige Menschen trafen sich in ausgewiesenen Kneipen zu einem Umtrunk und Spielchen. Darunter befanden sich Soldaten, Ruderer und Hafenarbeiter.
>Repräsentativ< entfuhr es mir, als ich das Gebäude betrachtete. Mit einer Fassadenlänge von 15 Metern unterschied es sich deutlich in der Größe von den Gebäuden der Umgebung. Dieses hier hatte drei und zwei Stockwerke, große Fenster und ein Portal, welches in der Mitte einen bronzenen Ring mit dem Antlitz eines Löwen aufwies. Neben dem Eingang befand sich ein kleines Fenster, welches sogleich geöffnet wurde, um die Besucher in Augenschein zu nehmen. Der Janitor – so wurde in der Antike der Hausmeister und Pförtner genannt – öffnete anschließend wortlos die Tür. Im Flur des Hauses stand eine hellhäutige Frau mit blonden Haaren. Es war die Person, die ich auf dem Frachter zuerst für einen Mann gehalten hatte, die aber tatsächlich die Adoptivtochter des Kapitäns und auch die Steuerfrau des Schiffes war, mit welchem wir unbedingt nach Kreta reisen wollten.
>Seid alle herzlich gegrüßt und willkommen im Hause meines Vaters!< lud sie uns ein, ihr in das oberste Stockwerk zu folgen. Wir kamen der Einladung gerne nach. Ich hatte inzwischen Hunger bekommen und spekulierte auf ein großzügiges Abendessen. Meine Erinnerungen gingen hierbei an Bifteki und griechischen Bauernsalat mit Fetakäse und sonnen gereiften Tomaten. Die Tomaten würde ich mir wohl abschminken müssen, denn die brachte erst Kolumbus nach Europa und zwar sehr viel später in der Zukunft.
Der Janitor trat an die Spitze unserer Gruppe und erhellte mit einer Fackel das Treppenhaus. Das war auch nötig, denn es gab hier keine installierten Lampen, die der Räumlichkeit die Finsternis genommen hätte. Im dritten Stockwerk angekommen, betraten wir hingegen einen herrschaftlichen Raum, an dessen Wänden ausreichend Öllampen hingen, die den Saal in ein angenehm warmes Licht tauchten. Deutlich zu erkennen war an einer der Wände ein Gemälde, welches eine Flotte von Schiffen zeigte; aufgrund seiner ockerfarbenen Zeichnung schien es mit dem Licht des Raumes eine Art Symbiose einzugehen. Das Gemälde schien sich von der Wand lösen zu wollen und die Schiffe hinaus zu segeln in den Raum, in dem wir uns befanden. In der Mitte des Saales stand in bunter Abendgarderobe der Kapitän, der eher ein kleiner König zu sein schien. Er schritt nicht auf uns zu, sondern auf das Wandgemälde, welches sehr viel später als sogenannter Westhaus Fries in die archäologische Geschichte der Ägäis eingehen würde.
>Das hier – bin ich!< und er deutete mit einem Zeigestock auf die Kajüte eines der abgebildeten Schiffe. Eine Person war da unmöglich zu erkennen, aber die Imagination schafft ihre eigenen Bilder, dachte ich bei mir.
>Oh, wie unfreundlich und ungastlich ich doch bin< entschuldigte sich der Kapitän mit deutlich theatralischer Geste. >Bei Demeter und Gaia! Bringt das Essen für meine Gäste!< klatschte er laut hörbar in die Hände und prompt brachte eine Dienerschaft feudale Speisen in den Raum, die alsbald eine lange Tafel füllten. Das übertraf selbst meine kühnsten Fantasien – ich wähnte mich wie in einem dieser Filme von beispielsweise „Das große Fressen“ oder bei einer Festivität des Lukullus auf seinem römischen Herrensitz.
Als ich mich über eines der gebratenen Geflügeltiere hermachte, konnte ich beobachten, wie sich auf einem Schemel in einer der Ecken des Raumes eine ägyptische Falbkatze es sich bequem gemacht hatte. Diese Tiere waren so hässlich, da hätten wir durchaus auch unser Gobiconodon mitbringen können, dachte ich inzwischen vergnügt, während sich mein Bauch mit den erlesenen Genüssen der minoischen Tafel füllte. Bei einem vorzüglichen Essen bekam ich immer gute Laune, aber wehe, ich schob einen Hungerast, dann konnte ich bisweilen nicht mehr klar denken und näherte mich unwillkürlich depressiven Verstimmungen.
Unser Kapitän glaubte, in Orestes eine Art Führungspersönlichkeit, zu erkennen, denn er sprach beinahe nur ihn direkt an. Dabei schaute er Orestes tief in die Augen, als er über die Geschichte seines einzigartigen Triumphzugs vom ägyptischen Nildelta nach Akrothiri parlierte. Die Wandmalerei würde genau dieses Ereignis wiedergeben und nicht etwa eine religiöse Prozession, wie von einigen Zeitgenossen angenommen.
>Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt – ich bitte nochmals um Verzeihung! Apostis ist mein Name. Gouverneur von Akrothiri und Kapitän in der minoischen Flotte des Königs von Knossos<. Hier waren wir genau richtig, besser hätten wir es nicht treffen können. Apostis legte seinen Zeigestock zur Seite und setzte sich an die Spitze der Speisetafel. Sein Stuhl war unverkennbar größer als die, auf denen wir saßen.
Dieser Mann war ein Selbstdarsteller erster Güte, aber nicht über Gebühr arrogant. Dabei verband er geschickt die Inszenierung seines Selbst mit der Larmoyanz seiner Untergebenen und so gelang ihm ein Spagat zwischen autoritärem Auftritt und kumpelhafter Freundlichkeit. Über allem schwebte dabei eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber zu viel Ernsthaftigkeit. Eine leicht spöttische Erhabenheit schien eines seiner Charaktermerkmale zu sein. Dieser Mann war weder ein brutaler Militarist, noch ein korrupter Politiker. Er verstand etwas von den Menschen und dem Handel, soviel hatte ich inzwischen aus dem Monolog unseres Gastgebers erfahren können.
>Das ist meine Tochter Anis< Apostis deutete auf die blonde Frau, die am anderen Ende der Tafel saß.
>Guten Abend Anis!< sagten wir beinahe gleichzeitig und bemüht stilvoll. Ich glaubte, wir würden noch an unserem Protokoll arbeiten müssen, denn wir wirkten eher bemüht und angestrengt, als authentisch und ehrenwert. Aber wir hatten ja alle Zeit der Welt, dachte ich weiter.
>Ihr Besucher aus den Landen der dunklen Wälder und der Nebel – ihr verschweigt mir etwas<. Nun schwiegen wir tatsächlich. Doch dann unterbrach Anis die unerträgliche Stille – mir war gerade ein Stück Geflügel im Hals stecken geblieben und ich musste mich räuspern.
>Mein Vater, Hüter des Hauses von Laris, vermisst eure Begleiterin. Er hätte euch gerne alle gemeinsam kennengelernt, bevor es morgen auf die beschwerliche Reise nach Kreta geht<. André konnte als erstes seine Stimme wieder erheben:
>Unsere Freundin Lira geht gerade mit dem Hund um den Block<. Ich musste mich erneut räuspern, ob dieser etwas ungelenken Äußerung meines Freundes und ergänzte:
>Wir haben auf unserer Reise ein Haustier mitgenommen und wollten es nicht in euer Domizil mitbringen, um euch nicht zu beleidigen<.
>Ein Haustier, ein neues Haustier!< rief Apostis vergnügt >Ihr müsst das Tier und natürlich auch die Frau sofort hierher bringen – ich muss beide unbedingt kennenlernen!<.
>Ich bitte, mich zu entschuldigen, ich werde die beiden suchen< antwortete André und trat ohne Umschweife den Weg nach draußen an. Ich folgte ihm nach, weil ich ihm ein paar Worte unter vier Augen zu sagen hatte. Nachdem der Janitor uns bis vor die Haustür begleitet hatte, meinte ich zu André:
>Was hast du dem Kapitän geboten, dass er uns behandelt wie Adelige?< die ganze Zeit brannte mir die Frage schon auf den Nägeln, sah mich aber außerstande in dem formellen Rahmen André damit zu konfrontieren.
>Drei der zwölf Bernsteine von Anderran, mehr nicht< gab André zur Antwort. Soviel war nun klar: Bernstein schien tatsächlich über alle Maßen begehrt zu sein.
Zumindest konnte Apostis diesen Gaben nicht widerstehen, um seinen Reichtum zu vermehren - und weiter an seinem Image zu arbeiten.
>Okay< meinte ich >Dann haben wir mit dem Klunker ein äußerst wichtiges Handelsgut<. Ich verabschiedete mich von André, der in die mondbeschienene Nacht hinausschritt, um unsere Begleiterin zu suchen. Da fiel mir ein, er konnte sie ja anrufen:
>Hey André!< ich machte das Zeichen für Telefon, als sich mein Freund gerade zu mir umdrehte. Der verstand sofort und entnahm seinen Mantel den Kommunikator, um Lira anzurufen. Ich ging wieder zurück ins Haus, um keinesfalls etwas zu verpassen von der Unterhaltung zwischen dem minoischen Kapitän und unserer kleinen Gruppe aus der Zeit gefallener „Weltenretter“.
>Ah, da seid ihr ja wieder, geschätzter Paul aus dem Norden< begrüßte mich Apostis, als ich den Saal betrat >Orestes hat mir von eurer abenteuerlichen Reise erzählt – setzt euch, setzt euch!< und schob mir einen Stuhl unter den Hintern. Ich griff erneut zu den Leckerbissen der Tafel, nicht etwa weil ich Hunger hatte, sondern weil ich überlegen musste. Was hatte Orestes dem Gouverneur erzählt? Wir durften jetzt keine widersprüchlichen Berichte abliefern. Dieser blöde Gobiconodon, dachte ich, wären wir alle sofort zu dem Empfang gegangen, wäre jetzt nicht diese prekäre Situation eingetreten. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und erneut spürte ich die dominante Präsenz des Wandgemäldes, welches den gesamten Raum einzunehmen schien.
>Auch wenn wir im Norden nicht so fortschrittlich sind wie ihr, Gouverneur, so verfügen wir dennoch über Schiffe< ich deutete mit dem rechten Zeigefinger auf das Fries.
>Natürlich haben wir keine so exquisiten Wandgemälde, aber unsere Bildhauer schaffen großartige Werke aus Stein und Holz. Bei unserer nächsten Reise werden wir einige Statuetten mitbringen, um sie als Handelsware anzubieten<. Ich war begeistert über meinen verbalen Auftritt. Ich liebte es, mich in Understatement zu üben, aber gleichzeitig auch eine gewisse Kaltschnäuzigkeit an den Tag zu legen. Das hatte mir in Situationen wie diesen schon oft den Hals gerettet. Eine kleine Prise Unterwürfigkeit gepaart mit Selbstbewusstsein und einer geschliffenen Sprache kam bei den meisten Leuten gut an und zollte Respekt beim Gegenüber. Wie ich richtig vermutet hatte, biss der Kapitän auch sofort an:
>Ja, das Gemälde – es ist das Schmuckstück meines Domizils. Erzählt bitte von den Schiffen in eurer Heimat!< forderte er mich auf. Ich kannte mich ein wenig mit Wikingerschiffen und einfachen modernen Segeljachten aus und begann aus einer bunten Mixtur aller möglichen Schiffs- bzw. Bootsgattungen zu plaudern. Dass zwischen den Wasserfahrzeugen Jahrtausende Entwicklung standen, machte nichts aus. Je bunter und blumiger die Geschichten, um so faszinierter war mein Gegenüber.
Offenbar hatte ich Orestes inzwischen den Rang abgelaufen, denn nun hatte sich ein prächtiger Dialog entwickelt zwischen Apostis und mir – Orestes gähnte einmal hinter vorgehaltener Hand. Wahrscheinlich war er froh, dass er mal Pause hatte und nicht ständig den Erzählungen unseres Gastgebers zuhören zu müssen. Anis saß die ganze Zeit, ohne ein Wort zu reden, am anderen Ende der Tafel; dabei war sie aber nicht teilnahmslos, ich konnte spüren, wie sie jedes Wort aufsaugte, wie ein Schwamm.
Nie würde ich diese Frau unterschätzen. Ihre ruhige und zurückhaltende Art war ein Zeichen der inneren Stärke, und ihrem Gesicht entnahm ich, dass sie eine unglaublich leidvolle Vergangenheit besaß, aus der sie aber souverän und selbstbestimmt hervorgegangen war. Auch damit lag ich richtig, wie sich später noch zeigen würde.
>Wein, wo bleibt der Wein?!< Apostis klatschte erneut in die Hände und wieder traten in grobe Wollstoffe gekleidete Diener an die Tafel heran, um Karaffen mit alkoholischen Getränken abzustellen. Für seine Gäste aus dem hohen Norden schien Apostis vor keiner abstrusen Idee zurückzuschrecken, um als Gastgeber zu gefallen: Skandinavische Trinkhörner, die in Gestellen aus Olivenholz ruhten, sollten die Freude am Trinken steigern. Unter anderen Umständen hätte ich diesen Ort nicht mehr verlassen wollen, aber da ich inzwischen bekennender Abstinenzler war, schlitterte ich nun in die nächste Bredouille. Wie da rauskommen, ohne den Gouverneur zu brüskieren?
Wieder kam mir ein glücklicher Umstand zu Gute. Just in diesem Moment wurde der metallene Ring gegen das Portal geschlagen und Apostis fühlte sich berufen, selber die Tür zu öffnen. Ich nutzte seine kurze Abwesenheit, um den gefüllten Trinkbecher zu entleeren und zwar aus dem Fenster, im hohen Bogen in den Hinterhof des Anwesens. Einen weniger, dachte ich. Orestes und Anis beobachteten das Ganze etwas ratlos. Ich konnte nur auf deren Diskretion hoffen und bedeutete ihnen durch Zeichen, bitte Ruhe zu bewahren. Wenig später betraten dann auch schon Lira, Apostis und André in Begleitung von Trumpy den Raum. Dann ging alles sehr schnell: Die ägyptische Falbkatze erzeugte sofort bei Erscheinen des Sauriers einen Buckel und begann unüberhörbar zu fauchen. Trumpy, in keinster Weise beeindruckt, einfach nur Saurier seiner Zeit und Fleischfresser, das Maul weit aufgerissen, um sein vermeintliches Opfer zu verzehren, lief schnurstracks auf die Katze zu. Das hätte das Tier besser nicht getan, denn Trumpy bekam eins mit den ausgefahrenen Krallen des Ägypters gewischt, dass der wohl mehr geschockt als wirklich verletzt, sofort Abstand nahm von der Katze. Da ist unser Umgang ja etwas zivilisierter, dachte ich bei mir, aber noch war ja nicht alles verloren. Auf unserer Reise nach Kreta würden die zwei wohl oder übel miteinander auskommen müssen oder sie würden an die Leine gelegt. Apostis beabsichtigte tatsächlich die Katze über das große Wasser mitzunehmen. Nachdem sich die beiden Kreaturen beruhigt hatten und Seto, so der Name der Katze, sein Territorium erfolgreich verteidigt hatte, beäugten sich die zwei den Rest des Abends äußerst misstrauisch, aber ohne weitere Zwischenfälle. Das änderte allerdings nichts an ihrem unglaublich hässlichen Erscheinungsbild. Etwas abstoßenderes und widerlicheres als diese beiden Kretins hatte ich in meinem Leben noch nie gesehen! Allenfalls Nacktmulle konnten diesen Tieren vielleicht noch das Wasser reichen. Bevor ich eines dieser Monster je in meine Wohnung lassen würde, käme ich noch eher auf den Hund, und das sollte etwas heißen bei meiner Wertschätzung für die bellenden Vierbeiner.
>Wie ich sehe, habt ihr schon von dem vorzüglichen Wein getrunken< begann Apostis zu reden. Bevor ich auch nur einmal durchatmen konnte, ergriff seine Tochter das Wort:
>Wir sollten unsere Gäste nicht über Gebühr mit Konversation und geistigen Getränken belasten – morgen haben wir alle einen schweren Tag, geschätzter Vater!< das klang so charmant aus dem Munde der Tochter, dass der Vater ohne zu zögern, das Bankett für beendet betrachtete und uns darauf hinwies, natürlich die Nacht in seinem Hause zu verbringen. Ich war gerettet, denn ich schien eine Verbündete bei Tisch zu haben! Ich konnte nicht umhin, Anis ein Lächeln meiner Dankbarkeit zu schenken. Und sie lächelte zurück. Das erste Mal bemerkte ich bei Lira so etwas wie Eifersucht, denn ihr ohnehin schmaler Mund wurde noch kleiner und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen unter einer faltigen Stirn. Oder wollte sie mich etwa zur Vorsicht gemahnen? Tatsächlich war ich ziemlich vertrauensselig geworden in Bezug auf unsere Gastgeber.
>Bevor ihr euch zur Ruhe begebt< führte Apostis fort >Für ein paar Steine mehr, bin ich durchaus bereit, euch wieder nach Thera mitzunehmen, wenn ihr euren Handel auf Kreta abgeschlossen habt. Ich kann durchaus mit dem Auslaufen der Schiffe noch etwas warten. Ohnehin finden in Knossos die Feierlichkeiten zu Ehren der Demeter statt – die Thesmophorien dauern genau drei Tage und sind ein herrliches Spektakel. Ihr solltet dabei sein!< Apostis öffnete die rechte Hand und zu sehen waren die wunderschön geschliffenen Bernsteine von Anderran. Es waren in der Tat prächtige Stücke und ich konnte sein Begehr durchaus nachvollziehen.
>Ihr Angebot ist sehr freundlich, Gouverneur. Vielleicht kommen wir darauf zurück< entgegnete ich unverbindlich.
>Papperlapapp! Nennt mich Apostis – ich bin doch kein Tyrann oder Despot!< allem Anschein nach hatten wir hier den ersten demokratisch gesinnten Griechen kennengelernt, viele, viele Jahre, bevor im Stadtstaat Athen die Grundlagen gelegt wurden für unser heutiges Demokratieverständnis.
>Sicher, gerne – Apostis< entgegnete ich und mir fiel an diesem Abend das erste Mal der Erker an der Ostseite des Zimmers auf. Dort befand sich ein Altar, auf dem die Statuetten diverser Muttergottheiten aufgestellt waren. Eine davon war aus Alabaster und schimmerte im Licht einer Öllampe besonders edel und verlieh dem kleinen Raum eine ungleich würdevollere Atmosphäre als jeder klerikale Raum meiner Zeit es je getan hätte. Eine Woge der Sympathie und Melancholie ergriff mich. Ich glaubte zu erkennen, dass hier an diesem Ort und zu dieser Zeit der Grundstein gelegt wurde für den Respekt und das Verständnis der Natur, dessen Teil wir alle sind und dass letztlich alles miteinander verwoben ist in einem kosmologischen Prozess von Werden und Vergehen. Wird aber auch nur ein Teil gewaltsam aus der Kette der großartigen Diversität des Seins gerissen, bringt dies das gesamte System ins Wanken. Das Opfer an die Götter war die einzig kluge Möglichkeit, Milde zu erwarten, wenn man der Natur etwas entnahm. Die Zerstörung der Ressourcen und der Massenkonsum unserer Zeit hatte jegliches Maß der Dinge verloren und die Moral und Würde von Geschenk und Achtung unter den Füßen des Fortschritts zermalmt, so meinte ich an diesem Abend.
An die Stelle einer Kosmologie des Glaubens, die von Milde und Respekt geprägt war, waren Wissenschaften getreten, die zwar ebenfalls die Zusammenhänge der Dinge erkannten und dies besser denn je, aber ihnen ging jegliche Spiritualität verloren und sie sahen sich ausschließlich sich selbst gegenüber verpflichtet, das heißt, sie mussten keine Rechenschaft mehr ablegen vor den Göttern und Menschen, denen sie früher verpflichtet waren. Das erbrachte zwar eine immens hohe Rate an wissenschaftlichen Erkenntnissen inklusive eines höchst möglichen Spielraums, in dem geforscht werden konnte, sprich Freiheit und Unabhängigkeit, aber das Band zwischen den Daseinsformen auf dem Planeten Erde war längst zerschnitten, die Ökologie und letztlich auch die Zivilisation des Menschen ging dem Untergang entgegen. Für mein Verständnis würde die Suche nach der Weltformel immer erfolglos bleiben, weil sie nach rein materiellen und mathematischen Erwägungen erfolgt. Die immer wiederkehrende Frage nach dem Sinn des Seins lässt sich aber nicht in eine Formel packen und darum fließt die Seinsfrage auch nicht ein in die Astronomie und auch nicht in andere artverwandte Forschungsdisziplinen.
Wir erhoben uns schließlich alle von unseren Plätzen, als ein Diener mit einer Lampe den Raum betrat. Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick umherschweifen, denn ich wusste, ich würde diesen Saal nie wieder sehen und nie mehr diese Würde spüren, wie an diesem Abend. Offenbar hatte Apostis vor kurzem noch einige Karten studiert. Auf einem Tisch am Südfenster lagen einige Papyri. Eines davon war halb entrollt und offenbarte eine Seekarte. Mir war klar, dass ein Volk, dass ganz auf den Seehandel setzte, über ausgezeichnete nautische Fähigkeiten verfügen musste, denn sonst hätten die Minoer niemals ihren Status in der Geschichte erhalten, den sie nun mal innehatten. Neben dem Tisch stand eine Truhe, die verschlossen war. Bestimmt enthielt sie auch persönliche Dinge, die der Kapitän mit auf seine Reisen nahm. Vielleicht hatte er ja auch so etwas wie ein Maskottchen, wovon nur seine Tochter etwas wusste. Anis, Adoptivtochter des Kapitäns und Gouverneurs von Thera, so selbstbewusst, dass sie ihren Vater hätte locker um den Finger wickeln können. Er tat alles für sie, davon war ich überzeugt.
>Ihr nicht, Lira, bitte bleibt noch, wir möchten uns noch mit euch unterhalten. Ihr habt auch noch nichts gegessen und müsst euch unbedingt stärken für den morgigen Tag!<
Apostis hatte entschieden. Wir zogen mit dem Diener von dannen. Eines der Zimmer unter dem Saal würde für die kommende Nacht unser Schlafraum sein. Der Diener leuchtete das Treppenhaus aus und wir fanden problemlos ins Zimmer. Wenn auch nicht vergleichbar mit dem Saal des dritten Stocks, so fanden wir hier doch alles, was für ein Nachtlager vonnöten war. Sogar eine Toilette gab es. Die befand sich auf dem Flur und war außerhalb meiner Zeit das Modernste, was es je gegeben hatte. Nur das Wasser zur Spülung musste aus einer Kanne ins Klosett gekippt werden. Einen Wasserzulauf gab es noch nicht. Aber eine Kanalisation.
Ich wusste von den Ausgrabungen in Akrothiri, bei denen man auf die Reste einer Kanalisation gestoßen war. Allenfalls die Römer, 1500 Jahre später, würden diesen exklusiven Standard erst erreichen. Ich war entzückt, denn ich muss zugeben, ein Leben in absoluter Wildnis und ohne Komfort war nicht wirklich etwas für mich – zumindest nicht auf Dauer. Ich liebte dieses Haus und diese Menschen! Ich war überaus zufrieden und sehr dankbar für die Gastfreundschaft, die uns entgegengebracht wurde. Warum sollte ich misstrauisch sein?!
>Was ist los mit dir?< wollte André von mir wissen, als wir gerade die Tür hinter uns geschlossen hatten >du warst ein paar Mal total abwesend<.
>Ich weiß nicht – ich bin einfach total fasziniert von den Menschen und der Kultur hier< was nur sehr unzureichend meinen Zustand erklären konnte. André grummelte irgend etwas in seinen Bart, was ich nicht verstand und ich auch nicht mehr nachfragte. Wir inspizierten die Räumlichkeit und bereiteten unser Nachtlager. Orestes hatte sich schon ein Bett gesichert und hingelegt. Tatsächlich hätten die Schlafgelegenheiten auch im 21. Jahrhundert eine Existenzberechtigung gehabt. Alles sah sehr ordentlich aus: Die Bettgestelle waren aus verzahntem Holz gezimmert, die Matratzen mit Stroh gefüllt - selbst Bettdecken aus Schurwolle gab es. Ein großes Fenster ließ sich nach Osten hin öffnen. Wir befanden uns tatsächlich direkt unter dem Saal unseres Gastgebers und damit auch nah am Erker mit jenem so großartigen Ensemble natürlicher Weisheit und Bejahung von Leben und Inspiration.
>Was wird er wohl von ihr wissen wollen?< fragte ich Orestes, der auf dem Rücken lag und die Decke anstarrte. Auch André hatte sich inzwischen ein Bett gesichert und seine Habseligkeiten darunter verstaut.
>Ich nehme an, er wird auch von Lira wissen wollen, wie es „da oben im Norden“ so ist< wie Orestes das so sagte, erinnerte er mich an Tom, der ebenso lakonisch sein konnte.
>Sicher, der Mann ist ein Materialist, und zwar, durch und durch, der will neue Handelswege auftun!< schaltete sich nun auch André ein und fügte hinzu >wir müssen verdammt aufpassen, dass wir die Zeitlinien nicht durcheinanderbringen mit unserem Auftritt hier!<.
Da hatte mein Freund verdammt Recht! Wenn Apostis damit beginnen würde, mit einem Konvoi durch die Straße von Gibraltar zu segeln, die spanische-portugiesische Küste entlang und weiter nördlich an Frankreich vorbei...bis in die Nordsee und den Rhein hinunter, dann könnte schlussendlich Mitteleuropa minoisch werden und nicht karolingisch. Die Geschichte würde auf den Kopf gestellt und wir würden nie existieren oder nicht existiert haben: Das Resultat wäre ein klassisches Zeitparadoxon. Und genau wegen dieser Dinge waren wir hier: Wir wollten unter allen Umständen verhindern, dass sich weitere Veränderungen im Zeitkontinuum vollziehen. Ich musste an Gondvira denken, die durch ihr Fernrohr blickend, mit Entsetzen feststellen musste, dass eine Sonne verschwunden war.
>Ich würde nicht zu hart mit Apostis ins Gericht gehen< gab ich André zur Antwort. Ich störte mich ein wenig an den Begriff Materialist im Zusammenhang mit einer Charakterisierung dieses außerordentlichen Mannes.
>Du scheinst einen Narren gefressen zu haben an dem Kerl< meinte André ziemlich unverblümt.
>Wir segeln morgen nach Kreta, besorgen uns den Multiverser und dann geht`s ab nach Anderran!< beschloss ich die Konversation.
>Ei, Ei, Captain!<
>Einmal Ei reicht<
>Hör auf von Eiern zu reden, mir wird schlecht, ich bin so voll!<
>Ich auch!<
>Uahh!<
>Und ich erst<
>Zum Glück gibt`s hier Toiletten!<
>Kannste laut sagen<
>Wohl wahr<
>Gute Nacht!<
>Nacht!<
>Nacht!<.



In meinen Träumen rumpelte der Boden unter mir und über mir die Decke - und der Vulkan brach aus. Später riss eine Gardine entzwei und ging in Flammen auf, die die Alabaster Statuette mit dem Antlitz der Demeter schmelzen lies. Alles sah ich, und die Flammen und die Lava entzündeten das Getreide auf den Feldern, und die Insel ging in Rauch und Dampf und Eruption hinunter in den Hades, der der Bruder war von Demeter. Und die Göttin weinte bitterlich, doch der Bruder lachte und hörte nimmer auf...Später segelte ich mit Lira durch eine lauwarme Sternennacht über einen fremden Ozean. Wir lagen auf dem Deck des Bootes und schmiegten unsere Körper aneinander in wohliger Zuneigung und grenzenlosem Vertrauen, während ganz langsam im Osten der Sonnenwagen des Amun das Dunkel der Nacht vom Horizont vertrieb.
Ich war zwar nicht auf einem Schiff, aber Lira lag tatsächlich neben mir, als ich erwachte. Sie war in der Nacht unter meine Decke gekrochen und ich hatte davon nur im Unterbewusstsein etwas mitbekommen. Ein paar zaghafte Sonnenstrahlen durchdrangen das Fenster und lösten die Finsternis in unserer Stube auf. Noch ehe ich ganz bei mir war, betrat auch schon der Diener vom Vorabend das Zimmer und brachte uns auf einer Holzplatte servierten Käse und Oliven zum Frühstück, stellte sie auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers ab und verließ den Raum ohne ein Wort.
>Sehr gesprächig der Knabe< meinte ich zu Lira. Auch sie sagte kein Wort, gab mir aber einen Kuss auf die Wange.
>Halt!< rief André lauthals durch das Zimmer und meinte den Saurier, der sich über unser Frühstück hermachte.
>Ich dreh` dem Vieh noch den Hals um!< meinte ich zu Lira, die mich nur anlächelte.
André hatte Trumpy wieder unter Kontrolle, sodass wir die Hälfte unseres Essens noch retten konnten.
Orestes hatte in einer Ecke des Raumes die Stelle entdeckt, wo wir uns waschen konnten; eine Kanne mit Wasser und eine Schüssel, sowie Tücher waren vorhanden. Wir brauchten etwa eine halbe Stunde, bis wir alles erledigt hatten und verließen unser Nachtlager, um zu sehen, wie es nun weiter ging. Draußen vor der Tür stand der Diener und geleitete uns nach unten vor das Domizil des Gouverneurs.
Ein strahlend blauer Himmel begrüßte uns, während Apostis Anweisungen gab, die das gelagerte Holz vor seinem Haus betraf, dann schritt er auf uns zu:
>Ich hoffe, ihr hattet eine gute Nacht, Ihr Leute aus dem hohen Norden< die hatten wir tatsächlich gehabt, bestätigte ich, während Anis an ihn herantrat, sich bei ihm unterhakte und meinte:
>Geschätzter Vater, ich bin glücklich, zusammen mit unseren neuen Freunden den Feierlichkeiten in Knossos beizuwohnen – lasst uns in See stechen!< drängte sie auf eine schnelle Abreise.
>Jawohl, Steuermann!< scherzte der Vater und bewies einmal mehr, wie sehr er unter dem Einfluss seiner Adoptivtochter stand. Mir gefiel das, es hatte eine süffisante und romantische Note, vielleicht ein wenig kitschig, aber auf jeden Fall unterhaltsam. Die meisten Leute auf Anderran, die ich kennengelernt hatte, fand ich ziemlich dröge, aber diese zwei hier waren wirklich außerordentlich – sie waren die wirklichen Außerirdischen für mich!
Bevor wir den Marsch antraten in Richtung Hafen, deutete Apostis letztmalig auf die Küstenlinie unter uns:
>Das habt ihr bestimmt noch nicht gesehen, dort, genau dort< sein Finger zeigte in westliche Richtung abseits des eigentlichen Hafens >Da werden unsere Schiffe geboren<. Das sagte er tatsächlich! Aber vielleicht war es auch ein Übersetzungsfehler in der Matrix unseres Universalkommunikators. Es war egal, denn wir verstanden auch so, was gemeint war. Thera besaß also auch eine Schiffswerft, die mir unten am Strand nicht aufgefallen war, weil sie jenseitig einer weiteren Landzunge, tief eingeschnitten in einem weiteren Küstenbereich verborgen lag.
>Unsere Schiffe sollten eigentlich stetig in Bewegung sein. Wenn wir nachher ablegen, wird schon der nächste Konvoi in Akrothiri einlaufen. Einige der Schiffe segeln weiter nach Melos< Apostis deutete in die Nord-Westliche Richtung >Während von Melos ein Konvoi ablegt, um über Thera weiter nach Zypern zu segeln<. Seine offene Hand zeichnete eine Kreisbahn über den Himmel, von Nord-West nach Süd-Ost, so als wolle er sagen: dies ist meine Welt, dies ist meine Seele, dies ist das einzig wahre Leben – und sonst nichts!
André stand neben mir und schaute mit skeptischem Blick in meine Augen:
>Ist es wieder soweit? Ich fange an, mir langsam Sorgen zu machen, lieber Paul!<. Ich musste tatsächlich sehr verzückt drein geschaut haben, denn sonst würde mein Freund nicht so nachdrücklich zu mir sprechen.
Vielleicht sollte ich tatsächlich ein wenig emotionale Distanz bewahren zu diesem Menschen, was allerdings auf so einer Nussschale von minoischem Schiff nicht leicht fallen würde.
Dreißig Meter Länge wies das Flaggschiff auf und war etwa vier Meter breit in seiner Mitte. Die 42 Ruderplätze würden alle besetzt sein und dann nahmen wir bestimmt auch noch ein wenig Fracht auf, auch wenn Thera natürlich keine Exportinsel von Bedeutung war – das Eiland war lediglich ein strategischer Stützpunkt mit einer wohlwollenden kykladischen Bevölkerung bezüglich der minoischen Politik.
>Schon gut! Du hast Recht, ich konzentriere mich wieder auf unsere Aufgabe<. André kannte mich gut, ich hatte in der Vergangenheit oft den Fehler begangen, mich von gewissen Personen in meinem Denken derart beeinflussen zu lassen, dass mir dies nicht gut tat.
So war ich auch letztlich in die Drogenszene geraten und wäre beinahe draufgegangen. Wenn André sich Sorgen machte, sollte ich das durchaus ernst nehmen. Ich nahm mir das zu Herzen und hakte mich bei Lira unter, wobei ich André frech angrinste und zu ihr meinte:
>Schau dir André an, sieht er nicht seinem Gobiconodon immer ähnlicher?< André trat einen Fuß in die Luft >Ach, halt die Klappe! Der Saurier wird dir nochmal den Arsch retten!<. >Ich weiß, hast du schon mal gesagt<.
>Was habt ihr nur immer miteinander?< wollte Lira von mir wissen. Ich erzählte ihr, während wir die gepflasterte Straße hinunter zum Hafen gingen, von unserer langen Freundschaft und dass vieles von dem, was wir so sagten, von Ironie geprägt sei. Ich erfuhr, dass die Bedeutung von Ironie auf Anderran eher gering war und im Alltag fast nicht zur Geltung kam. Farbige Beschreibungen, Umdeutungen, Parabeln, Wortspiele, Metaphern, Synonyme, aber auch ein „Kollateralschaden“ wie der Zynismus waren auf dem Planeten Anderran so gut wie unbekannt oder fanden kaum Beachtung. Auf dem Planeten pflegte man eher die direkte Konfrontation. Vielleicht machte sie das empfänglicher für den Anarchismus, oder die Anarchie war das Ergebnis ihres unglaublichen Pragmatismus. Das wusste ich nicht; wiewohl ich die Geschichte des Planeten gerne kennenlernen wollte.
Bevor wir unseren Marsch durch Akrothiri begannen, hatten einige der Diener des Hauses von Apostis eine Statue der Demeter auf eine Holzplatte gestellt. Daneben standen Tongefäße mit Getreideähren, diverse Kräuter aus der Macchie von Thera und über allem waren die roten Blätter von Mohnblumen verstreut. Ein gelber Strauch von Besenginster ergab einen herrlich Kontrast und unterstrich die Wärme des Ensembles, die es ausstrahlte. Vier kräftige Männer hoben die Platte mit den Insignien von Erde und Ernte an und stellten sie auf ihren breiten Schultern ab, um sie innerhalb unseres kleinen Trosses durch Akrothiri zu tragen. Später würden die Boten des Sommers auf dem Schiff einen Platz finden müssen, um sie letztlich in Knossos als Teil einer Prozession zur Schau zu stellen. Auf diese Weise stellte der Gouverneur sicher, dass auch die Insel Thera einen Beitrag leistete zur Freude und auch zur Besänftigung der Götter.
Gaia, die universelle Erdgöttin würde es den Menschen danken und hoffentlich auch den Vulkan erfolgreich besänftigen, denn der stieß dunklen schmutzigen Rauch in einen klaren blauen Himmel. Ein leichter Wind aus nördlicher Richtung ließ den Rauch gen Kreta ziehen. Aber auch uns würde der günstige Wind zu Diensten stehen und die Ruderer beim Fahrt machen unterstützen. In sechs Stunden müssten wir in Kreta anlanden, wenn nichts dazwischen kam.
Orestes hatten wir in unsere Mitte geholt, weil er sehr nachdenklich wirkte. Lira wollte wissen, was los sei:
>Die Hitze macht mir zu schaffen – und es ist erst der Morgen eines neuen Tages und dann der Vulkan!< Orestes deutete auf den bedrohlich wirkenden Rauch, der unablässig in den Himmel stieg und einer Fahne gleich, sich über das Meer ausbreitete.
>Wenn der Rauch die Sonne abdunkelt, wird es kühler< meinte André ganz pragmatisch.
An der Spitze unseres kleinen Festzuges befand sich nun das Tableau mit einer bunt geschmückten Demeter und all den Gaben der Natur; auf dem Weg zu den kommenden Feierlichkeiten auf Kreta. Dass das Fest im Grunde schon auf Thera begann, hatte Apostis zuvor nicht erwähnt. Ich hatte angenommen, wir würden die Insel zügig verlassen, nach dem Motto: Time is money! Aber hier tickten die Uhren anders. Priorität hatte die Zeremonie und zwar noch vor dem eigentlichen Geld verdienen! Anders als der Gott unserer Tage, waren die Götter der Antike äußerst launische Götter. Man musste immer wieder aufs Neue sich ihrer Gunst versichern. Dafür mussten strenge Regeln und Richtlinien eingehalten werden. Und selbst bei Erfüllung aller Maßgaben konnte man sich nie ganz sicher sein, nicht doch den Zorn des einen oder anderen Gottes auf sich zu ziehen.
>Macht mal ein wenig schneller da vorne!< rief Apostis den Trägern zu und ergänzte meine Überlegungen hinsichtlich der Götter und der Gunst, die man sich erarbeiten musste. Der Gouverneur ging hinter den Trägern her, sodass die Reihenfolge eine klare Botschaft enthielt: Nicht der menschlichen Repräsentanz gebührte die größte Achtung, sondern den himmlischen Herrschern. Hinter Apostis und seiner Tochter folgten auch schon wir vier aus der Zukunft und erst dann folgten die restlichen Angestellten des Hauses, die eine erstaunlich hohe Menge waren. Der Gouverneur musste in der Nähe seines Domizils noch einen Gutshof besitzen, anders konnte ich mir die große Anzahl an Menschen nicht erklären, die letztlich immer mehr wurden, weil sich nun auch noch die restlichen Bürger der Stadt dem Zug in Richtung Hafen anschlossen.
Als wäre der Befehl des Apostis an die Träger ein Signal gewesen für die Götter der Unterwelt; vor allem Hades schien nicht einverstanden mit einer Beschleunigung der Prozession, denn ein heftiger Stoß ließ den Boden unter unseren Füßen erzittern und brachte die Träger der Demeter ins Wanken. Noch konnten sie die Last über ihren Schultern ausbalancieren, doch die Statue war schon leicht ins Rutschen gekommen. Dann fiel die Vase mit dem Ginster um und einige Tontöpfe ebenfalls.
Das Gleichgewicht des Tableaus geriet außer Kontrolle und einer der vorderen Männer geriet ins Wanken und stürzte schließlich. Damit war das Desaster geschehen: Das gesamte Gottesarrangement fiel zu Boden, Scherben hüpften über die Bodenplatten, der Mohn erhob sich teils wie zum Protest gen Himmel und schwebte davon. Da es bergab ging, polterte die gute alte Demeter einige Meter lang die Straße hinunter, bis sie ausgerechnet vor der Werkstatt eines Bildhauers zum Liegen kam. Sie war noch in einem Stück – immerhin.
Ich war erstaunt über die Ruhe, die wir bewahrten. Niemand von uns zeigte irgendwelche Zustände von Panik oder Angstattacken. Wahrscheinlich hatten wir tief in unserem Innern gewusst, dass es so kommen würde. Jetzt konnten wir nur hoffen, dass uns nicht die volle Wucht der kommenden Ereignisse treffen würde. Die Menschen von Thera lebten seit Generationen mit dem Vulkan und auch den Beben. Sie kannten das schon und so brachen sie nicht in Panik aus.
>Tja, das war`s dann mit der tollen Feier!< meinte André zu mir. Er war froh, dass es vorbei war. Jetzt schnell die Scherben zusammenräumen und Leinen los! Und tatsächlich ging jetzt alles ziemlich schnell. Die Dienerschaft machte sich ans Aufräumen, nachdem das Beben sich entschlossen hatte, eine Pause einzulegen. Einige der Bewohner der Stadt standen zusammen, redeten und gestikulierten mal mehr mal weniger aufgeregt, andere gingen auf die Felder, wiederum andere nach Hause oder in die Werkstätten.
>Tut mir leid, aber die Götter sind eben launisch!< entschuldigte sich Apostis für ihr Verhalten. Recht so, dachte ich und meinte, er solle sich mal keine Gedanken machen, in Knossos würde dafür die Prozession um so feiner! Das fand Apostis schön und schaute gleich viel freundlicher drein, was wiederum mich erfreute.
>Ich danke euch für die tröstenden Worte an meinen Vater< wandte sich schließlich Anis an mich.
>Ist doch selbstverständlich – das ganze war nur ein Unfall!< meinte ich lapidar.
>Ein Unfall?< Anis schien irritiert.
>Na ja, eine Verkettung unglücklicher Umstände, so etwas kann passieren< ergänzte ich.
>Eine für mich befremdliche Einschätzung der Lage – das müsst ihr mir später genauer erklären!< gab sich Anis mit meinen Worten nicht zufrieden.
>Und was war denn mit dem Wein gestern Abend, dass ihr den aus dem Fenster schütten musstet?< legte Anis nun auch noch nach. Auch das würde ich ihr später erklären müssen, beließen wir es für`s Erste dabei.
Schließlich kamen wir endlich wohlbehalten am Hafen an. Die „Minoa“, so der Name des Flaggschiffs, lag ruhig an der Mauer der Bucht. Vor ihrem Bug ankerte ein kleineres Schiff mit Rammsporn, welches uns begleiten würde als Schutz vor Piraten. Das Gleiche traf für das zweite Schiff zu, welches hinter dem Heck der „Minoa“ vertäut lag. Die anderen Schiffe waren längst aufgebrochen, um die anderen Handelsrouten zu befahren. Wir waren in der Tat spät dran. Die Statue der Demeter war glücklicherweise heil geblieben und fand einen Platz beim Kapitän in der Kajüte, wo auch wir uns aufhalten durften. Wie überhaupt ich erstaunt war über das großzügige Angebot an Raum im Bereich der Kajüte. Man muss sich vorstellen: Das war mehr als nur ein Privatbereich des Kapitäns, hier wurde auch Fracht gelagert, wenn auch kein lebendes Gut wie Schwein oder Ziege, so doch eben auch mal eine zu Boden gefallenen Gottheit oder aus der Zeit gefallene „Aliens“. Ein laues Lüftchen wehte durch die Tücher, die die Kajüte umrahmten, dennoch schwitzte Orestes, und ich bekam das Gefühl, er würde ernsthaft krank werden. Ich machte Lira auf meinen Verdacht aufmerksam, die sich sofort daranmachte, sich um Orestes zu kümmern. Dann stellte ich auch noch mit leichtem Beklemmen fest, dass die Anzahl der Ruderer nicht vollständig war: Mehr als die Hälfte der Besatzung war nicht anwesend. Das erste Mal erlebte ich Apostis, wie er sehr ungehalten wurde und die Männer verfluchte!
>Bei Poseidon - diese Mannschaft ist ein elender Haufen von Versagern!< stemmte er die Fäuste in seine Hüfte und brüllte den Rest der Mannschaft an, gefälligst für den ausgezeichneten Lohn, den sie erhielten auch anständig zu arbeiten! Ich stellte mich schon darauf ein, mich auch in die Riemen legen zu müssen, was mir eigentlich Recht war, denn ein bisschen Training für Muskeln und Ausdauer würde mir gut tun. Ja, ich bekam sogar richtig Lust dazu und bot sofort meine Dienste an.
>Kommt überhaupt nicht in Frage!< war die barsche Antwort von Apostis. Wir werden sehen, dachte ich, wenn wir erst einmal in eine Flaute gerieten, würde der Mann noch dankbar sein über mein Angebot. Ich sollte Recht behalten.
Nach einer weiteren Stunde des Wartens, torkelten drei Männer über den Kai, die es so gerade schafften, beim Besteigen des Schiffes, nicht zwischen Schiffswand und Mauer zu geraten. Sie waren ganz offensichtlich sturzbetrunken. Apostis war außer sich vor Wut und ließ die drei Männer auf ihren Ruderbänken fesseln; wie ein paar Sack Kartoffeln hingen und lagen sie schließlich über den Rudern. Das war nun die andere Seite des Apostis: Die Männer wurden, noch während sie ohne Bewusstsein über den Riemen hingen, auspeitschen. Jeder bekam mindestens zehn Schläge und wurde anschließend mit Meerwasser „abgeduscht“. Danach waren sie zumindest wach und konnten – ob sie wollten oder nicht – ihren Ruderdienst aufnehmen. Ich war im Stillen empört und sah im Antlitz meines Freundes die Bestätigung seines Verdachtes und den Grund seiner Vorsicht gegenüber unserem neuen „Freund“ Apostis. André hatte allen Grund gehabt, Vorsicht walten zu lassen bezüglich neuer Bekanntschaften, vor allem dann, wenn wir uns in einer uns im Grunde unbekannten Zivilisation befanden. Die Spielregeln, die hier galten, waren nicht die selben des 21. Jahrhunderts, das durften wir auf unserer Reise nie vergessen. Der arme Orestes als Anarchist: Für ihn musste das die Hölle sein! Er hatte mit keinem Wort sein Unbehagen über die Auswüchse von Hierarchie und Macht geäußert, aber jetzt meldete sich sein Körper und reagierte mit Fieber und Zusammenbruch! Das Auspeitschen der Männer hatte ihm den Rest gegeben und jetzt lag er auf dem Rücken niedergestreckt auf einem Lager im Heck des Schiffes.
Es änderte nichts am Fortgang der Reise. Wir legten ab und stachen in See, auch wenn immer noch drei Seeleute fehlten. Und die drei Gezüchtigten würden keinesfalls die gleiche Arbeit verrichten können über längere Zeit wie ihre Kollegen, denen das Schicksal dieser menschenverachtenden Bestrafung erspart geblieben war. Das Steuerruder hielt Anis fest in der Hand. Sie sah prächtig aus in ihren roten Beinkleidern, der weißen Bluse und einer purpurfarbenen Mütze. Purpur zierte auch erneut den Umhang des Kapitäns und unterstrich wiederum seine Bedeutung und Machtstellung im Sozialgefüge dieses Schiffes. Die lächerliche Mütze mit Bommel fehlte. Offenbar hatte Apostis meine Gedanken gelesen und dieses Utensil Zuhause gelassen. Als wir das Hafenbecken verlassen hatten in Begleitung der zwei Kriegsschiffe, deren Besatzungen übrigens vollzählig waren, meldete sich Apostis zu Wort:
>Ihr seid so ruhig geworden, Paul aus dem Norden, was ist los, erzählt?!<.
>Ich weiß, es liegt nicht an mir, euch zu kritisieren, aber bei uns Zuhause prügeln wir die Männer nicht, die für uns arbeiten< versuchte ich vorsichtig meinen Unmut in Worte zu kleiden.
>Da habt ihr ganz Recht, das liegt nicht an Euch. Ich muss das tun, denn sonst gehen wir unter und mit uns das ganze Imperium. Vor uns liegt eine Reise, die voller Gefahren ist, Piraten können uns auflauern und uns den Garaus machen. Wenn wir nicht alle auf dem Posten sind...<.
>Gehen wir unter!< ich verstand schon. Der Claim war abgesteckt und natürlich hatten wir als Ausländer an Bord eines minoischen Handelsgiganten nichts zu melden. Wenig später bekam ich aus einer Unterhaltung zwischen Anis und Apostis ein paar Wortfetzen mit, was sich auf einem so kleinen großen Schiff nicht vermeiden ließ. Ich hörte soviel wie: „über Bord werfen“, „Nichtsnutz“, „Ballast“ und wiederum von Anis das Wort „Milde“. Es war nicht schwer, sich darauf einen Reim zu machen. Der Kapitän betrachtete die betrunkenen Seeleute als Abschaum, den man über Bord werfen müsse. Im allerletzten Moment konnte die Tochter ihn von seinem unmenschlichen Vorhaben abhalten. Einerseits war ich froh, dass Anis so zivilisiert war und den entsprechenden Einfluss auf ihren Vater hatte, andererseits war ich über alle Maßen empört über die Schattenseiten dieses Mannes, vor dem ich noch bis vor kurzem so viel ehrliche Hochachtung und Respekt empfunden hatte. Seit Jahren hatte ich das erste Mal wieder das übergroße Verlangen, mich zu besaufen – bei Alkoholikern wurde dieser Zustand allgemein als „Sucht- oder Saufdruck“ bezeichnet. Das Verlangen war so groß, das Gefühl von Ohnmacht, Wut und Trauer zu betäuben, ich hätte weinen können; stattdessen machte ich mich an einen der Kübel zu schaffen, die in der Kajüte in einer Ecke standen. Ein Gefäß war mit Estragon und Basilikum gefüllt.
Ich griff mit beiden Händen in den Krug und entnahm ihm eine gute Portion von dem Füllstoff der Sonnenenergie dieser herrlichen Landschaften und rieb mir die ätherischen Öle durch das Gesicht, wobei ich die Augen fest geschlossen hielt und mir die Bilder einer verträumten Landschaft von Harmonie und Ruhe ins Gedächtnis rief:
Zypressen und Lorbeer, Lavendel und Estragon, Malve und Zitrone, Orangenhaine und sanft zum Meer abfallende Küstensäume. Danach griff ich mir zwei Hände voll Lavendel, der schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich hatte und rieb mir auch davon die Essenz von Frieden und Behaglichkeit ins Gemüt. Es ging mir schon ein wenig besser und begann, wieder klar denken zu können: Ich musste das alles hier nicht tun! Wenn unserer Mission erfüllt wäre, dann würde ich schlussendlich nach Aachen zurückkehren in meine Zeit und alles würde gut werden. Anis stand wieder am Ruder, hatte aber alles mitbekommen durch einen Spalt, den der Wind zwischen den Tüchern geöffnet hatte. Wir sahen uns in die Augen und ich glaubte, dass wir beide uns verstanden, auch ohne Worte. Ich war dankbar, dass die Situation sich nicht noch weiter verkomplizierte. Auch André hatte meinen Beinahe-Zusammenbruch miterlebt und war froh, dass es mir wieder besser ging. Jetzt nicht noch einen Ausfall, dachte der bestimmt, nachdem Orestes immer noch fiebrig und schlafend darniederlag. Lira, natürlich, sie hatte ich ganz vergessen! Wo war sie? Der Kapitän stand im Bug des Schiffes und suchte den Horizont nach unliebsamen Zeitgenossen, wie Piraten ab. Doch alles war friedlich und Lira stand neben ihm. Die beiden redeten miteinander. Vielleicht glaubte Apostis, in Lira eine neue Freundin oder Vertraute von Anis zu sehen. Nichts da, mein Lieber, ich würde Lira niemals hier zurücklassen. Ich würde kämpfen wie ein Löwe, und wenn es sein müsste, dann würde ich sogar töten, nur um sie nicht diesem moralischen Wrack zu überlassen! Ich kam immer mehr zu der Überzeugung, dass die Menschen die Götter ausschließlich dazu nutzten, um ihre Macht zu legitimieren und zu zementieren. Das war zur Zeit der Minoer bestimmt nicht anders, als in unserer Zeit. „Für Gott und Vaterland“ war so ein geflügelter Begriff, der mich frösteln ließ und das auf See bei über 30 Grad!
Ich beugte mich über Orestes, den ich während meiner Selbstmedikation völlig übersehen hatte, und rieb seine Brust mit Lavendel ein. Das würde ihm gut tun. Sollte er ruhig weiter schlafen.
Zurück an Deck sprach mich André an:
>Sieh mal da!< und deutete in Richtung Rauchfahne des Vulkans. Die Windrichtung in den oberen Luftschichten schien sich gedreht zu haben, denn die Fahne hatte eine abrupte Wende vollzogen und trieb nun in Richtung griechisches Festland. Das Ganze sah aus wie ein Ölgemälde: Der schwarze Rauch vor dem tiefblauen Azur des mediterranen Himmels und im Hintergrund ein brauner Klecks, der die Insel Thera war und von wo aus der dunkle Rauch in die Helligkeit des Tages aufstieg. Schlicht und gewalttätig, beinahe surreal!
>Der Wind dreht sich!< stellte André fest.
>Dann werden wir zwei uns jetzt an die Ruderpinnen begeben< entgegnete ich ziemlich forsch.
>Hey, mal schön langsam!< bremste mich André aus >Sollten wir das nicht besser „Captain Ahab“ überlassen?<.
>Captain Ahab!< repetierte ich und musste lauthals lachen.
Herman Melvilles Ahab und Moby Dick: Eine Geschichte von Verbohrtheit, abgrundtiefer Rachsucht und völlig irrationalen Verhaltensweisen, so jedenfalls meine Interpretation bezüglich der Lektüre.
>Du hast wie immer Recht, bester Freund André!< und beließ es dabei.
Ich war sehr froh, an Bord dieses Schiffes gute Freunde zu haben. Mir wurde klar, dass ich nicht alleine war mit meinen Ansichten und Moralvorstellungen. Und unser weiteres Vorhaben musste ich auch nicht alleine managen. Meine Begleiter waren durchaus fähige Menschen mit den unterschiedlichsten Stärken, auch wenn Orestes für eine gewisse Zeit nur begrenzt belastbar sein würde. Lira war offensichtlich mental etwas robuster, als der Student Orestes. Apostis verließ seinen Platz im Bug des Schiffes und kam auf mich zu:
>Eure Freundin Lira hat mir von der großen Bedeutung des Friedens in eurer Heimat erzählt und ihre Geschichte ist mir wahrlich zu Herzen gegangen – ich möchte mich bei Euch entschuldigen für mein Verhalten. Mir war nicht klar, wie kultiviert und fortschrittlich Ihr seid. Es wird an Bord dieses Schiffes keine weiteren Gewaltmaßnahmen mehr geben!<.
>Ich nehme Eure Entschuldigung gerne an.< antwortete ich ernst und nicht ganz ohne Genugtuung. Lira hatte offenbar hervorragende Arbeit geleistet und dem Kapitän eine kluge Geschichte über Moral und Gewaltfreiheit geliefert, dass dieser nicht umhin konnte, sein Handeln zu überdenken. Wir wollten ja nicht die Minoer aus ihrer Zeit herauslösen und sozusagen umerziehen, aber solange wir auf engstem Raum zusammenarbeiten mussten, konnte zumindest auf Gewalt an Bord verzichtet werden. Dennoch war ich erstaunt über die scheinbare Wandlung des Kapitäns innerhalb so kurzer Zeit.
Apostis trug seine ägyptische Falbkatze, die er die ganze Zeit auf dem Arm gehalten hatte, in die Kajüte zurück und legte sie in ein schattiges Eckchen neben das Bett, auf dem der arme Orestes ruhte. Neben Seto lag auch der Gobiconodon, der sich offenbar sehr schnell an die neue Situation angepasst hatte und darauf verzichtete, den Vorläufer unserer Hauskatzen verzehren zu wollen. André hatte Trumpy einen Knochen hingelegt, an dem das Tier hin und wieder seine Zähne schärfte.
Tatsächlich hatte sich die Situation fortan sehr entspannt, nicht zuletzt aufgrund der klugen Interventionen von Lira und Anis. Das Segel allerdings hätte durchaus aufgeblähter sein dürfen, denn inzwischen konnte man getrost von einer Flaute reden. Am Mast hing nur noch ein trostloses Stück Tuch, welches das Wort Segel nicht mehr verdient hatte und seine Funktion nicht mehr erfüllen konnte. Die See war spiegelglatt und die einzigen Wellen, die zu sehen waren, waren von Delfinen erzeugt, die offenbar zu jeder Zeit ihre Geselligkeit und Lebensfreude in den Meeren dieser Welt zu demonstrieren verstanden. Das Spiel der Tiere im Wasser war das einzige Lebenszeichen rund um unser Schiff und den zwei Korvetten, die uns begleiteten. Der Begriff Korvette würde zwar erst in 3000 Jahren geläufig sein, scheint mir aber dennoch angemessen.
Er beschreibt einen Schiffstyp, der klein und wendig ist und die verschiedensten Funktionen erfüllen kann: Versorgungsdienste, Aufklärung und wie in unserem Fall auch als Begleitung und Abwehr von Piraten. Die Korvette, die vor uns mit einem Dutzend Ruderer besetzt war, die gleichzeitig bewaffnete Söldner waren, legte Backbord an die „Minoa“ an, um unseren Kapitän an Bord zu nehmen für eine Erkundung des weiteren Gebietes um uns herum. Je früher die „Aurora“ - so der Name dieses Schiffes - am Horizont beunruhigende Anzeichen für Piraten entdecken würde, um so eher konnten wir reagieren – das war überlebenswichtig. Vom sagenhaften König Minos wurde berichtet, dass er die See von Piraten weitestgehend säubern ließ, was seinen Macht und den persönlichen Reichtum erhöhte. Einen solchen Mann hatten wir zwar nicht in unseren Reihen, aber einen durchaus erfahrenen, wenn auch zu Gewalt neigenden, weitsichtigen Kapitän und Politiker Apostis. Ich vertraute da ganz und gar auf seine Kompetenz, aber mehr noch auf die mäßigende Einflussnahme der Adoptivtochter. Darüber hinaus leistete sie am Steuer hervorragende Arbeit. Nicht zuletzt setzte ich auch auf die Ruderer, die nicht das erste Mal sich in die Riemen legten eines Schiffes, dessen Wohl und Wehe im wahrsten Sinne des Wortes vor allem in ihren mit Schwielen besetzten Händen lag. Sie waren die wirklichen Helden, oder die tragischen Figuren des Untergangs, sollte eine Konfrontation mit den Piraten verloren gehen. Bevor allerdings Apostis das Schiff wechselte, übertrug er Anis die Befehlsgewalt über die „Minoa“. Ich kann nicht behaupten, dass ich traurig gewesen wäre über den Wechsel des Kommandos und so verfolgte ich den Abgang des Apostis mit einer gewissen Erleichterung. Sollte er auf dem Soldatenschiff seinen Job machen und die Augen weit geöffnet halten.
Alle Aufklärungen und Erkundigungen ergaben nur Sinn, wenn eine Möglichkeit bestand, zwischen den Schiffen zu kommunizieren. Tatsächlich hielt man an Stangen befestigte bunte Stoffe als Signalgeber bereit. Orange war die Komplementärfarbe zu Blau im Farbenkreis und erzielte die größte Wirkung. Sollte Apostis die orangene Flagge hissen, wären Piraten in Sicht. Das würde für uns bedeuten, uns sofort auf volle Kraft vorwärts in die Riemen zu legen. Wir müssten dann so schnell wie möglich Kreta erreichen. Zu diesem Zeitpunkt aber hatten wir gerade mal etwas mehr als die Hälfte der Strecke bewältigt, also 50, vielleicht 60 Kilometer. Ein anderer Signalgeber konnte der Rauch aus offenen Feuerschalen sein, die sich an Bord jeden Schiffes befanden und auch im Rahmen der Gottesanrufung genutzt wurden. Die Feuerstelle konnte zu jeder Zeit rasch entzündet werden.
Lira hatte mit Apostis rege Konversation betrieben und es war an der Zeit für mich, in Erfahrung zu bringen, um was es bei den Gesprächen gegangen war. Sie stand immer noch am Bug der „Minoa“.
>Hallo Lira, lange nicht mehr gesehen! Hat unser Chef dich hier vorne im Schiff abgestellt für die Piratenabwehr?< ich vermutete tatsächlich, dass Apostis ihr diese Aufgabe zugeteilt hatte.
>Ich soll die Augen offen halten während unserer Weiterfahrt und den Kontakt nicht verlieren zu den Begleitschiffen, falls sie Alarm schlagen< bestätigte sie meine Vermutung.
Da bekleideten also inzwischen zwei Frauen überaus wichtige Positionen an Bord eines minoischen Schiffes: Am Bug stand meine Freundin aus Anderran mit der wohl überraschendsten Karriere eines Aliens auf der Erde des 27. Jahrhunderts vor Christus und im Heck hatte die Kapitänin Anis derweil das Steuerruder an Agrocolos übergeben, einem guten Vertrauten von Apostis. Der Mann fiel vor allem durch seinen kleinen kompakten Körperbau auf und entsprach so gar nicht meinem Bild eines Steuermanns; Anis hatte am Steuer für meinen Geschmack eine bessere Figur gemacht. Nun ja, Apostis und Anis würden sich schon etwas dabei gedacht haben, diesem Mann die hohe Verantwortung zu übergeben, überlegte ich. Anis hatte inzwischen in der Kajüte nach Orestes gesehen, der dabei war, etwas zu trinken und anschließend hatte sie Platz genommen auf dem Stuhl ihres Vaters.
Die Piraten seien ausschließlich auf Profit aus und hätten keine politischen Motive für ihre Überfälle. Das jedenfalls sei die Einschätzung von Apostis, so Lira.
>Du scheinst anderer Ansicht zu sein< meinte ich zu meiner Freundin.
>Ein Land, welches über so viel Macht verfügt, fordert seine Widersacher geradezu heraus, ja, es produziert seine eigene politische Opposition!< es war das erste Mal, dass ich Lira so engagiert reden hörte und musste ihr bei der Einschätzung der Lage zustimmen.
>Recht hast du!< meinte ich und gab ihr einen Kuss. Wir lächelten und ich blickte in ihre kastanienbraunen Augen. Wie sie so da stand, war Lira eine Schönheit: Die Sonnenstrahlen verliehen ihrem schwarzen Haar einen Glanz, der sich über die zarte weiße Haut ihrer filigranen Gesichtszüge legte – ich glaubte, in ihr die Inkarnation einer Göttin zu sehen und war gefangen von ihrer aparten Erscheinung. Ich löste meinen Blick von ihr, um André zu suchen. Der befand sich in der Kajüte bei Anis. Ich würde gleich ebenfalls in das Heck des Schiffes wechseln, um die genauen Order für die Weiterfahrt in Erfahrung zu bringen.
>Was hat er sonst noch erzählt?< wollte ich von Lira wissen.
>Der Mann hat ein unglaubliches Interesse an den Ländern „jenseits der Säulen des Herakles“< Lira zitierte Apostis bezüglich der Säulen wörtlich. Gemeint war natürlich die Straße von Gibraltar. Hatten die Minoer schon den Atlantik befahren? Bei den späteren Phöniziern konnte man sich ziemlich sicher sein, aber bei den Minoern wusste man das nicht. Wir mussten jedenfalls vorsichtig sein in Sachen Informationen und Reiseberichte, um Apostis` Ambitionen nicht zu sehr zu forcieren.
>Was war eigentlich los mit dir im Salon von Apostis?< ich konnte nicht vergessen, wie vermeintlich eifersüchtig Lira geworden war, als ich mit der Tochter des Kapitäns Kontakt hatte. Wir unterhielten uns über die Klassiker, die eine Beziehung begleiten, während draußen auf See eine vielleicht tödliche Gefahr sich auf uns zubewegte – das war schon allerhand! Und dann war da noch der Vulkan, der seine schwefeligen Gase in die Atmosphäre entließ. Nicht zu vergessen die Gefahr eines Tsunamis, der infolge eines Bebens auftreten konnte. Ohne eine befriedigende Antwort erhalten zu haben, durchquerte ich die Reihen der Ruderer und begab mich zur Kajüte. Anis erhob sich von ihrem thronähnlichen Stuhl und sprach mich direkt an:
>Ich möchte, dass ihr Euch bereithaltet für Euren Rudereinsatz, ebenso Euer Freund André!<.
>Jawohl, Kapitän!< antwortete ich pflichtgemäß. Dann wandte Anis sich an die Mannschaft:
>Spyros und Kampos – holt das Segel ein! Ruderer: halbe Kraft voraus, direkter Kurs auf Kreta!< Anis` Stimme war nicht wiederzuerkennen. Sie war voller Kraft und Energie. Die Frau ließ keinen Zweifel daran, wer nun das Sagen auf dem Schiff hatte. Ehrfurchtsvoll trat ich einen Schritt zurück. Orestes war inzwischen von seinem Lager aufgestanden und befand sich neben André. Ich trat zu beiden hinüber:
>Wie geht es dir, Orestes?<
>Schon besser. Danke, dass du mir die Kräuter verabreicht hast. Sie entfalten immer noch eine angenehm beruhigende Wirkung< offenbar hatte Anis ihm davon erzählt. Sie hatte mich beobachtet, wie ich Orestes` Brust eingerieben hatte. André legte seinen Arm auf die Schulter von Orestes und meinte:
>Du siehst so gut aus, mein Junge, du kannst gleich für zwei Männer rudern!<. So süffisant konnte nur André sein. Orestes verstand natürlich die Ironie nicht und schaute äußerst verdutzt drein.
>Das war ein Scherz!< ergänzte André denn auch, um weitere Verwirrung zu vermeiden.
>Wolltest du nicht Botschafter werden auf Anderran?< fragte ich meinen Freund.
>Den Job macht jetzt Dennis. Aber ein Amt für Soziale Angelegenheiten könnte ich mir auch gut vorstellen.< entgegnete André.
>Dann musst du noch an deiner Empathie arbeiten, vermute ich< beschloss ich unsere kleine Konversation.
Atlatos, ein schlaksiger, mit Narben verzierter Veteran, trat an die Kajüte heran:
>Ja, was ist – Atlatos?< fragte Anis, die wieder Platz genommen hatte.
>Das Segel ist eingeholt. Ich empfehle nun, die Ruderfrequenz zu erhöhen<.
>Gut – erhöhen um sechs Schläge!< gab Anis den Befehl weiter an den Mann, den sie inzwischen zum ersten Offizier ernannt hatte. Atlatos gab den Befehl weiter an die Ruderer, die sich nun deutlich spürbar in die Riemen legten, denn das Schiff begann nun wirklich Fahrt zu machen. Glücklicherweise hatten wir kaum Fracht an Bord und so lag die „Minoa“ nicht allzu tief im Wasser: mehr Auftrieb, höhere Geschwindigkeit. Leider war immer noch Flaute, sodass wir keinerlei Unterstützung durch den Wind hatten.
>Ich glaube nicht, dass uns Piraten angreifen werden< meinte André ziemlich selbstsicher.
Anis hatte diesen Satz mitgehört. Die Kajüte war nicht sonderlich groß.
>Dieser Teil der See ist bekannt dafür, dass Piraten, wie aus dem Nichts auftauchen und unvorsichtige Schiffe ausrauben, alle an Bord töten und den Rest verbrennen< Anis hatte sich zu André herumgedreht und schaute ihm dabei direkt in die Augen, was seine Wirkung nicht verfehlte.
>Entschuldigung, ich wollte nicht respektlos sein< war Andrés kleinlaute Antwort.
>Schon gut, ihr Männer des Nordens. Auf euren Flüssen mögt ihr die Meister sein, hier sind wir die Besten!< das hatte gesessen!
Seit langem schon hatte ich André nicht mehr so pikiert erlebt – er hatte richtig Farbe bekommen im Gesicht. Bei Orestes mochte sein vorlautes Mundwerk ja noch ungestraft Erfolg haben, bei einer Frau wie Anis allerdings, konnte man nicht vorsichtig genug sein. Hinzu kam: Wir befanden uns zwar per Definition auf einem zivilen Handelsschiff, unterstanden aber dennoch einer strengen Hierarchie unter kriegsähnlichen Zuständen. Wir mussten uns anpassen. Wir waren auch nicht auf Anderran, wo ein völlig anderes Verständnis im Umgang miteinander herrschte. Wir sollten uns besser wieder unserer sogenannten preußischen Tugenden vergegenwärtigen. Ich setzte mich an Backbord auf den Boden und lugte zwischen den flatternden Tüchern hindurch, um nach einer Spur der Korvetten zu sehen. Der Fahrtwind war nun deutlich zu spüren und sehr angenehm. Vor allem Orestes schien sich bei der leichten Brise wesentlich besser zu fühlen und ich erkannte ein Lächeln in seinem Bart. Er setzte sich neben mich und bedankte sich noch einmal für meine Pflegedienste. Offenbar hatte meine Fürsorge auf Orestes einen tiefen Eindruck hinterlassen. Für mich war das nicht das Ziel gewesen. Ich handelte sehr oft rein intuitiv und hatte eine gute Erziehung genossen, die vor allem sehr sozial geprägt war.
Erst als ich mich ganz hinten im Heck des Schiffes aufhielt, fiel mir auf, wie prächtig der Stuhl des Kapitäns war, der eher einem kleinen Thron glich, als einer praktischen Sitzgelegenheit für einen Kapitän. Er war aus Zedernholz geschnitzt und auf seiner Rückseite mit Intarsien versehen, die mit Steinen aus Türkis und Opal geschmückt waren. Die Armlehen waren offenbar aus Elfenbahn und aus Ägypten importiert. Auf dem Sitz lag das Fell eines Leoparden. Wahrlich, ein kleiner Thron, der die Macht seines Kapitäns mit aller Deutlichkeit unterstrich, zudem ruhte der Stuhl auch noch auf einer steinernen Plattform, um eine künstliche Erhöhung herzustellen. Vom Boden aus gesehen war es, als schaue ich wahrlich auf einen Thron mit jemandem darauf, dem ich unbedingten Gehorsam zu leisten hätte. Mir war nicht wohl ob dieser Dominanz von Macht, und Orestes ging es ähnlich, das war mir klar, als sich unsere Blicke trafen. Ich glaubte in diesem Moment, dass uns eines Tages noch eine tiefe Freundschaft verbinden würde. So viel Seelenverwandtschaft war ich zu meiner Zeit in Aachen eigentlich nicht gewohnt. Nun setzte sich auch an André zu uns. Im Grunde genommen hatten wir Angst, und mit der Kommunikation, die wir betrieben und die Nähe, die wir suchten, überspielten wir diese Furcht.
>Wenn wir in Knossos sind, muss ich mir unbedingt die Zeit nehmen, die Architektur der Häuser zu studieren< meinte André. Ich entgegnete:
>Ja, wundervoll. Mir waren schon in Akrothiri Parallelen zum Bauhaus aufgefallen<.
>Du bist ja gut, Mann!< lobte er mich.
>Du hast mich ja erst auf den Geschmack gebracht in den 80er Jahren<.
Als wir uns 1982 auf dem Marktplatz von Aachen im Schatten des Rathauses kennengelernt hatten, war ich in Sachen Architektur völlig unbedarft und mit Begriffen, wie z.B. Gotik oder Romanik konnte ich rein gar nichts anfangen. Das änderte sich, als mich André, der später Architektur in Siegen studieren sollte, unter seine Fittiche nahm. Im Gegenzug brachte ich ihm einige botanische Begriffe näher und infizierte ihn mit meiner Liebe zu den Wäldern und vor allem solitär stehenden Bäumen, die hin und wieder einen Denkmalstaus erhielten. Eine besondere Vorliebe hatte ich für alte knorrige Eichen entwickelt, die völlig alleine in der Ebene auf irgendwelchen Äckern standen und seit vielen hundert Jahren allen klimatischen Witterungen und Schwankungen zum Trotz, den Einflüssen von Mensch und Natur trotzten. Ich liebte es, in der Nähe dieser Lebewesen meine Zeit zu verbringen. Es gab mir die Möglichkeit, die Zeit anzuhalten und Ruhe zu finden in einer Gesellschaft, die ich leider allzu oft als sehr feindlich empfand gegenüber Menschen, die eine andere Auffassung vertraten von Lebensgestaltung und politischer Einstellung, als dies der Mainstream tat.
>Wenn wir wieder auf Anderran sind, führe ich euch beide mal durch die Wälder von Kongress< schaltete sich nun Orestes ein.
>Au ja, da freue ich mich schon drauf!< gab ich zur Antwort, während André zustimmend nickte. Wir würden Lira mitnehmen und uns irgendwo auf einer Lichtung niederlassen und ein kleines Picknick veranstalten – wenn inzwischen nicht schon der Krieg das Land und den ganzen Planeten ins Chaos gestürzt hatte, sinnierte ich. Nicht nur über meinem geistigen Horizont brauten sich dunkle Wolken zusammen, auch die Rauchfahne des Vulkans von Thera brachte sich ins Bewusstsein zurück und verdunkelte die Sonne. Der Wind hatte sich wieder gedreht und kam nun aus nördlicher Richtung und das spürbar. Anis reagierte sofort:
>Das Segel hissen!< Die Matrosen Kampos und Spyros machten sich daran, den erteilten Befehl umzusetzen und schon sehr bald flatterte das weiß-rote Segel im Wind, blähte sich immer mehr auf und erhöhte alsbald die Geschwindigkeit des Schiffes.
Ich blickte erneut Backbord durch die Tücher der Kabine und konnte sehen, wie die Korvette mit Apostis von seiner Erkundung zurück auf die „Minoa“ zuhielt. Ist ja nochmal gut gegangen, dachte ich erleichtert. Offenbar hatte die Korvette keine beunruhigende Zusammenrottung von Piraten beobachten können. Die zweite Korvette hielt sich in Sichtweite zur „Aurora“ auf, um diese im Falle einer Auseinandersetzung mit den Freibeutern, zu unterstützen. Beide Schiffe kamen nun immer näher und würden bald ihre alten Positionen wieder einnehmen. Lira hatte ihren Job im Bug erledigt und wurde durch einen Mann ersetzt, der zuvor für die Sicherung der Fracht zuständig war. Oberste Priorität für diese Arbeit - das Krähennest und Fernglas waren noch nicht erfunden – erforderte eine exzellente Sehkraft. Lira besaß sie ganz offenbar, hatte nun aber genug von dem Job. Die ständige Konzentration ließ die Sinne erlahmen, machte müde und erhöhte somit die Gefahr, etwas am Horizont zu übersehen und das konnte fatale Folgen haben.
Als Lira zu uns nach hinten ins Schiff kam, sackte sie zu Boden und war völlig fertig. Die Hitze des Tages hatte ihr den Rest gegeben. Ich gab ihr aus einem Wasserschlauch zu trinken und sie war dankbar über die durstlöschende Flüssigkeit, welche ihre Lebensgeister wiedererweckte.
>Danke dir!<
>Gerne, liebste Lira!< ich weiß sehr gut, was du geleistet hast da vorne im Bug<.
Ich hätte den Job bestimmt nicht übernehmen können, denn mein Augenlicht war aufgrund von Alter und den vielen Jugendsünden, die ich begangen hatte, erheblich eingeschränkt. Zwar musste ich noch keine Brille tragen, aber lange würde sich es wohl nicht mehr vermeiden lassen, auf die Gläser zu verzichten.
Wider Erwarten blieb Apostis an Bord der „Aurora“ und ich war froh darüber. Seit dem Eklat um die ausgepeitschten Männer an Bord, konnte ich auf die Gesellschaft dieses Mannes verzichten. Anis entspannte sich auf ihrem Thron und gab Kommando, das Tempo zu drosseln. Die Männer konnten sich ein wenig ausruhen. Der aufkommende Nordwind wurde stärker, blähte das Segel nun vollends auf und wir machten infolgedessen bestimmt an die 30 Knoten. Das war verdammt viel, wenn man bedenkt, dass spätere Nachbauten gerade einmal die Hälfte dieser Geschwindigkeit erreichten. Die Originale waren eben doch die besseren und die Minoer nicht umsonst die Herren des (östlichen) Mittelmeeres.



Sie kamen aus der Sonne! Die Schiffe schlichen sich, ohne Segel gesetzt zu haben, aus Richtung Westen heran und konnten so nicht rechtzeitig ausgemacht werden. Als unser Mann im Bug sie gesichtet hatte, war es bereits zu spät und die Piraten setzten schließlich die Segel und bliesen zum Sturm auf unseren kleinen Konvoi. Anis reagierte sofort:
>Ruderer – volle Kraft voraus!< der erste Offizier brauchte den Befehl nicht mehr weiterzugeben, denn Anis hatte ihren Thron verlassen und stand nun direkt vor den Männern, die sie verbal aus voller Brust nach vorne trieb.
>Verdammt, wie konnte das passieren!?< entfuhr es André, der zuvor noch einen Angriff ausgeschlossen hatte. Dann trat Agrocolos an mich heran und ich musste meine großzügige Offerte, die ich zu Beginn der Reise gemacht hatte, nun einlösen: Ich setzte mich an Steuerbord auf die Bank und begann, mich in die Riemen zu legen. An Backbord saß André, der total sauer auf mich war, weil ich ihn ungefragt miteinbezogen hatte in mein Angebot, die Besatzung beim Rudern zu unterstützen. Da saßen wir ganz schön in der Tinte! Ausgerechnet beim Rotalarm - ohne Aufwärmübung - an die Ruderpinne eines dreißig Meter langen Frachtschiffs zu müssen, war wie ein Stoß hinein in wirklich ganz eisiges und tiefes Wasser. Es half alles nichts – da mussten wir jetzt durch.
>He-ja, He-ja, He-ja!!!< feuerte irgendwer uns an, alles zu geben. Ich blickte auf einen nackten Rücken vor mir, dem der Schweiß ausbrach und in kleinen Rinnsalen hinunterlief.
Ich hatte vergessen, diesen dämlichen keltischen Ring abzunehmen, der nun begann, meinen Hals aufzuscheuern. Ich konnte mich von diesem Ding nicht befreien, weil sonst der Schlagrhythmus unterbrochen worden wäre. Das Überleben aller Menschen an Bord hing am unermüdlichen Einsatz der Ruderer. Die Piraten hatten das äußerst geschickt angestellt, den Angriff aus Richtung der Sonne heraus zu starten. Allerdings hätte ein wirklich guter Flottenkapitän damit rechnen müssen und ich zweifelte inzwischen an der Kompetenz unseres vormaligen Gastgebers in Akrothiri. Während der wahnwitzig schnellen Ruderschläge begann ich, Apostis zu hassen! Mit jedem Schlag ein wenig mehr. Und noch ein bisschen mehr. Später wurde mir klar, dass es diese unglaubliche Wut gewesen war, die mich hatte durchhalten lassen an der Ruderpinne.
Dann fiel mir ein: Nie wären wir hier gelandet, wenn der Multiverser uns wie geplant nach Kreta transportiert hätte und nicht wie geschehen nach Thera! Dieser verfluchte Transporter! Ich fluchte, was das Zeugs hielt. Dann schnürte der Hass und die Wut mir die Kehle zu. Ich musste an etwas anderes denken und holte mir die Bilder sonnendurchfluteter Landschaften ins Gedächtnis zurück. Langsam begann ich wieder frei atmen zu können und bekam allmählich ein Gefühl für den Takt der Ruderschläge. Wir mussten inzwischen 40 oder mehr Knoten machen – so glaubte ich, in meiner nautischen Unbedarftheit.
Während wir an den Rudern schwitzten und uns die Seele aus dem Leib schufteten, machten die Korvetten ihren Job und begannen damit, die Freibeuter abzufangen. Sie steuerten geradewegs auf sie zu, um das eine oder andere Schiff der Piraten zu rammen. Somit glichen sie in ihrer Funktion diesmal eher Zerstörern, als Korvetten.
In meiner Annahme, es könne nicht schlimmer kommen, begann ein Pfeilhagel auf uns niederzuregnen. Die ersten Schmerzensschreie ertönten und einige der Ruderer sackten blutüberströmt zusammen. Auch der Mann vor mir war getroffen. Ein Pfeil steckte quer in seinem Hals, er hatte ihn glatt durchbohrt. Ich erinnere mich noch, wie verwundert ich war, dass nur ganz wenig Blut aus den Wunden tropfte. Den Befehl an die Männer, das Rudern einzustellen, hatte ich gar nicht mitbekommen und machte noch den einen oder anderen Schlag, bis ich beobachten konnte, dass einige der Ruderer unter ihren Bänken Pfeil und Bogen hervorzogen und sich damit bereitmachten, die „Minoa“ zu verteidigen.
Noch nie hatte ich auch nur einen Pfeil in meinem Leben abgeschossen. Ich konnte sehen, wie André schon längst sich bewaffnet hatte und in Richtung der Piratenschiffe etliche Pfeile abschoss: Sie gingen samt und sonders ins Wasser nieder, ohne auch nur entfernt in die Reichweite des Feindes zu geraten. Sein Vorhaben war kontraproduktiv, ja, äußerst leichtsinnig, er lief Gefahr, die eigenen Leute in den Korvetten zu treffen. Zu allem Überfluss musste ich auch noch feststellen, dass die Piraten nicht mit ein oder zwei Schiffen angriffen, sondern mit vier, fünf, sechs Schiffen!
Ich konnte es nicht fassen, mir war absolut schleierhaft, wo die alle herkamen. Und dann: Was für ein Aufwand für ein einziges minoisches Frachtschiff! Ich musste mir eingestehen, wir hatten nicht die geringste Chance gegen diese Übermacht. Die Freibeuter hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt beim Angriff und dann waren sie in der Anzahl der Schiffe absolut überlegen. Zudem vermutete ich, dass wir auf die Gnade der Gewinner nicht rechnen konnten. Selbst wenn man die Schlacht überleben würde, winkte allenfalls die Sklaverei. Das waren keine wirklich hoffnungsfrohen Aussichten.
In dem ganzen Tumult war mir der Multiverser wieder eingefallen. Mithilfe des Gerätes konnten wir entkommen. Ich musste sofort mit André zur Kajüte. Anscheinend hatte mein Freund den gleichen Gedanken und wir kämpften uns gemeinsam durch den Pfeilhagel hindurch über Leichen steigend ins Heck der „Minoa“, wo es schrecklich aussah. Anis lag von einem Geschoss am Arm getroffen auf dem Boden und war bewusstlos. Ich konnte sehen, wie Orestes den Multiverser in der Hand hielt und Lira am ganzen Körper zitternd bei ihm stand.
>Wir müssen hier weg!< schrie ich Orestes an, der Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben, denn just in diesem Augenblick rammte uns eines der Piratenschiffe und die „Minoa“ hatte Schlagseite bekommen. Der Multiverser entglitt Orestes` Händen und flog in hohem Bogen durch die Fetzen der Tücher, die einmal so farbenfroh flatternd im Wind unsere Reise begleitet hatten, über Bord! Damit schwand auch noch unsere letzte Hoffnung aus diesem Gemetzel lebend herauszukommen. Ich stürzte auf Lira zu und nahm sie in den Arm. Anschließend warfen wir uns auf den Boden, um dem Pfeilhagel zu entgehen. Ich fragte mich, wozu wir eigentlich den Begleitschutz dabei hatten und war unglaublich wütend über das vermeintlich komplette Versagen von Apostis und seinen Mannen. Ich strich durch das schwarze glänzende Haar meiner Liebsten und hatte mit dem Leben abgeschlossen. Ich konnte sehen, wie Tränen über das bleiche Gesicht meiner Freundin rannen und drückte sie ganz fest an mich.
Ein flammendes Geschoss hatte den Mittelteil unseres Schiffes getroffen und setzte die „Minoa“ in Brand. Niemand löschte das Feuer, weil keiner der Besatzung mehr zu leben schien. Die Kommunikatoren! Wir mussten wenigsten diese Geräte retten, denn falls wir überleben sollten, konnten wir keinesfalls darauf verzichten. Ich sah in die Kajüte hinauf und über die Bordwand hinweg: Das Begleitschiff der „Aurora“ war gesunken und das Schiff des Apostis hatte Schlagseite wie wir. Ein Piratenschiff war ebenfalls dabei zu sinken, aber das war nicht das Entscheidende: Südlich von uns erschien der minoische Konvoi, der auf dem Weg nach Thera war und den wir schon vor längerer Zeit hätten treffen müssen auf unserem Kurs. Das konnte unserer Rettung sein und ich machte sofort Lira darauf aufmerksam, die langsam zögernd wieder Lebensmut entwickelte:
>Lass uns ganz schnell nach Anderran, wenn das hier vorbei ist< ließ ihre zitternde Stimme verlautbaren.
Ich versprach, dafür zu sorgen. Dies war das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, denn inzwischen hatte der Segelmast Feuer gefangen und ein Teil davon traf mich am Kopf und ich verlor das Bewusstsein.


Als ich wieder zu mir kam, trieb ich allein auf der See. Meine Beine befanden sich unterhalb der Wasseroberfläche, während mein Oberkörper auf einigen zersplitterten Schiffsplanken ruhte. Mein Überlebensinstinkt hatte mich an den Holzbrettern festklammern lassen. Um mich herum war es totenstill. Nur die Wellenschläge waren zu vernehmen. So musste sich Humphrey van Weyden gefühlt haben, als er in der Bucht von San Francisco trieb, nachdem das Passagierschiff zuvor im Nebel gerammt worden war. Mir ging tatsächlich Jack Londons „Der Seewolf“ durch den Kopf. Jeden Moment erwartete ich die „Ghost“, auf dem der äußerst gewalttätige Kapitän Wolf Larson sein Unwesen trieb. Nur der Nebel fehlte und das Wasser war glücklicherweise auch nicht so kalt.
Wo war Lira? Wo waren die Schiffe der Minoer, die auf uns zugehalten hatten? Nichts war von ihnen zu sehen. Vielleicht waren sie hinter den Wellen versteckt, denn die See war alles andere als glatt. Wenn ich sie nicht sehen konnte, dann sie mich womöglich auch nicht. Ein Anflug von Panik ereilte mich. Ich musste Ruhe bewahren. Noch war nicht alles verloren. Die kretisch Küste war zu weit entfernt, um sie schwimmend zu erreichen. Der Wind trieb mich zwar in die richtige Richtung, aber bis ich dort anlanden würde, wäre die minoische Kultur längst untergegangen, dachte ich. Trotz der beinahe aussichtslosen Lage hatte ich nicht meinen Galgenhumor verloren. Das war gut so, denn es erhöhte die Chancen auf ein Überleben. Dann fiel mir auf, dass auf einer der Planken ein Name zu erkennen war. Doch der Schiffsname war nicht „Minoa“, wie ich eigentlich erwartet hatte, sondern ein anderer, den ich nicht entziffern konnte. Dies mussten die Reste eines der Piratenschiffe gewesen sein. Ich versuchte, mich zu erinnern, was genau vorgefallen war, aber ich konnte mich nicht an einen Kampf Mann-gegen-Mann entsinnen. Ich wusste nur noch, dass ich mit Lira auf dem Boden der Kajüte lag und mich etwas am Kopf getroffen hatte. Und dann spürte ich auch die Verletzung an meinem Schädel. Ich tastete mit meinen Fingern danach und lokalisierte eine brutale Beule. Blut hatte ich keines an den Fingern. Es hätte schlimmer kommen können. Die Schiffsplanken waren breit genug, um meinen ganzen Körper aufzunehmen. Ich beschloss, mich hinaufzuziehen, um im Trockenen zu liegen. Vielleicht könnte ich mich – gut ausbalanciert – die Beine spreizend hinstellen, um einen erhöhten Standort zu erreichen. Auf diese Weise konnte ich mehr sehen und vielleicht auf mich aufmerksam machen – falls da irgendwo wer sein sollte. Nur dürfte es keines der Piratenschiffe sein und ermahnte mich zur Vorsicht bei meinem Vorhaben. Mit aller Kraft begann ich, mich nach vorne vorzuarbeiten und spürte dabei einen heftigen Schmerz am Hals. Dieser ätzende Ring! Das Salzwasser nagte an meinen Wunden und mit mühevollem Einsatz gelang es mir, dieses pseudokeltische Relikt vom Hals zu streifen, beschloss aber, es nicht im Meer zu versenken. Das Teil konnte noch einmal von Wert sein bei einem Handel. Ich war wirklich erstaunt über meinen Optimismus in dieser Situation. Aber so sollte es sein. Ich musste und wollte den Lebensmut nicht verlieren.
Zu oft stand in der Vergangenheit mein Leben schon auf Messers Schneide und ich hatte mich immer wieder mit sehr viel Willenskraft aus dem Loch, in dem ich mich befand, wieder herausgezogen. Es würde mir auch diesmal gelingen! Außerdem wollte ich Lira wiedersehen. Und André. Und auch Orestes. Im Grunde wollte ich auch die Mission zu Ende führen, denn, wenn ich einmal etwas angefangen hatte, dann zog ich die Sache auch durch. Ich konnte es nicht ertragen, unerledigte, wichtige Dinge einfach liegen zu lassen. Ich arbeitete immer zielstrebig und strukturiert. Auch in dieser Situation würde mir diese Mentalität äußerst hilfreich sein.
Ich robbte auf die Planken und legte mich erst mal auf den Rücken und atmete tief durch. Es war spät geworden, denn zusehends begann der Tag sich zu Ende zu neigen. Bei dieser Feststellung sank wiederum mein Lebensmut. Jetzt nicht durchdrehen! Aber im Dunkeln würde mich niemals jemand entdecken in den Wellentälern dieser See. Dann musste ich bis zum Morgen durchhalten und hoffen, dass man die Suche nicht aufgeben würde. Meine Hoffnung klammerte sich an meine Freunde – sie waren die Strohhalme zwischen mir und dem Hades.
In meiner Rechten hielt ich den Kommunikator fest umklammert, wollte ihn auf keinen Fall im Wasser verlieren. Es stürmte, das Boot lief voll und ich war allein auf der See. Durchnässt und fröstelnd wählte ich die einzige Nummer, die ich im Kopf behalten hatte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine mir bekannte Frauenstimme: >Ja, wer da?<. >Ich bin´s, Paul – tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe!< entschuldigte ich meine wochenlange Abwesenheit. >Paul, wo bist du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht...< es war meine Schwester Angelika, die außer sich war. Inzwischen war sie in meiner Wohnung gewesen, hatte sie durch die Polizei öffnen lassen, weil sie vermutet hatte, mir könnte etwas zugestoßen sein. Tatsächlich hatte ich sie bei meinem irren Ritt durch Zeit und Raum total vergessen und nun plagte mich ein schlechtes Gewissen und wusste nicht , was ich sagen sollte. >Bitte hol mich hier ab, Angelika, ich treibe auf dem Meer, das Schiff ist gesunken!< bat ich sie flehentlich um Hilfe. >Welches Meer, welches Schiff? Willst du mich verschaukeln? Ich finde das jetzt gar nicht lustig!< war die Antwort. Schaukeln, schaukeln, schaukeln...
Ich war vor Erschöpfung eingenickt und hatte diesen unsäglichen Traum. Inzwischen war es beinahe dunkel geworden und der Mond aufgegangen. Dann fiel mir der Kommunikator ein. Weil ich nie ein besonders inniges Verhältnis zu meinem Smartphone hatte und auch sonst nicht gerne telefonierte, hatte es so lange gedauert, bis mir das Gerät wieder einfiel.
Mit einer Hand nestelte ich an meinem Umhang, den ich glücklicherweise noch an hatte und griff in eine der Seitentaschen. Ich atmete erleichtert auf: Der Kommunikator war noch da! Hoffentlich war der auch wasserdicht. Ich wählte natürlich nicht die Nummer meiner Schwester, sondern nur die „1“. Tüt, Tüt, Tüt...>Paul, bist du das? Paul, melde dich…!< es war unverkennbar Lira! >Lira, Lira...ich bin hier!< ich fuchtelte völlig hysterisch mit dem linken Arm herum >Hier, ich bin hier, siehst du mich?<.
Das war so etwas von kontraproduktiv. Erst später stand ich auf den Beinen und wedelte mit meinem Hemd und hoffte, dass sie mich sehen konnten. Ich erblickte hingegen tatsächlich den Mast eines Segels, an dem eine Laterne hing. Ein erstaunlich helles Licht für eine antike Gesellschaft, dachte ich.



Ich blickte in das Antlitz eines Mannes, der genau wusste, was er wollte. Lareos war Kapitän des Konvois, der uns aus den Klauen der Piraten gerettet hatte; er hatte Order, Apostis der Gerichtsbarkeit des Palastes von Knossos zu überstellen. Nicht ganz uneigennützig – wie ich vermutete – erfüllte der Mann seinen Auftrag mit äußerster Akribie und war hochmotiviert, seine Mission zur Zufriedenheit des Königs und des Priestertums zu erfüllen. Nicht zuletzt erwarteten auch die Götter im Falle des Apostis ein Urteil in der Angelegenheit. Der Vorwurf an den Gouverneur und Kapitän: Korruption! Bei diesem Stichwort fiel mir sofort der Holzstapel wieder ein, der vor Apostis` Haus gelegen hatte. Verschob der gute Apostis etwa wertvolles Frachtgut, war er vielleicht ein Hehler oder betrieb in ganz großem Stil einen illegalen Handel mit allerlei wertvollen Waren?
Hinzu kam nach Meinung des Lareos ein Mitverschulden an der Zerstörung und den Untergang des ihm unterstellten Konvois. Um so beflissentlicher war der Eifer, den Lareos an den Tag legte; für ihn war die Vernichtung der kleinen Flotte ein willkommener Anlass, einen Mitkonkurrenten auf das Admiralsamt loszuwerden. Sollte ein Versagen des Apostis nachgewiesen werden, würde Lareos` Karriere einen ungeahnten Schub erhalten und gleichzeitig das Ende von Apostis bedeuten.
>Ist Euch nicht etwa aufgefallen, wie klein der Konvoi war und so gut wie keine Fracht an Bord vorhanden – das ist doch sehr ungewöhnlich gewesen, oder?< obwohl ich noch unter den verstörenden Eindrücken der vergangenen Ereignisse stand, unterzog mich der Kapitän einer Art Verhör. Ein schöner Schlamassel, dachte ich, da bist du so gerade einem Massaker entgangen, vor dem Ertrinken oder Verdursten gerettet worden, und bist nun mittendrin in einem minoischen Machtkampf um Posten und wirst womöglich selber irgendeiner Missetat verdächtigt. Ich beschloss, wahrheitsgemäße Aussagen zu machen. Mich interessierte nicht die Bohne, was diese eitlen Männer miteinander hatten. Die Geschichte würde diese Typen sowieso nie erwähnen! Bei den Minoern konnte nicht einmal ein Königtum nachgewiesen werden, geschweige denn die glorreichen Taten irgendwelcher Kapitäne oder Gouverneure. Alles, was die Männer hier taten, würde sich in keinster Weise auswirken auf den Fortlauf der Geschichte – nicht der des Abendlandes und auch nicht der von Ägypten. Ramses würde seinen Friedensvertrag schließen mit den Hethitern, die Griechen würden die theoretischen Grundlagen einer modernen Philosophie und Demokratie legen und 1945 würde die erste Atombombe gezündet werden.
Da biss die Maus keinen Faden ab. So jedenfalls war meine Einschätzung, als dieser Lareos seine Befragung bei mir durchführte. Vor dem Hintergrund meines vermeintlichen Wissens um die Zukunft, blieb ich erstaunlich ruhig und gelassen.
>Wie Ihr wisst, bin ich und meine Begleiter aus dem Norden und wollen mit Euch Handel treiben. Über die Seefahrt sind wir nur unzureichend in Kenntnis der Dinge, wie groß ein Konvoi sein sollte und welche Merkmale einen guten Kapitän auszeichnen< von der Seefahrt hatte ich wirklich nicht viel Ahnung, aber verbal konnte ich durchaus die eine oder andere Klippe umschiffen.
Lareos ließ für den Moment von mir ab und wünschte mir eine gute Genesung für dem Rest der Reise. Wir waren noch etwa 30 Kilometer von Amnissos entfernt, dem größeren und bedeutenderen Hafen von Knossos. Die Korvette auf der wir uns befanden glich eher einem Lazarettschiff. Lira war glücklicherweise unverletzt geblieben. Ich bekam immer mehr den Eindruck, dass sie psychisch unglaublich belastbar war. Ich merkte ihr nicht im Geringsten an, dass sie unter den zurückliegenden Vorkommnissen gelitten hatte; bei Orestes sah es da schon anders aus, der war ähnlich sensibel wie André und ich. Wir waren alle drei keine Männer des Krieges – Jäger, ja, auch durchaus gute Jäger, aber im Angesicht der Brutalität, zu der Menschen fähig sind, bekamen wir schlotternde Knie. Keiner von uns wäre in der Lage gewesen, jemanden kaltblütig zu ermorden. Die Pfeile, die André von der „Minoa“ abgefeuert hatte, waren eine reine Alibiveranstaltung. Niemand sollte ihm später vorhalten können, er hätte das Schiff nicht verteidigt. Eine durchaus kluge Entscheidung meines Freundes, auch wenn sie lediglich im Affekt getroffen wurde.
Der Kapitän hatte unsere Korvette verlassen, um auf das Schwesterschiff hinüberzuwechseln und dort Apostis zu befragen. Er hatte sorgfältig darauf geachtet, dass der Beschuldigte und seine Tochter keinen Kontakt haben würden zu der Besatzung seines einstigen Konvois – und auch nicht zu uns. Neben Orestes, Lira und André hielten sich noch Agrocolos – Steuermann der „Minoa“ - und einige verletzte Ruderer auf unserer Korvette auf, die schon sehr bald den Hafen von Amnissos erreichen würde.
Der erste Offizier der „Minoa“, Atlatos, war offenbar bei dem Piratenüberfall getötet worden, er befand sich jedenfalls nicht auf unserem Schiff. Es war bereits dunkle Nacht geworden und der Wind wehte recht stramm, sodass die Ruderer nicht wirklich viel arbeiten mussten. Die Laterne, die ich im Wasser treibend von der Schiffsplanke aus beobachten konnte, erhellte nun das Treiben auf dem Schiff, welches in Größe und Bauart den Begleitschiffen der „Minoa“ glich. In der Mitte des Schiffes, zwischen den Ruderbänken, lagen einige der Verletzten auf Matten. Im Heck befand sich eine kleine umbaute Kajüte, die innen von mehreren Öllampen erhellt wurde. Hier befanden wir uns, zusammen mit dem ersten Offizier, der das Kommando übernommen hatte, nachdem Lareos das Schiff verlassen hatte. Kashak hieß der Mann und war offensichtlich kein Minoer – er schien ägyptischer Abstammung zu sein. Schon wieder so eine illustre, internationale Gesellschaft, dachte ich.
Wenn es um die Durchsetzung von Macht und der Erwirtschaftung von Profit ging, taten sich die Grenzen auf und man verzichtete bereitwillig auf eine strikte Trennung zwischen den Nationalitäten. Diese Beobachtung hatte ich inzwischen schon sehr oft gemacht und sie schien universell zu sein. Auch die Emanzipation zwischen den Geschlechtern schien sich leichter zu bewerkstelligen, wenn die Zeiten gut waren und die Jahre fett. Auch an Bord unserer Korvette befand sich eine Frau mit beachtlichem Einfluss, Miranda hieß sie und erschien gleichberechtigt neben Kashak, der unser Schiff nun befehligte. Im Gespräch mit ihr erfuhr ich erstaunliche Dinge: Die Minoer durchfuhren die Straße von Gibraltar und ihre Schiffe brachten Zinn aus Spanien und Großbritannien in den Mittelmeerraum! Weil derzeit die Lagerstätten nicht den erforderlichen Nachschub sichern konnten, war sie begierig, von mir in Erfahrung zu bringen, ob wir als „Menschen des Nordens“ in der Hinsicht weiter helfen könnten. Wie gewöhnlich hielt ich mich zurück mit konkreten Information und übte mich in allgemeinen Formulierungen. Die Frau war allerdings hartnäckig und sprach von äußerst attraktiven Belohnungen durch den Hof von Knossos. Wir hätten für unser Leben ausgesorgt, wenn wir an einer der nächsten Reisen in die Länder des Nordens teilnehmen würden. Ich müsse die Sache später mit meinen Begleitern besprechen, ich alleine könne da keine Zusage machen. Damit war die Sache erst mal vom Tisch und ich war erleichtert, als sich Miranda wieder an das Steuer des Schiffes begab. Der Begriff Steuermann bedarf dringend einer geschlechtlichen Überarbeitung, dachte ich, dies war nun schon die zweite Frau, die ein minoisches Schiff durch die See steuerte. Folgerichtig fiel mir Anis wieder ein. Was würde aus der Frau werden? Sie war die Adoptivtochter eines Kapitäns, der der Korruption verdächtigt wurde. Ich hatte keine Ahnung vom Rechtssystem der Minoer, aber als Tochter dieses Mannes und vor allem als Steuerfrau eines minoischen Schiffes hätte sie etwas wissen können oder sogar müssen von den Anschuldigungen, die gemacht wurden. Sie befand sich in größter Gefahr und ich hatte das Gefühl, raus zu müssen aus der Beengtheit der Kajüte und trat vor die Kabine auf das Schiff, um die klare kühle Meeresluft einzuatmen.
Ich stand an der Reling und blickte in die Richtung, in der ich die Küste von Kreta vermutete. Lira trat an mich heran, legte ihren Arm um mich und meinte:
>Ich bin so froh, dass du lebst<.
>Das habe ich dir zu verdanken< antwortete ich >ohne deine Hartnäckigkeit wäre Lareos wohl weiter gesegelt<. Sie schwieg und wusste, dass ich Recht hatte. Was zählte schon ein einzelner Händler, der alleine und von den Göttern verlassen auf dem Meer trieb?!
>Die Minoer orientieren sich nach den Sternen – wusstest du das?< wechselte Lira das Thema.
>Nein, das wusste ich nicht. Es wurde behauptet, sie hätten die See nur bei Tag befahren< dies war tatsächlich die gängige Ansicht der meisten Historiker. Wie es aussah, befuhren die Minoer auch Nachts die See, aber nur in Ausnahmefällen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Diese Nacht war so eine Ausnahme: Ein Piratenüberfall mit anschließender Bergungsaktion von Überlebenden.
Und in dieser Nacht hatte Lira mit ihrem Wissen über Koordinatenbezüge und Sternenkonstellationen aktiv Lareos bei der Suche nach mir unterstützt. Auch kurz zuvor, als wir beide an der Reling standen, hatte sie mit Kashak den aktuellen Kurs bestimmt. Ich traute Lira zu, dass wir mit ihrem Wissen, punktgenau in Amnissos anlanden würden. Diese Frau war nicht nur extrem nervenstark, sondern auch eine höchst begabte Mathematikerin und Astronomin. Ich war zutiefst beeindruckt von ihren Stärken und hatte ihr tatsächlich mein Überleben zu verdanken. Ab heute stehe ich in ihrer Schuld, dachte ich, und wusste doch, dass ich mich wohl niemals wirklich revanchieren würde können für diesen grandiosen Akt der Freundschaft. Ich wollte eigentlich noch wissen, was nach meinem Blackout geschehen war und Lira meinte, ich wäre ganz plötzlich über Bord gegangen, als die „Minoa“ zu sinken begann:
>Dein Freund André hat sogar nach dir getaucht, aber er hat dich nirgends entdecken können in dem ganzen Chaos. Erst als der Konvoi des Lareos herannahte, zogen sich die Piraten zurück, aber die Zerstörungen war so katastrophal, dass den Trümmern und den vielen Toten es sehr schwer war, Überlebende zu finden< ich verstand schon:
>Und was geschah dann?< wollte ich wissen.
>Wie gesagt: Die Piraten zogen sich zurück und Lareos hatte uns an Bord geholt, die wir auf den Resten der „Minoa“ ausgeharrt hatten. Und dann gab der Mann den Befehl, Apostis festzunehmen und den Konvoi zu teilen. Während der größte Teil weitersegelte nach Thera, sind wir nach Amnissos zurückgekehrt<. Lira hatte Probleme, sich an Details zu erinnern und ich bekam das Gefühl, dass die ganze Geschichte doch nicht spurlos an ihr vorübergegangen war.
>Schon gut – entschuldige bitte, ich wollte dich keiner Befragung unterziehen, tut mir leid!< ich nahm sie in den Arm und küsste sie sanft auf ihren Hals, der glücklicherweise frei von blutigen Striemen war – im Gegensatz zu meinem.
>Dein Freund hat sich sehr gesorgt um dich, Paul. Er war sehr niedergeschlagen, als keine Spur von dir zu sehen war< flüsterte sie mir zu.
>Darf ich?< unterbrach André die Stille, die zwischen Lira und mir entstanden war. >Was hast du vor, wenn wir an Land sind?< wollte mein Freund von mir wissen und stellte sich neben mich an die Reling.
>Nein, sag nichts! Lass mich raten: Du willst Anis retten vor der Justiz der Minoer< wir kannten uns nun schon so lange, dass ich gar nicht erst versuchte, André etwas vorzumachen. Dann wandte sich Lira, die zu meiner Rechten stand, an André:
>Ich bin auch der Meinung, dass Anis eine tadellose Frau mit einem starken Charakter ist. Wir sollten sie nicht dem Henker überlassen!< wo hatte sie nur diese Redensart her, fragte ich mich allen Ernstes. Auf dem Planeten Anderran gab es weder Gefängnisse, noch die Todesstrafe. Ich schaute verblüfft in Liras Gesicht, die mich einfach nur wissend anlächelte. Natürlich hatte sie sich vor unserer Reise mit den „barbarischen“ Rechtssystemen der Erde vertraut gemacht und glaubte nicht an eine humanistische Judikative der Minoer.
>Euch beiden ist schon klar, dass diese Menschen bereits seit 3600 Jahren tot sind?!< erinnerte uns André daran, dass wir uns auf einer Zeitreise befanden.
Die Korvette schaukelte von einem Wellental in das nächste und erst jetzt bemerkte ich, was für ein tolles Gefühl das war. Ich liebte diese Form der Fortbewegung über das Meer, fast nur mithilfe des Windes zu reisen, den Naturgewalten ganz nah am Puls. Die Nacht war lauwarm, der Himmel sternenklar und die Elemente trieben uns geradewegs dahin, wo wir auch hin wollten. Die Dinge nahmen ihren Lauf und ich empfand eine tiefe Harmonie für die Dinge, die mich umgaben und die Menschen, die ich liebte – ich verspürte weder Angst, noch besaß ich den dringenden Wunsch, mich zu beeilen, um unsere Mission zu erfüllen. Fast wäre ich von einem Moment zum anderen im Stehen eingedöst. Dass ich noch vor kurzem fast auf See verstorben wäre, schien in meinem Bewusstsein keine Rolle mehr zu spielen. Orestes, der nun auch zu uns gestoßen war, weckte mich wieder auf:
>Tut mir leid, Paul, dass du über Bord gegangen warst – wäre alles nicht passiert, wenn der Multiverser richtig funktioniert hätte< Orestes empfand eine Mitschuld für mein Unglück, aber ich war nicht böse auf ihn und machte ihm das auch deutlich:
>Vergiss es, du kannst nichts dafür! Wenn wir nachher Land betreten, sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich nach Knossos kommen und unsere Mission beenden< André schaute mich zufrieden an und meinte:
>Das wollte ich hören, lieber Paul!<.
Wieder durchsegelten wir ein Wellental – sie war herrlich, diese Schaukelei! Auch Lira genoss dieses Auf und Ab im angenehm warmen Fahrtwind; alles schien perfekt in dieser Nacht.
>Ich nehme an, du willst die Strecke bis Knossos zu Fuß gehen< wollte André noch wissen.
>Es sind nur noch zehn Kilometer bis dahin< meldete sich Lira zu Wort.
>Elf, um genau zu sein< korrigierte ich, nicht ganz ernst gemeint und die Anderranerin legte ihre Stirn in Falten:
>Das war eine dieser ironischen Bemerkungen...< warf André ein.
>...von der man auf dem Planeten Anderran keine Ahnung hat< sagte Orestes.
>Du hast es begriffen, mein Junge!< André packte Orestes freundschaftlich bei den Schultern und schüttelte ihn ein wenig, um ihn anschließend zu umarmen.
>Was machen wir, wenn dieser Lareos uns nicht gehen lassen will?< damit sprach Orestes den Fall an, der uns latent alle beschäftigte.
>Dann werden wir sehen, was möglich ist und was nicht< viel mehr war mir zu Orestes` Frage nicht eingefallen.
>Wir könnten ja mal zur Abwechslung zu den Waffen greifen und uns den Weg freischießen. Ich hab mich auf der Minoa schon warm geschossen<
>Hab ich gesehen< meinte ich zu André und blickte zur Abwechslung einmal in die Runde. Unser konspiratives Gespräch sollte besser ungehört bleiben, dachte ich. Glücklicherweise befand sich niemand in unserer Nähe.
>Die Dunkelheit ist unser Freund< meinte André und hatte Recht. Kein Leuchtturm würde den Hafen und das Meer erhellen, keine Flutlichter und Straßenlaternen, keine Scheinwerfer – nichts. Ein paar Ölfunzeln hier und da. Unter diesen Umständen und einer allgemeinen Betriebsamkeit rund um die Schiffe, sollte es für uns möglich sein, durch die Maschen zu schlüpfen, ohne, dass es jemandem auffällt. Und wir waren alle gut zu Fuß und niemand hatte sich ernsthaft verletzt bei der Havarie. Es würde schon klappen. Auf nach Knossos!


Es war, wie ich erwartet hatte. Dank der navigatorischen Fähigkeiten der anderranischen Astronomie Studentin Lira erreichten wir in der nächtlichen Dunkelheit exakt das Mündungsdelta des Flusses mit angrenzendem Hafen von Amnissos. Die Anlagen waren um einiges größer, als die auf Thera und ich glaubte, im Dunkeln auch so etwas wie Kräne zu erkennen, die entlang einer sehr langen Mole standen und mich eher an Galgen erinnerten, als an Konstruktionen, die beim Be- und Entladen von Schiffsfracht dienen sollten. Wir vier standen immer noch an der Reling und waren ein wenig verwundert, dass uns noch niemand weitere Informationen über die Pläne des Lareos gegeben hatte.
>Ich schlage vor – wir sind jetzt ganz Händler, nehmen unsere Packen, denn Time is Money, und machen unsre Geschäfte in Knossos, wenn uns jemand anquatscht< ich stimmte André zu. So wollten wir vorgehen.
Das Segel war längst eingeholt, an Backbord die Ruder eingezogen und der schlanke Rumpf der Korvette legte absolut präzise und ruhig am Pier von Amnissos an.
>Endlich in Kreta!< seufzte André.
>Ja, wurde auch Zeit< entgegnete ich. Lira und Orestes griffen nach ihren Bündeln, so auch André und ich. Niemand hielt uns auf, als wir das Schiff verließen. Das war beunruhigend problemlos. Alle schienen mit irgendetwas beschäftigt zu sein. Überall wurde gewuselt, gepackt, ab- und aufgeladen. Die Verletzten wurden von Bord getragen. Die Kapitänin Miranda stand vor ihrer Kajüte, redete und gestikulierte. Auf der Mole ging es zügig in Richtung Siedlung. Wobei wir nicht unbedingt die Hauptstraße benutzen wollten, auf der wohl auch der Rest des Konvois gehen würde. Da der Multiverser über Bord gegangen war bei dem Überfall, waren wir jetzt ganz auf uns gestellt. Dies fiel mir erst wieder ein, als wir gerade um eine der vielen dunklen Ecken der Siedlung von Amnissos gebogen waren.
>Alle tot – 3600 Jahre tot< murmelte ich vor mich hin.
>Was?<
>Ach, ich musste gerade an Anis und ihren Vater denken< meinte ich zu André.
>Da vorne ist jemand, den wir fragen können nach dem Weg!< meldete sich Lira zu Wort. Eine Frau und ein Mann standen nahe eines Hauses und unterhielten sich. Nach dem Kommunikator hatten wir 22.45 Uhr Ortszeit. Also, lagen wir gut in der Zeit.
Wenn alles gut ging, müssten wir um Mitternacht in Knossos sein. Wie wir da allerdings ohne Ortung das Artefakt finden wollten, war mir schleierhaft. Gondvira meinte, das Gerät wäre im Palast von Knossos zu finden. Hoffentlich stimmte das. Wir konnten unmöglich die ganze Stadt nach dem Ding absuchen.
>Ah, Ah, Ah!< das war keine Einladung zum Tanz, sondern ein deutlich vernehmbares „Stopp“! Einer der drei Soldaten war aus dem Dunkel hervorgetreten und zeigte klar und deutlich, dass wir stehen bleiben sollten.
Allem Anschein nach, war dies das Ende unserer Flucht.
>Wollt Ihr etwa die überaus große Gastfreundschaft des Lareos ausschlagen und ihn vor den Göttern blamieren?< forderte der Soldat mit Nachdruck uns auf, dem Befehl Folge zu leisten und wieder zurückzukehren in Richtung Hafen.
>Das wollen wir natürlich nicht! Wir gedachten nur, niemandem zur Last zu fallen und unseren Weg nach Knossos fortzusetzen. Wir sind Händler – Zeit ist Geld!< antwortete André den Männern. Ich kam immer mehr zu der Ansicht, dass es keine Soldaten waren, sondern eher eine Art persönliche Leibwache von Lareos oder eine paramilitärische Einheit. Vielleicht waren es auch einfach nur Söldner. Das ganze Äußere mit den lederbesetzten Helmen und den übergroßen Lanzen, die sie bei sich trugen, wirkte nicht sonderlich bedrohlich. Zudem waren diese Männer eher recht klein. Ich schätzte sie auf nicht mal 1,70 Meter. Dagegen wirkte André mit seinen 1,90 Meter wie ein Riese. Leider war aber kein Schwarzenegger unter uns und zudem waren wir Pazifisten. Unter anderen Umständen hätten wir die drei Typen glatt in den Boden gerammt. Ich kann es nicht leugnen: Mir war tatsächlich danach, mich der Forderung der Soldaten mit Gewalt zu widersetzen. Andererseits war ich auch erleichtert, was eher unlogisch erscheint, aber ich wollte wissen, was mit Anis geschehen war. Ich wollte sie wiedersehen.
>Wir wussten nichts von einer Einladung!< mischte sich nun auch Lira ein, die absolut Recht hatte mit ihrem Einwand.
>Das ist doch selbstverständlich! Ihr müsst noch viel lernen von unseren Sitten und Gebräuchen, ihr Leute aus dem Norden< gab ein anderer des Trios zu Bedenken.
Wir hatten keine wirkliche Wahl mehr, also folgten wir widerstandslos den Männern von Lareos zu dessen Haus und waren höchst gespannt, ob die Einladung auch tatsächlich dem entsprach, was man so gemeinhin unter südeuropäischer Gastfreundschaft verstand. Das Paar, welches wir nach dem Weg fragen wollten, war inzwischen ins Haus verschwunden. Die Situation stand sinnbildlich für die Chance, unsere Mission zu einem schnellen finalen Ende zu führen. Erst die falsche Ausfahrt nach Kreta erwischt und auf Thera gelandet, dann der Piratenüberfall und nun auch noch ein geltungssüchtiger Minoer, der uns in die Suppe spuckte! Und dann schwebte über allem noch das Damoklesschwert eines Vulkanausbruchs.
>Na ja, was soll`s!< meinte ich mit fatalistischem Ton zu André und der gab zu Bedenken, dass er ziemlichen Hunger hätte und auch ein wenig Schlaf nicht schaden könne.
Wenn wir nicht im Kerker landen, gab ich zu Bedenken. Davon wollte André nichts wissen und träumte weiter von einer geschmorten Lammkeule mit einem leckeren Sößchen drüber. Orestes und Lira schienen sich den Träumen anzuschließen, denn von ihnen kam keinerlei verbaler Widerstand mehr und so zogen wir also zu unserem Gastgeber.



Das Anwesen des Lareos war wieder eines dieser Gebäude, welches an das Bauhaus erinnerte. Schlicht und reduziert auf eine einfache Formgebung, ohne Schnörkel und Bombast, wie man das vom Barock und Rokoko kannte. Dennoch schenkten die Minoer sich nichts, wenn es darum ging, ihren Reichtum und ihre Macht nach außen zu demonstrieren. Auch bei diesem Haus war das der Fall. Das Thema schien offensichtlich die Botanik zu sein, was mir natürlich als passioniertem Gärtner sehr gut gefiel. Im Zentrum der dargestellten Pflanzen stand die Lilie und damit hatten wir schließlich eine Insigne des späteren Barocks zu verzeichnen. Denn schließlich stand die Lilie im Wappen der französischen Bourbonen. Der sogenannte Sonnenkönig, Ludwig XIV., war der prominenteste Selbstdarsteller im Zeichen der Lilie, und so war mir nicht ganz wohl, als wir die Villa betraten. Was mochte uns hier wohl erwarten?
Inzwischen war ich auch recht müde geworden und hätte mich lieber zum Schlafen hingelegt. Wie in Beantwortung meiner Frage und meines Zustands wurde uns eine Kaffee ähnliche Substanz gereicht, die schwarz und dunkel in einem Becher vor sich hin schwappte. Das Zeugs schmeckte gar nicht übel und belebte die Sinne. Ich hatte keine Ahnung was das war und fragte auch nicht danach. Die zwei Anderraner verzogen ihre Gesichter, was ein ganz klares Missfallen zum Ausdruck brachte und in unserer Situation nicht besonders klug war.
>Schmeckt es euch nicht?< war denn auch prompt die Frage von Lareos, der uns in der Küche der Villa persönlich die Getränke darreichte.
>Die Dienerschaft ist anderweitig beschäftigt - morgen beginnen die Danksagungen an die Göttin Demeter< und so wurde klar, warum der Hausherr selbst, die „niedere“ Arbeit der Bewirtung übernahm.
>Nun, ich will Euch Eure sehr undankbare Haltung verzeihen. Ich bin bekannt für meine Großherzigkeit und Milde im Umgang mit den Menschen – egal woher sie kommen. Ihr habt sogar die Möglichkeit, Eure Freunde aus Thera zu sprechen. Bis morgen besteht von meiner Seite kein Bedarf mehr, mit Apostis und seiner Tochter zu sprechen. Wenn Ihr mitkommen wollt!< Lareos führte uns in einen Raum, der am Ende eines langen Korridors lag. Es war eher eine Art Abstellkammer mit allerlei Gerümpel darin. Immerhin war es nicht die Folterkammer des Schreckens, dachte ich, aber ziemlich respektlos gegenüber einem noch amtierenden Flottenkapitän und seiner Tochter.
>Meine Tochter wollte Euch sehen< begrüßte uns Apostis, der in der Mitte des Raumes stand, wie fest verwurzelt mit dem Boden unter seinen Füßen, die Tochter im Arm haltend und schützend gegen die Unbilden einer feindlich gesinnten und neidischen Umwelt.
Der Raum war letztlich doch größer als es zuerst den Anschein hatte: Hier hätte der komplette Hofstaat des Lareos noch Platz gehabt, wenn er denn nicht mit den Vorbereitungen für die kommenden Festivitäten beschäftigt gewesen wäre. Allerdings war lange nicht mehr sauber gemacht worden und überall waren in den Ecken und an den Wänden Spinnenräder zu erkennen und eine kleine Maus lief völlig angstfrei durch den Raum, auf der Suche nach etwas fressbarem. Just in diesem Augenblick meiner Beobachtungen, betrat ein Hausdiener das Zimmer mit einem Tablett voller kleiner gebackener Teigtaschen, die gefüllt waren mit allerlei Sorten von Gemüse. Das war mehr als man erwarten konnte unter diesen Umständen und mir fiel ein, dass wir schon wieder respektlos gehandelt hatten: Wir hatten alle vergessen, uns zu bedanken für die Rettung aus der Seenot! Das mussten wir unbedingt nachholen, wollten wir nicht vollends in Ungnade fallen bei unserem Gönner.
Wir setzten uns alle zusammen an einen Tisch und aßen von dem leichten Abendsnack, der sehr köstlich war und ganz bestimmt biologisch einwandfrei. Demeter persönlich wachte ja über die Menschen und die Erzeugnisse, die mit der Nahrungsmittelproduktion in Verbindung standen.
>Ich bin froh, dass es Euch gut geht!< unterbrach Anis die Stille, die beim Essen eingetreten war.
>Aber was ist mit Euch, Ihr habt eine Verletzung davongetragen< entgegnete ich der Tochter des Apostis.
>Das ist nicht weiter schlimm. Die inneren Verletzungen meiner Kindheit wiegen schwerer< im folgenden erzählte sie, wie sie als Kind von Apostis freigekauft worden war. Dies geschah vor vielen Jahren am Hof des Hyksosfürsten Secha´enre.
>Meine Eltern und unsere ganze Sippe waren damals getötet oder versklavt worden< erzählte Anis weiter.
Dass die Frau nicht aus dem Mittelmeerraum stammte war mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen, aber jetzt erst wurde mir klar, was für eine Odyssee sie hinter sich haben musste. Aus Nordeuropa kommend, verschleppt nach Arabien, verkauft an einen mächtigen Fürsten mit Sitz in Unterägypten. Erst Apostis` Mitleid mit dem einstigen kleinen Mädchen, brachte die Wende für das „arme Ding“. Mir fiel wieder ein, dass das Phänomen der Sklaverei keine Erfindung der sogenannten Neuzeit und der europäischen Kolonialmächte war. Die Sklaverei schien so alt zu sein, wie die Menschheit selbst und blonde Haare und hellhäutige Frauen hatten immer wieder „Konjunktur“ auf den Sklavenmärkten dieser Welt. Nicht dass ich ein sentimentales Gefühl gehabt hätte bezüglich Anis, ich war auch nicht verliebt in sie, aber ich war immer interessiert an Geschichten. Und Geschichten, die das Leben schrieb, waren immer noch die interessantesten – und emotionalsten!
Anis war so eine Person, die man nie wirklich kennen lernen würde, sie war so tiefgründig wie der Marianengraben und der markierte den tiefsten Punkt auf unserer Erde unterhalb der Meeresoberfläche. Ein wenig überrascht war ich schon, dass sie so bereitwillig und offenherzig über ihre Erfahrungen sprach; ich wähnte mich einstweilen in einer Therapiestunde, bei der eine äußerst selbstbewusste Frau über das kleine traumatisierte Kind in ihr sprach. So hatte sich infolge dieser „Sitzung“ auch so etwas wie eine beklemmende Atmosphäre entwickelt. Zu allem Überfluss standen auch noch vor der offenen Tür im Korridor die Palastwachen des Lareos und bekamen bestimmt das eine oder andere mit von dem, was wir da sprachen. Und einen Therapeuten hatten wir natürlich nicht zur Hand, der das Ganze hätte leiten und lenken können. Ich war froh und dankbar, als Apostis das Wort ergriff und zwar unüberhörbar für die Wachen:
>Aber heute geht es uns gut und dank meiner hervorragenden Beziehungen zum Königshof von Knossos werden die Anschuldigungen, die gegen mich ergangen sind, aus dem Weg geräumt werden!< sprach Apostis und so sollte es seiner Meinung nach geschehen. Wenn er sich da mal nicht zu sicher war!
Während unserer Unterredung bei Tisch waren meine Begleiter sehr ruhig geblieben und auch ich merkte nun, dass es Zeit wurde für den Nachtschlaf. Wenig später auch wurden wir hinaus geführt und bekamen ein ungleich charmanteres Domizil für die Nacht, als dies Apostis und seine Tochter hatten.



>Ihr sollt wissen, ihr seid keines Vergehens beschuldigt< waren die erlösenden Worte von Lareos am frühen Morgen des nächsten Tages in seinem Hause in Amnissos. Ich war wirklich erleichtert. Eine Verhandlung, bei der wir als Beschuldigte einer antiken Gerichtsbarkeit ausgeliefert wären, das hätte uns gerade noch gefehlt!
Dann holten wir nach, was wir schon längst getan hätten müssen: Wir bedankten uns artig für die Rettung aus den barbarischen Krallen der blutrünstigen Piraten. Lareos schien besänftigt und vergnügt in einem. Doch ich wollte mich nicht täuschen lassen. Ab heute wäre ich nicht mehr so vertrauensselig, wie bei Apostis. Jedenfalls nahm ich mir das fest vor. Nach einem ausgiebigen Frühstück – die Sonne war noch nicht aufgegangen – packten wir unsere Sachen, die alle noch vollzählig waren, bis auf den Multiverser, der bedauerlicherweise im Meer der Minoer versunken war. Dies war ein Umstand, der ab heute seine Aktualität nicht mehr verlieren würde. Schließlich waren wir in diese Welt gereist, um den einzigen auf der Erde vorhandenen Multiverser nach Anderran zu bringen, damit die Technologie ein für allemal vernichtet wird; aber dann verloren wir unseren Apparat bei einem Scharmützel mit den Freibeutern. Das war mehr als blamabel – es konnte das Scheitern der ganzen Mission bedeuten.
Was würde geschehen, wenn der Multiverser eines Tages wieder zum Vorschein käme, in den Fischernetzen irgendwelcher Kreter landen würde? So wie auch andere Fundstücke immer wieder aus der Antike auftauchen, wie beispielsweise die „Rechenmaschine“ von Antikythera. Ich unterrichtete meine Freunde von meinen Befürchtungen. Sie teilten meine Ansichten und waren ebenso beunruhigt. Aber wir waren absolut außerstande „hier und jetzt“ nach dem verlorengegangen Gerät zu suchen und mussten uns damit begnügen, den ursprünglichen Auftrag auszuführen und dann nach Anderran zu reisen.
Unter der Anleitung von Lareos hatten wir vor der Villa Aufstellung bezogen. Die bevorstehenden Thesmophorien erlaubten keinen Aufschub. Auf dem Weg nach Knossos würden die verschiedenen Musikinstrumente zum Einsatz kommen, die Formation geübt, der ganze Aufmarsch trainiert werden, damit die Festivität zu Ehren der Demeter und allen Gottheiten, die mit der Natur vertraut waren, zu einem Erfolg werden würde. Ich war mir allerdings sicher, dass dies mehr war als eine reine Prozession: Dies war eine Demonstration der Stärke und Macht. Die Stadt Amnissos schickte mit unserer Karawane eine starke Botschaft an Knossos, die hieß: Seht her, wir sind keine Vasallen von Knossos Gnaden, sondern eine stolze und freie Hafenstadt! Dies konnte, wie ich fand, bei Hof zu Knossos auch als Provokation aufgefasst werden, wenn der Aufmarsch allzu protzig ausfiel und Symbole verwendete, die der Handelspolitik von Knossos gefährlich schien. Trotz meiner Bedenken bezüglich des Umzugs hatte ich eine ausgesprochen gute Laune an diesem Morgen. Mein Optimismus wurde bestärkt, als wir von Lareos eine überraschende Offerte erhielten:
>Da Ihr meine Gäste seid, erlaube ich Euch, die Reise auf einer der Sänften zu bewältigen<. André und Orestes waren im Gegensatz zu mir keine wirklichen Läufertypen und nahmen das Angebot voller Begeisterung an. Ich dagegen entschied mich, die kurze Strecke von elf Kilometern zu Fuß zu gehen. Diesmal hatte ich das Glück, keinen Fauxpas zu begehen und den Gastgeber zu brüskieren, denn Lareos entgegnete äußerst vergnügt:
>Ihr respektiert die Götter und die Horen werden es Euch danken, insbesondere Gymnastika<.
Die Horen waren Götter, die einen Bezug zur Zeit hatten. Und die Göttin Gymnastika versprach den Menschen, die zu früher Morgenstunde ihren Körper in Form brachten, Glückseligkeit und Gesundheit. Später in Aachen würde ich der Gymnastika einen kleinen Altar bauen und diverse Opfergaben spendieren. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt Atheist, aber diese freudige Art und die lebendige Begeisterung, mit der bei den Minoern den Göttern gehuldigt wurde, erwärmte mein Herz immer mehr. Schon der Besuch auf Apostis` Anwesen auf der Insel Thera hatte in mir die durchaus positive Stimmung, die die antike Götterwelt auf mich ausübte, eine Abkehr von der strikten Ablehnung allem Göttlichen bewirkt. Was mich allerdings bedrückte und wiederum sehr nüchtern werden ließ, war die Tatsache, dass man Apostis und seine Tochter in eine Art Gefängniswagen steckte. Die zwei wurden tatsächlich in einen vergitterten Wagen eingepfercht wie Tiere, der Boden ein wenig mit Stroh bedeckt und sonst nichts in ihm. Mussten sie trinken, dann würden sie danach fragen müssen oder die Reise über dursten. Gezogen wurde die Karre von zwei Eseln. Sehr schnell würden wir so nicht reisen und so hatte ich natürlich nicht die geringsten Probleme damit, die Strecke per pedes zu bewältigen. Aber selbst Apostis tat mir nun ein wenig Leid – ich hasste es, Menschen auf diese Weise gedemütigt und vorgeführt zu sehen und das noch bevor überhaupt ein Urteil gefällt war! Dike hieß die Göttin der Gerechtigkeit – wo war sie? Mir wurde wieder klar: Es war die immerwährende Sehnsucht nach einer ordnenden Hand, die uns Götter schaffen ließ. Und nicht die Götter waren die Schöpfer, sondern die Menschen, und die schufen sogar die Hölle selbst.
>Na, wieder am grübeln?< sprach mich André von der Seite an, bevor er sich anschickte, auf die Sänfte zu steigen, die er sich mit Orestes teilen würde. Der stöhnte schon vorausschauend über die mittägliche Hitze, die noch eine Weile auf sich warten ließ.
>Erwischt – mein Freund. Ich erzähle dir später von meinen Gedanken< verabschiedete ich mich von ihm und wandte mich Lira zu, die offensichtlich auch zu gehen beabsichtigte.
>Mir ist nicht wohl, die Gefangenen zu sehen, und selbst getragen zu werden< vermittelte sie mir ihre Ablehnung gegenüber dem Transportmittel unter diesen Umständen.
Das konnte ich sehr gut nachvollziehen. Von Lareos hatte sie die Erlaubnis erhalten, mit mir zusammen die Prozession zu Fuß zu begleiten. Ich hatte grob die Anzahl der Menschen erfasst, die nun nach Knossos marschierten: Es waren über 50 an der Zahl. Wie schon auf Thera, wurde auch hier ein steinernes Bildnis der Demeter auf ein Brett gehievt und von vier Männern getragen. Die Büste war die, die wir in den Gassen von Thera verloren hatten, als die Erde gebebt hatte. Sie hatte den Absturz offenbar gut überstanden und war also auch nicht abgesoffen auf dem Meer. Apostis hätte besser nicht so aufs Tempo gedrückt, dann wäre die Gute auch nicht gestürzt und Apostis noch frei, dachte ich diesmal etwas sentimental.
Langsam wurde es hell. Eine Göttlichkeit oder die Inkarnation dessen zog wieder den Wagen mit der Sonnenscheibe über das Himmelszelt, Tag für Tag, Jahr für Jahr und immerfort. Es war die gleiche Sonne wie in 3600 Jahren. Nein! Wissenschaftlich betrachtet war das Unfug, denn der Brennvorrat des Zentralgestirns hatte schon wieder ein wenig mehr an Masse verloren. Und das würde immer so weiter gehen, bis die Sonne sich aufblähen würde zu einem roten Riesen, um anschließend in sich zusammenzufallen. Übrig blieb dann nur noch ein Klumpen Dreck, der nirgends im All mehr zu sehen sein würde. Das gesamte Sonnensystem wäre dann vielleicht nicht einmal mehr Geschichte, wenn sie denn niemand schreibt und weitergibt. Das wäre der natürliche Werdegang von Geburt und Tod von Planetensystemen. Sollten allerdings die Multiverser und die Schöpfer dieser Technologie einen Terminus produziert haben, der das kosmologische Gefüge aus dem Gleichgewicht gebracht hat, dann…
>Worüber denkst du nach?< wollte Lira wissen und ich war froh, dass sie mich aufweckte aus meiner Introvertiertheit.
Ich nahm ihre Hand und küsste sie und schaute ihr dabei tief in die kastanienbraunen Augen; die waren so tiefgründig wie die Seele der Anis, die niemand jemals wirklich ergründen würde und ich antwortete:
>Über die Sinnhaftigkeit des Seins<.
>Der Sinn des Lebens< murmelte Lira nachdenklich.
>Ja<. Ein weites Feld wäre das, meinte Lira und ich stimmte ihr zu. Nur, dass das Feld kein von Menschen beackertes Gelände sei, sondern ein Kosmos voller Ungereimtheiten und Zuständen, die wir nicht im Geringsten auch nur annähernd einschätzen konnten, darüber waren wir uns beide einig. Auf dem Planeten Anderran hatte man die alte Religiosität ersetzt, weil sie einst im Bürgerkrieg die gesamte Zivilisation des Planeten beinahe zerstört hätte. Dem Glauben war ein pragmatischer Konsens über Mündigkeit und Freiheit des Denkens gewichen. Im Gegensatz dazu war die Aufklärung, wie sie einst auf der Erde von Philosophen wie Kant und Rousseau postuliert wurde, die den Menschen befähigen sollte, sein Potenzial zu nutzen und zu mehren, um mit der erfolgten Mündigkeit dem Wohlergehen des gesamten Volkes zu dienen, gescheitert. Machtmissbrauch und eine in Unwissenheit gehaltene große Mehrheit der Menschen nährte den Krieg, vermehrte den immensen Reichtum weniger und versklavte die Mehrheit, wenn schon nicht physisch, dann im Geiste, sinnierte ich.
Lira und ich befanden uns hinter einem Tross von Trägern, die mit Feldfrüchten unterwegs waren. Als wir einen Schlenker zur Seite machten, konnten wir sehen, dass an der Spitze unserer Prozession einige Standartenträger marschierten. Das Wappen des Hauses von Lareos, die Lilie, war deutlich zu erkennen.
>Genau das, was ich befürchtet hatte< meinte ich zu Lira.
>Stimmt. Das kann zu Irritationen führen in Knossos< gab Lira zur Antwort.
Sie hatte Recht: Es musste keinen Eklat geben. Vielleicht belebte dieser Auftritt auch nur das Geschäft und in Knossos würde man sich um so mehr anstrengen und vielleicht schon etwas früher damit beginnen, Geld zu drucken und damit den Tauschhandel zu beenden. Das war natürlich nicht ganz ernst gemeint und ich sagte dies Lira auch.
Hinter den Trägern des Wappens folgte dann auch schon ein Pantheon an Göttern, die ich nicht zuordnen konnte. Diverse Düfte stiegen schon jetzt gen Himmel und erfreuten Helios, der den griechischen Sonnenwagen zog. Eine Weihrauchfahne zog vorüber und erinnerte mich an unangenehme Kirchenbesuche. Ich entnahm meiner Umhängetasche den Wasserschlauch und trank einen Schluck, um den üblen Geruch und den Geschmack, den er erzeugte, herunterzuspülen, was natürlich nicht gelang. Ich verließ mit Lira diesen Bereich der Prozession. So weit von Knossos noch entfernt war der Tross noch flexibel und wir übten ja noch die Formation. Erst in der Stadt musste alles nach der Pfeife von Lareos tanzen. Wir besuchten Orestes und André, die vergnügt auf der Sänfte miteinander parlierten. Kurz vor dem Ende der Gesellschaft folgte der Wagen mit Apostis und seiner Tochter. Ich beschloss, den beiden etwas zu trinken zu geben. Lira kam mit mir.
>Oh Gott, was ist das denn für ein Krach?< entfuhr es mir.
Eine Schar halbnackter Möchtegern Musiker schlug blecherne Schüsseln aneinander. Die Instrumente sollten wohl Zimbeln sein, aber die Töne, die sie erzeugten, gingen durch Mark und Bein. Es war fürchterlich und nicht zum Aushalten dieser Lärm, der auch noch völlig unrhythmisch war. Inzwischen bekam ich das Gefühl, hier völlig fehl am Platz zu sein. Lira zog mich fort von diesem Ort. Hinten angelangt war es ruhiger und wir erreichten die beiden Gefangenen, denen wir den Wasserschlauch durch die Gitterstäbe reichten. Inzwischen war es warm geworden und die beiden hatten Durst und tranken gierig. Zwei Wächter, die mit Kurzschwertern und Lanzen bewaffnet waren, liefen dem Wagen hinterher und missbilligten zwar, was wir taten, schritten aber nicht ein.
>Danke Euch< die blonde Anis hatte sich zum Trinken hingesetzt und stieß mit ihrem Kopf an die Decke des Wagens.
Sie war natürlich viel zu groß gewachsen für ein solches Vehikel und überragte ihren Adoptivvater um einige Zentimeter. Als die zwei am frühen Morgen in der Kammer des Lareos standen, der Vater sie umarmte, hatte das noch sehr skurril ausgesehen. Eigentlich hätte die große Anis den mit dem Boden verwurzelten Apostis locker in die Ecke stellen können.
Wir waren immer noch in der Hafenstadt, ließen aber so langsam die letzten Häuser hinter uns. Auch der Fluss Karteros war nun nicht mehr zu sehen, wir bewegten uns immer mehr in Richtung Süd-West auf Knossos zu. Dann erreichten wir die Ebene von Amnissos. Der Boden war karg und von Geröll übersät. Dennoch waren in der Ferne Olivenhaine zu erkennen. Mit ihren erfolgreichen Züchtungen legten die Minoer den Grundstein für das Olivenöl als sehr bedeutendes Handelsgut. So richtig zum Exportschlager wurde es, als später die Festlandgriechen die Macht übernahmen und Alexander dem Reich seinen Stempel aufdrückte.
Aus einem großen Gehöft, welches nahe bei der Straße nach Knossos lag, folgte uns schließlich eine Gruppe Menschen mit weiteren Musikinstrumenten: Einige waren Leiern, andere Trommeln und schließlich Flöten und Hörner. Wenn die alle zum Einsatz kamen, dann würde Zeus uns den Garaus machen, dachte ich.
>Hier< ich war gerade dabei, erneut den Wasserschlauch durch die Gitterstäbe zu reichen, als das Teil mit einer Lanze durchbohrt wurde. Einer der zwei Wächter, die hinter uns hergingen, konnte nicht anders, als seine Macht zu demonstrieren:
>Genug – Die Gesprächszeit ist zu Ende!<.
Der Wachsoldat meinte es ernst und die Lanze war doch kein reines Dekorationsobjekt, wie ich zuerst vermutet hatte. Die für meinen Geschmack lächerlich aussehende Schweizer Garde unserer Zeit wurde auch gemeinhin unterschätzt. In Wahrheit waren sie gedrillte und hervorragend ausgebildete Spezialkräfte, die unter ihren irreführenden Monturen stets griffbereit modernste Waffen bei sich trugen und bereit waren, sie auch einzusetzen.
Aus dem durchstochenen Schlauch tropften die kläglichen Überreste an Wasser in trostlosen Rinnsalen an meinem Handgelenk hinunter und vermischten sich mit dem Blut, welches aus der Verletzung meiner Hand tropfte.
>Du blutest ja!< meinte Lira erschreckt und machte sich sofort daran, mit einem Tuch die Wunde zu verbinden.
Es war meine linke Hand, die ich zum Verbinden hochhielt:
>Ist nicht weiter schlimm – ist zum Glück nur die Linke< meinte ich völlig emotionslos.
Die Hand war schon seit vielen Jahren stark beeinträchtigt in ihrer Funktionsweise. Bei einem Unfall im Drogenrausch war es zu einer Verklebung der Sehnen gekommen, die sich anschließend stark verkürzt hatten. Ich konnte seit dem die Finger nicht mehr spreizen und auch keine flache Hand mehr bilden, sodass man von einer Deformation sprechen musste. Gitarre spielen konnte ich fortan vergessen, aber für das Öffnen von Bierflaschen taugte sie damals noch, und das war mir wichtiger, als alles andere. Aber das war lange her!
Lira gab sich alle Mühe und Anis hatte sich ebenfalls erschreckt und bedauerte zutiefst diesen Zwischenfall. Sie wollte noch etwas sagen und hatte gerade ihren Kopf ganz nahe bei den Gitterstäben, als Lareos, hoch zu Ross, herantrabte. Das war das erste Mal, dass wir beobachten konnten, dass die Minoer offensichtlich auch Pferde hielten und auch reiten konnten. Die Hyksos hatten die Vierbeiner mit den dazugehörigen Streitwagen in den Nahen Osten mitgebracht und versetzten später Ramses den Großen in die Lage, mit seiner gut ausgerüsteten Armee, den Hethitern bei Kadesch Paroli zu bieten.
>Was ist denn hier los?< wollte Lareos von seinem Soldaten wissen. Der erklärte, was vorgefallen war und war der Meinung, nur einen Befehl befolgt zu haben.
>Mit viel mehr Augenmaß, Soldat! Und nehmt Haltung an!< Lareos stieg vom Pferd, um nach meiner Hand zusehen. Dann trat er wortlos zurück, ging auf den getadelten Soldaten zu und schnitt ihm mit einem Messer nicht die Gurgel durch, aber den Riemen, an dem sein Wasserschlauch hing. Anschließend übergab er mir das Getränkeutensil und entschuldigte sich für den Zwischenfall. Dann stieg er wieder auf sein Pferd und ritt den Tross ab, um weitere Instruktionen zu erteilen, was die Formation anbelangte. Damit war die Sache gegessen, aber für Lira nicht, die richtiggehend wütend wurde:
>Was sind das nur für Barbaren, diese Minoer!<
>Nicht alle, Lira, bestimmt nicht alle. Schau dir Anis an! Sie ist im Grunde auch Minoer – willst du sie verurteilen?< fragte ich sie.
>Nein, natürlich nicht!< gab sie zur Antwort.

Es wurde Mittag, als wir die Silhouette von Knossos erblickten. Bisher hatten wir fast nur Ödland durchschritten – so schien es jedenfalls. Und dennoch gab es immer wieder äußerst widerstandsfähige Pflanzen, die auch einer großen Trockenheit standhalten konnten, wie beispielsweise besagte Olivenbäume. Die Musiker, die zuletzt zu unserer Truppe dazugestoßen waren, hatten auch Amphoren mit Olivenöl dabei gehabt. Ein Teil davon würde als Opfergabe in bronzene Schalen gegossen werden und eingerahmt von allerlei buntem Pflanzenschmuck und fein bearbeiteten Statuetten vor dem Palast von Knossos als „Altar von Amnissos“ und Geschenk der Stadt an König und Götter seinen Platz finden. Über den genauen Verlauf und die verschiedenen Stationen der Prozession sowie des dreitägigen Festes, der Thesmophorien, war ich mir nicht im klaren. Dies konnte unter den gegebenen Umständen auch nicht der Fall sein. Wir waren schließlich nicht zum Feiern nach Kreta gekommen!
Nun begab sich etwas, was unserer Reise eine nicht unerhebliche Wendung verlieh, jedenfalls beeinflusste sie den weiteren Verlauf der Dinge. Mittlerweile hatten Lareos und seine Helfer aus dem zu Beginn noch ungeordneten Haufen eine recht ansehnliche Truppe geschmiedet und selbst einige musikalische Einlagen klangen für meinen Geschmack gar nicht so übel. Die Flötenspieler mochte ich am meisten. Es war ein ungeheuer sanfter, beinahe meditativer Sound, der mein Inneres berührte. Äußerlich sah ich mittlerweile allerdings recht ramponiert aus: Eine Bandage an der linken Hand, um den Hals gewickelt ein Tuch, welches die Schrammen verdeckte, die mir der verfluchte keltische Halsring beigebracht hatte und zu allem Überfluss hatte ich mir bei einem Sturz auch noch das rechte Knie verletzt – die karierte Hose hatte nun ein hässliches Loch.
>Tja, hättest du die Sänfte genommen< meinte André und zeigte auf mein Knie >wäre das nicht passiert<. Ich nahm das mal so hin und ließ es völlig unkommentiert stehen. Was dann allerdings folgte, war schon mehr als erstaunlich und eher verwirrend, vielleicht auch bedrohlich. André weiter:
>Wir beide haben mehrfach den Namen Minos gehört im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten – ist der Knabe nicht schon lange tot?<
Ich klärte André erneut auf, dass es sich bei König Minos um eine Sagengestalt handelte.
>Für uns hat sich das so angehört, als wäre Minos der derzeitige König von Knossos< führte André fort.
>Natürlich ist das unser König – das weiß doch jeder!< mischte sich nun einer der vier Sänftenträger ein, die wir bis dahin törichterweise ignoriert hatten bei unserem Gespräch.
Es wäre doch unerheblich, wie der König von Knossos heiße, konnte ich in Andrés Gesicht ablesen. Glücklicherweise sprach er den Satz nicht aus, denn dies wäre ein Affront erster Güte gewesen gegen den Staat und seine Repräsentanz, eine Majestätsbeleidigung! Gab es einen König mit dem Namen Minos tatsächlich, würde die Geschichte der Minoer umgeschrieben werden müssen, denn dann gab es auch eine Königsfolge, ähnlich der in Ägypten. Dies allerdings würde die Frage provozieren: Wo sind all die Herrscher geblieben, warum gibt es von niemandem einen Nachweis von dessen Existenz? Oder es war alles ganz anders und es gab sich jemand fälschlicherweise für diese Person aus. Ich tendierte zu zweiter Ansicht und mir schwante übles.



Aurora, die Göttin der Morgenröte, streckte ihre Fühler aus über der Stadt der Glückseligen und Wohlhabenden. Im Palast von Knossos herrschte hektische Betriebsamkeit. In Amnissos hingegen hatten gerade Lareos und seine Männer damit begonnen, den Prozessionszug zu organisieren, während in den Hallen der Palastanlage von Knossos Priesterinnen damit beschäftigt waren, ihre Instruktionen an die vielen Helfer weiterzuleiten, die für das bunte und vielgestaltige Ambiente zu sorgen hatten, um die Stadt würde- und prachtvoll erscheinen zu lassen.
Die Thesmophorien waren nicht irgendein religiöses Ereignis. Die Feierlichkeiten sollten verhindern, dass es zu Missernten kam und damit zu Hunger und in der Folge zu politischen Verwerfungen. Die Feiern waren also immer eine Art Vorsorgemaßnahme, um Katastrophen fernzuhalten. Sich dabei der Gunst der Göttinnen und Götter zu vergewissern, war der beste Weg, um weiterhin den Menschen ein wohlgefälliges Leben zu garantieren und den Status Quo beizubehalten. Damit war allen gedient: Der König konnte weiter König bleiben und die Priesterkaste behielt ihre staatstragende Rolle als Mittler zwischen den Welten.
Dass die Göttin Aurora an diesem Morgen nicht die Kraft besaß, wie sonst, und sich alsbald dunkle Schatten vor die Himmelsscheibe drängten, war den Stadtbewohnern nicht entgangen, beflügelte aber ihren Eifer noch. Auf einigen Dächern der Stadt wurden große keramische Schalen an den Rand in Stellung gebracht; in ihnen fanden Unmengen von Blüten Platz: Rote, Gelbe, Blaue Farbtupfer, die später wie Konfetti über die Menschenmenge regnen würde. Blasebälge lagen neben den Schalen und warteten darauf, betätigt zu werden. An allen wichtigen Straßenkreuzungen wurden Standarten, an denen bunte Tücher hingen, aufgepflanzt. Kleine und größere Plätze erhielten überbordenden Blumenschmuck, der in farbenfrohen Schalen und riesigen Vasen die Blüten in die Höhe strecken ließ. Schon jetzt postierten sich Ordnungskräfte an neuralgischen Punkten in der Stadt. Ausschreitungen und Tumulte hatte man zwar schon sehr lange nicht mehr erlebt, aber man konnte nicht vorsichtig genug sein.

Die Priesterinnen Leda, Farah und Sima hatten ihre schmuckvollen Kleider angezogen. Die Frauen befanden sich in einem der Speicher der Palastanlage von Knossos und waren gerade dabei, aus Bottichen einige Scheffel der verschiedensten Feldfrüchte als Opfergaben an die Demeter zu entnehmen. Hierfür hielten sie passende kleinere Amphoren und Teller bereit, die wiederum Helfer an die verschiedenen Stellen der Opferung bringen würden.
>Jedes Jahr das Gleiche!< Sima war übelgelaunt und machte daraus keinen Hehl vor ihren Kolleginnen.
>Nicht schon wieder, Sima!< entgegnete Farah, die es satt hatte, immer wieder über die Organisationsform und deren Bedeutung für die Thesmophorien zu streiten. In Wahrheit ging es Sima um etwas Grundsätzliches.
Ihrer Meinung nach waren die Erntedankfeiern völlig aus dem Ruder gelaufen; die reine spirituelle Lehre geriet unter die Räder des vermeintlichen Fortschritts.
Der Dienst an Demeter und ihre Mitgöttinnen sollte ein Dienst in kleinem Rahmen sein, wie er einst praktiziert wurde. Stattdessen erfreuten sich andere Götter an dieser beispiellosen Verschwendungsorgie und sorgten so für Zwietracht im Pantheon, so jedenfalls die Meinung von Sima, deren göttliche Favouritin ohnehin Artemis war, für die sie eine extra Portion Einkorn abzweigte und gedachte, nachher ihr Heiligtum zu besuchen.
>Die spinnt!< meinte Farah zu Leda, die völlig entrüstet antwortete:
>Lass sie gefälligst in Ruhe! Die hat wesentlich mehr hier oben drin, als du!< Leda deutete auf ihren Kopf und machte unmissverständlich klar, wem ihre Sympathien galten. Farah murmelte noch irgend etwas vor sich hin, entschloss sich aber, weiter ihre Arbeiten zu verrichten.
>Wenn wir zurückkehren zu unseren alten Ritualen, dann hat der König die ganze Macht, willst du das?< und begab sich auf einen gefährlichen, politischen Diskurs mit Sima, die darauf antwortete:
>Der König ist nicht schwach aufgrund unserer Rituale, sondern ganz einfach, weil er nicht das Format besitzt, wie seine Vorgänger<.
Jetzt geht das wieder los, dachte Farah und beschloss, den Speicher zu verlassen, um mit einigen der Helfer vor der Palastanlage weitere Vorbereitungen zu erledigen: Die Fuhrwerke und die Esel mussten noch herangeschafft werden; sie verließ wortlos ihre Kolleginnen.
>Jetzt will ich dir mal etwas sagen...<



Als wir die Stadt erreichten, war es längst Mittag und es herrschte ausgelassene Feierlaune. Wir wurden mit Trompeten begrüßt – da hatten unserer Flötenspieler keine Chance mehr und stellten ihren Dienst an Pan ein.
>Schau mal!< André deutete auf ein Gebäude zur Rechten von ihrer Sänfte >Sieht aus wie eine Carport Anlage<. Orestes verstand nicht, was André meinte.
Tatsächlich befand sich an besagter Stelle ein überdachtes Bauwerk, welches voneinander durch Säulen abgetrennte Bereiche besaß, in denen durchaus überdimensionierte allradbetriebene PKW ihre Stellplätze hätten finden können. Auch mir war diese Anlage aufgefallen, aber ich konnte auch sehen, dass eine Parzelle besetzt war mit einem Fuhrwerk, und in einer weiteren „Einfahrt“ befanden sich Esel, und wiederum nebenan ein Bereich mit Futtermitteln und Handwerksmaterialien. Vermutlich war dies eine der Raststationen, die von Reisenden benutzt wurden, die dem königlichen Palast einen Besuch abstatteten. Zu meiner Vermutung passte, dass sich der Anlage das eigentliche weiträumige Hauptgebäude anschloss, welches einem Bungalow ähnelte, selbstverständlich mit Flachdach, aber auch einem Obergeschoss, in dem ausreichend große Fenster für den nötigen Lichteinfall sorgten. Hier konnten durchaus Pilger und Händler einen komfortablen Unterschlupf finden.
Je näher wir dem Palast von Knossos kamen, um so repräsentativer und größer wurden die Gebäude; manche besaßen drei Stockwerke. In andere Gebäude konnte man hineinsehen und kostbare Wandgemälde bestaunen; ähnlich wie in Akrothiri stellten die Bewohner gerne ihren Reichtum zur Schau. Auf den Straßen wurde es zunehmend belebter. So manch einer der Bewohner von Knossos schloss sich unserer Karawane an. Wir bogen inzwischen auf die Königstraße ein; diese führte direkt auf den Theaterbereich des nordwestlichen Teils der Palastanlage zu. Hier wollten wir uns unauffällig von dem Prozessionszug trennen, der einen Schwenk machen würde nach Süden, um zum sogenannten Westhof zu gelangen. Dort würde der Zug Station machen und ein Opfer für die Götter darbringen. Unser Plan war, die allgemein hohe Betriebsamkeit und die große Menge von Menschen zu nutzen, um uns bis zur nördlichen Säulenhalle durchzuschlagen. Orestes hatte diskret einen Plan aus seinem Umhang hervorgezaubert und zeigte ihn André:
>Ja, sieht sehr gut aus – mit meiner Lesebrille noch besser, aber die setze ich jetzt nicht auf, wäre zu auffällig< Orestes verstand und erklärte André die Einzelheiten des Plans.
Mir war der Plan von Knossos schon länger bekannt, der aber im Grunde doch sehr vage war, denn schließlich handelte es sich um eine Rekonstruktion des Palastes – das durfte man bei einer Beurteilung der Präzision und Detailgenauigkeit nicht außer acht lassen. In erster Linie mussten wir uns auf den Instinkt verlassen, den gesunden Menschenverstand und unserem Orientierungssinn.
>Ach, alles halb so wild – wir haben doch Trumpy< entgegnete André, als dieser dabei war, zusammen mit Orestes von der Sänfte zu steigen.
Den Saurier hatte ich wiedermal vergessen; ich hatte wohl angenommen, der wäre im Mittelmeer ertrunken, gemeinsam mit der Falbkatze des Apostis. Niemandem, außer den Sänftenträgern, schien aufgefallen zu sein, dass wir uns der Gastfreundschaft des Lareos entledigt hatten und uns daran begaben, die Mission, derer wir durch die Zeit gereist waren, zu beenden.




Im Hause des Apostis auf der Insel Thera fiel der Putz von den Wänden. Eine heftige Erschütterung des Bodens hatte einen Querbalken oberhalb einer Tür zum Bersten gebracht und drohte herabzustürzen. Die afrikanische Platte schob sich unaufhaltsam gegen die europäische und hob sie dabei an. Davon wusste die Dienerschaft nichts; sie erfüllte lediglich ihren Auftrag, nach der Abreise ihres Herrn das Haus zu hüten. Inzwischen hatten sie das Inventar im großen Saal mit weißen Tüchern abgedeckt. Ein Großteil des Mobiliars hatte man schon vor Monaten in Sicherheit gebracht, deshalb wirkte hier auch alles sehr spartanisch und man hatte sich damit begnügt, nur die notwendigsten Möbelstücke und Gegenstände im Hause zu belassen. Apostis besaß auf der Insel Kreta ein zweites Anwesen, auf welches schon ein Teil seines Hausstandes verbracht worden war. Erneut bebte die Erde.
Der Vulkan hatte schon vor einiger Zeit damit begonnen, kleine Brocken Bimsstein auszustoßen. Eine immer dunkler werdende Fahne entstieg dem Schlot und erreichte schon bald die Stratosphäre.
>Eile, Eile!< trieb der Janitor die Diener an. Diverses Kartenmaterial und Siegelsteine aus grünem Jaspis wurden in Kisten verladen. Auf das Gemälde, welches den heroischen Triumphzug des Flottenkapitäns Apostis darstellen sollte, fiel ein düsterer Schatten, der unaufhaltsam durch das Südfenster ins Zimmer drang.
Während vielfach sich die Häuser Akrothiris leerten, wurden im Hafen die Schiffe beladen. Einige hatten bereits abgelegt und waren auf dem Weg nach Zypern, Melos und Kreta oder segelten und ruderten nach Mykene, der kommenden Herrschermacht über das minoische Handelsimperium. Apostis Haus lag nun verlassen dar und die Insel begann sich zu leeren. Überladene Fischerboote kenterten schon in der seichten Bucht von Akrothiri. Einige vom Wohlstand Abgehängte blieben zurück in ihren Häusern, die verstreut auf der Insel lagen und harrten der Dinge, die passieren würden.



>Halt – dies ist die Halle der Dike. Ihr habt hier keinen Zutritt!< rief eine der Priesterinnen.
>Die bereiten bestimmt den Prozess vor< meinte André.
Wir liefen unbeeindruckt weiter durch die Säulenhalle vorbei an einer Statue, die eine Waage in der Hand hielt. Ich musste wieder an Anis denken und hoffte, dass das Urteil gegen sie und ihren Vater gnädig ausfallen würde. Aber wie mein Freund schon meinte: Alle, denen wir hier begegnet waren, waren längst tot! Ein schier unfassbarer Widerstreit im Logikzentrum des Gehirns machte sich bei mir breit; wir mussten weiter und erreichten alsbald den Ausgang der Säulenhalle. Dort schloss sich ein Korridor an, von dem sich rechts wie links verschlossene Räume befanden. André ließ Trumpy an dem Kommunikator schnuppern. Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass dies kein Saurier war, sondern eine von uns neu entdeckte Art, vielleicht ein Vorfahr vom Hund oder irgendeines australischen Beuteltieres. Überhaupt hatte das Tier sich immer wieder verhalten wie ein Beutler, indem es äußerst vorteilhaft sich in den Habseligkeiten von André eingekuschelt hatte und dort so lange verborgen blieb, bis es gebraucht wurde.
>In der Tat! Das Tier ist ein Phänomen< meinte ich zu meinem Freund.
Trumpy lief zielstrebig durch den Korridor und schon befanden wir uns im Zentralhof des Palastes, wo wir ganz bestimmt Aufmerksamkeit erregt hätten mit unserem Saurier, wenn nicht die Erde angefangen hätte zu beben.



Auf einem Dach nahe des Platzes bei der Königsstraße war man gerade im Begriff, die Blasebälge zu betätigen, um die Menschenmassen mit einem Konfetti aus tausendfachem Blütenzauber zu beglücken, als auch hier die Erde bebte. Von den Kapitellen der Säulen unter ihnen löste sich die Dekoration und begann zu Boden zu fallen. Bisher waren es nur kleinere Schäden, die sich bildeten und eine allgemeine Massenpanik war ausgeblieben. Die Prozession des Lareos aus Amnissos und auch die aus Phaistos und Mallia waren allerdings zum Stillstand gekommen. Jeder dieser drei großen Züge stieß sternförmig auf den Palast zu, erreichte allerdings den exakten Bestimmungsort nicht mehr. Inzwischen hatte das Gemisch aus Rauch, Ruß und giftigen Gasen die Sonne nahezu verdunkelt. Zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass Hades die Oberhand gewonnen hatte und seine Tribute einforderte. Die Unterwelt war schon seit langem leergefegt und an der Oberfläche tummelte sich das Volk und wurde immer zahlreicher. Der Fährmann am Styx schien arbeitslos geworden zu sein.
Die Esel, die den Gefängniswagen gezogen hatten, waren davongelaufen, dabei stürzte der Wagen um. Die hintere Tür hatte sich geöffnet und Anis und ihr Vater konnten unbeobachtet entfliehen. Wohin – das weiß man nicht.
Ein feiner, dunkler Staub begann sich herniederzulegen über alles, was sich in Knossos und auf Kreta befand. Auf der Insel Thera explodierte in einer infernalischen Explosion der Vulkan. Anschließend brachen die Magmakammern ein und die Reste des Vulkans stürzten in sich zusammen. Hierbei wurden sämtliche Hafenanlagen in die Tiefe der See gerissen und ein Teil von Akrothiri ebenso. Die Verschiebung der Erdplatten und das Beben mit anschließendem Zusammenbruch des Vulkans, löste einen Tsunami aus, den das Mittelmeer bis dahin noch nicht erlebt hatte.



Trotz einer großen Ansammlung von Menschen im Zentralhof war es augenblicklich totenstill geworden, aber nicht wegen uns. Es war die berühmt-berüchtigte Ruhe vor dem Sturm. Auf dem Platz lagen bereits die Trümmer einiger Ziegel und Statuen verteilt und kündigten an, was alle wussten: Der Versuch, die Götter zu besänftigen und mit den Menschen zu versöhnen, war gescheitert! Tartaros, die personifizierte Unterwelt, die noch unter dem Hades lag, hatte das Zepter in die Hand genommen.
>Fass, Trumpy, fass!< André ließ erneut den Saurier am Kommunikator schnuppern.
Wir wussten aber auch so, dass der Thronsaal sich hinter einer der Türen rechts befinden musste. Wir konnten nur hoffen, dass das Artefakt auch tatsächlich dort war. Gondvira schien sich auf Anderran sicher zu sein, nach dem sie das Signal des Multiversers mit den vorliegenden Plänen der Palastanlage verglichen hatte.
Die erste Tür war zu, die zweite musste es sein. Sie war immerhin mit Bronzeplaketten beschlagen und schien aus edlem Holz zu sein. Doch sie war auch verschlossen. Nun bebte wieder die Erde und das Volk im Hof begann hysterisch durcheinander zu rennen.
>Ich hab die Schnauze voll!< entglitt es mir und musste an die Zeit im Jura denken.
Lira drückte gegen die Tür, Orestes auch, und André hatte etwas gefunden, was als Hebel dienen konnte. Vom Dach fielen Ziegelstücke und vom Himmel begann es Bims zu regnen. Während Lira und Orestes sich gegen die Tür stemmten, hebelten André und ich verzweifelt zwischen Tür und Zarge hin und her. Das Beben hatte den Türsturz völlig deformiert, sodass die Tür schließlich komplett aus dem Rahmen fiel.
>Schoonas!< rief Lira entsetzt.
Der Mann, der in der Mitte des Raumes stand, hielt einen Multiverser in der einen und einen Stock in der anderen Hand. Das war also besagter Schoonas, den Zolan hatte töten wollen und der selbst den eigenen Intrigen zum Opfer gefallen war.
Lira schien den Mann gut zu kennen; das war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, aber es war auch egal. Wir mussten zu ihm hin. Lira stürzte auf Schoonas zu, der hatte aber schon den Code eingegeben, um seine Flucht durchzuführen. Das Portal hatte sich geöffnet, ich stolperte über einen Stein, der sich aus dem Mauerwerk gelöst hatte. Trumpy sprang direkt hinter Schoonas durch den Ring des Portals und es schien, als habe das Tier den Anderraner noch an seiner Kutte zu packen gekriegt. Auch das war egal: Wir mussten unbedingt hier fort. Doch wo war der zweite Multiverser, das eigentliche Artefakt? Hatte Schoonas das Teil bei sich? Ich wusste es nicht. Die Decke des Thronsaals begann schon einzustürzen und ein Teil der Konstruktion traf mich an der Schulter und hätte mich beinahe zu Boden gerissen. Mein Freund half mir auf die Beine, nachdem ich gestrauchelt war. Lira stützte mich und die beiden schleppten mich durch das Portal. Wir hätten gar nicht hier sein dürfen, war mein letzter Gedanke, als ich durch den Zeitstrudel zurückblickte!






















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