Verbrämter Stolz
von Rutz Rische

Kapitel
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Ferien

Die Frau, die leblos auf dem Küchenfussboden liegt, ist ihre Mutter. Der Vater wie vom Erdboden verschluckt.
Sie, ja, nur sie selbst ist Schuld an seinem gewaltsamen Ausbruch.
Der Weidezaun ist gestrichen bis heut nachmittag, sonst würde er nicht mit seiner Familie in den Urlaub fahren.
Die Mutter hatte sie flehend angesehen.
Von Verwantwortung geredet, die ein Kind nicht früh genug übernehmen sollte.
Und ausserdem liebte sie ja die Tiere, oder etwa nicht?
Und sie hatte den verdammten Zaun gestrichen, obwohl alle anderen Kinder im Freibad waren. Und dass, obwohl sie alles andere als scharf war auf einen dreiwöchigen Urlaub mit den Eltern.
Aber vor den allabendlichen Krawallen hat sie ebensoviel Angst wie vor den vermeintlich schönsten Wochen des Jahres.
Ja, sie hat die verdammten Zäune gestrichen. Und der Vater hatte ihren Arbeitseifer sogar gelobt.
Doch wie immer hielt seine gute Laune nur bis zum vierten Bier. Dann nämlich entdeckte er die unverzeihliche Sünde, die sie begangen hatte.
Xyladecor heißt das Teufelszeug, mit dem Jahr für Jahr der Zaun gestrichen und so vor Holzwurm und Fäulnis geschützt werden muss. Eine Substanz, die bei ihr, wie auch bei den Tieren, für Hautverätzungen sorgt, was den Vater in keiner Hinsicht stört.
Nein, Xyladecor hat sie nicht genommen, und darin liegt das Verbrechen. Motoröl. Motoröl, das in einem ebenso braunen Kanister abgefüllt ist wie das Xyladecor.
Und schon trifft die väterliche Faust wutbrüllend ihr Gesicht, mit einer Wucht, die ihren Kopf gegen die Wand schlagen lässt.
Der Löffel hämmert gegen ihre Zähne und die Erbsensuppe fliesst ihr in den Schoss.
Da kreischt auch schon die Mutter, aber nicht, um ihre Tochter vor den Klauen des Unmenschen zu retten. Sondern um ihrerseits das Verbrechen: Motoröl -mit Wehgeschrei anzuklagen.
Das Oberhaupt verkündet seinen Richterspruch: kein Sommerurlaub in diesem Jahr, und sie, ja sie allein ist Schuld. Während der Vater noch einmal in blinder Wut um sich schlägt, um sich kurz darauf in die Dorfkneipe zu verkrümeln, schluchzt die Mutter ihr bekanntes: "Lieber Gott! Was hab ich nur verbrochen?" und sinkt leblos nieder.
In der Nacht darf sie im Bett der Mutter schlafen. Die wird immer anhänglich und gesprächig, wenn die eheliche Zuneigung bröckelt.
Doch sobald sich das zerstörerische Paar wieder zusammengerottet hat, ist sie, das schuldige Kind, wieder vogelfrei. Und tatsächlich lauert sein Schatten schon wieder auf der Terasse, die angstvollen Gespräche seiner Familie mit stiller Lust belauschend, die sich vorwiegend um ihn drehen.

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