Kampf der Titanen
von Carsten Maday

Kapitel
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Zuerst kamen die Bienen. Sie schossen über die Gräben der Ameisen auf die gegnerische Frontlinie zu und beschäftigten die nanitischen Abfangjäger. Dann kamen die schweren Bomber. Als die Hummeln die Gräben der eigenen Truppen überflogen, kletterten die Ameisen über die Brüstung und stürmten übers Niemandsland auf den Feind zu, gerade in dem Moment, als die Hummeln ihre Bombenlast über den Feindgräben abwarfen.
Unteroffizier Viersiebenneundreiacht packte seine Feindwaffe fester und rannte mit seinen freien Beinen, was das Zeug hielt. Die Waffe von Typ Mark IV Laser-Wumme war die Standartwaffe der Naniten. Die Insekten verwendeten häufig Beutewaffen, da ihre eigenen Entwicklungen bislang kaum über das Stadium von Prototypen hinaus gekommen waren.
>Voran<, feuerte 47938 seine Leute an. Zehntausende Insekten stürmten voran. Abwehrfeuer kam auf. Projektil- und Laserfeuer zerriss die Luft. Die Bomben hatten nicht alle Gegner vernichtet. Wann hatten sie das je, fragte sich 47938.
47938 war ein Veteran der ersten Stunde. Ursprünglich war er ein Arbeiter gewesen, aber durch Mut und Geschick hatte er sich zum Unteroffizier hochgedient. Er hatte viel gesehen und erlebt. Manchmal wachte er Nachts schreiend auf und bemerkte erst nach einigen Augenblicken, dass er noch lebte. Das ist wirklich verwunderlich, dachte 47938. Die vorlaufenden Nummern seiner Kameraden waren mittlerweile sechsstellig.
Die feindlichen Gräben kamen näher. Es heulte. 47938 warf sich hin. Es schlug ein. Splitter und Erde flogen herum. 47938 krallte sich fester in die Erde. Liegen bleiben, ermahnte er sich. Bleib einfach liegen. Aber seine Beine rannten bereits wieder. Laserfeuer kann auf. Ein Kamerad wurde getroffen. Sein Kopf wurde abgeschnitten. Sein Rumpf rannte entschlossen weiter auf den Feind zu. Seine Waffe schoss. Schnellfeuer. Dann Einzelfeuer, dann nichts mehr. Der Rumpf machte ein paar Schritte, dann fiel er um.
Wir stürmen auch nach dem Tod voran, dachte 47938 erschrocken und berauscht. Wer soll den Feind besiegen, wenn nicht wir?
Neben ihm erhielt ein Mistkäfer einen Volltreffer. Der schwere Panzer wirbelte in die Luft und begrub krachend die Ameisen unter sich, die in seinem Schutz langsam an den Feind herangerückt waren. Dann war 47938 am Graben und sprang hinein. Er sah einen Naniten und feuerte.
Der Kampf mit den Naniten hatte seine Schwierigkeiten. Naniten waren sehr klein und schlossen sich daher nach Bedarf zu größeren Einheiten zusammen, die wie ein Körper agierten. Für gewöhnlich waren diese Einheiten nicht größer als Insekten. Aufklärungsbereichte ließen vermuten, dass die Naniten aus strukturellen Gründen keine Einheiten aufstellen konnten, die über die Größe einer einfachen Spitzmaus hinausgingen. In Bezug auf die Menschheit konnte man sagen, dass es nicht auf die Größe sondern auf die Technik ankam. Winzige Infiltrationsteams konnten unbemerkt in den Menschen eindringen und ihm tödliche innere Schäden zufügen. Zehntausende von Naniten konnten die Atemweg eines Menschen blockieren oder ihn schlicht Stück für Stück demontieren. Das selbe galt für alle größeren Tiere. Bei Insekten sahen sich die Naniten mit dem Problem konfrontiert, dass der Feind auch einzelne Naniten mit dem bloßen Auge erkennen konnte. Infiltration fiel daher aus. Es blieb das massenhafte Umschließen und der Kampf Einheit gegen Insekt.
Naniten warfen sich auf die ersten Ameisen, die den Graben erreicht hatten. 47938 feuerte, lud eine neue Energiezelle nach, feuerte. Neben ihm wurde ein Kamerad von einem glühenden Laser getroffen. Er krümmte sich zuckend zusammen, schrie. 47938 ließ ihn zurück, als er vorstürmte.
Die Naniten flohen. Ein Verhalten, das sie neu erlernt hatten. Früher kämpften sie ohne zurückzuweichen, wie aussichtslos die Lage auch sein mochte. Dann passten sie sich an, lernten, dass Rückzug und koordinierter Gegenangriff wirkungsvoller waren als sinnloser Widerstand. Die Verluste der Insekten stiegen an.
47938 und eine handvoll Ameisensoldaten verfolgten zurückströmende Naniten durch das Grabenlabyrinth. Der Graben machte einen Knick. Eine Säuregranate flog, detonierte. Ameisen stürmten vor, erledigten die beschädigten Naniten und standen vor einem dunklen Stolleneingang. Der Stollen endete nach wenigen Schritten hinter einem riesigen Stahlschott, das sich dröhnend schloss, als die Ameisen in den Stollen eintraten.
47938 kratzte sich verwundert an seinen Kiefern. Das Schott entsprach nicht den üblichen Verteidigungsanlagen der Naniten.
>Schnapszahl<, sagte 47938 mit einem unguten Gefühl im Verdauungstrakt.
>Jawohl, Herr Unteroffizier<, antwortete ein junger Krieger. Sein Name war Sechsmillionensechshundert-sechsundsechzigtausendsechshundert-sechsundsechzig. Seine Kameraden nannten in Sechssechser oder einfach Schnapszahl. Er war sehr beliebt, denn Schnapszahlen galten als Glückbringer bei ihren Einheiten und wurden je höher geschätzt, je seltener sie wurden.
>Stell Verbindung mit dem Hauptquartier her<, befahl der Unteroffizier. >Ich glaube, wir sind hier auf etwas gestoßen.<

Eine halbe Stunde später beäugte 47938 misstrauisch, wie ein halbes Dutzend Pioniere das Stahlschott für eine Sprengung vorbereitete. 47938s mieses Gefühl im Magen hatte sich noch verstärkt, als, kaum nachdem er das Hauptquartier benachrichtigt hatte, zwei rote Waldameisen-Offiziere mit einem Pioniertrupp angerückt kamen.
47938 verabscheute rote Waldameisen. Sie waren doppelt so groß wie gewöhnliche Wegeameisen und stellten den Großteil des Ameisenoffizierskorps. Und in der Zeit vor dem Kodex, das wusste 47938 noch, hätten rote Waldameisen keine Wegeameisen von ihrer Speisekarte gestrichen.
>Elitäre Arschlöcher<, murmelte der Unteroffizier.
>Immer noch besser als Spinnen<, meinte Schnapszahl, der neben dem Unteroffizier stand und ebenfalls das Treiben beobachtete.
>Das dauert mir alles zu lange<, murmelte 47938. Der Gegenangriff war längst überfällig. Nur eine Frage der Zeit, bis-
Sirenen heulten auf, zerrissen die Gedanken des Unteroffiziers. Seine Antennen stellten sich panisch auf, sein ganzer Körper erstarrte. Die Sirene heulten noch einmal auf und erstarben dann, wichen einem anderen Lärm, einem dumpfen Brummen, das rasch näher kam, und den einfachen Armierungssoldaten wie den stärksten Waldameisenoffizier zu Todes erschreckte.
>INSEKTIZID!<, brüllte 47938. Soldaten rissen panisch ihre Schutzmasken hervor. Helfen würden sie wenig. Das wusste 47938. Der Feind verwendete längst Kontaktgift. Und Schutzanzüge hatten bislang nur Eliteeinheiten.
Granatfeuer kam auf. Der Gegenangriff begann. Die nanitischen Bomber kamen heran.
Die Offiziere brüllten die Soldaten an, den Stollen für die Sprengung zu räumen. Für den Augenblick siegte die Angst vor den riesigen Offizieren. Die Männer wichen zurück. Die Pionier brachten die letzten Ladungen an. Dann fielen die Bomben. Heulend fielen sie, brachten lärmend Tod, der zerbarst und lautlos in die Gräben drang und sich als öliger Nebel auf seine Opfer warf und sie verätzte. Brüllen in den Gräben, Röcheln, Granaten, Feuer. Dann kam der Nebel auch zu 47938.
>Sprengen!<, brüllte der Offizier. Männer liefen verrückt vor Angst in den Stollen. Fort, nur fort vor dem Gas. Die Pioniere mussten sprengen. Der Lärm der Detonation, giftige Sprengstoffdämpfe schossen aus dem Stollen. Die Männer rannten dennoch hinein, blind im Qualm traten sie über Kameraden, tote wie lebende. Fort, nur fort.

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