Kampf der Titanen
von Carsten Maday

Kapitel
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Soldat Sechsmillionensechshundertsechs-undsiebzigtausendneunhundertzwo verspürte keinen Hungern mehr. Als er allein im matten Licht seiner fast leeren Taschenlampe durch den dunklen Gang schlich verspürte er nur noch Angst.
Vor einem Tag hatten sich die überlebenden Ameisen in zwei Trupps geteilt. Das sollte ihre Chance erhöhen, einen Ausgang zu finden und gleichzeit den Feind verwirren.
Am Anfang sah alles recht gut aus. 6676902s Trupp durchquerte riesige Kammern ohne auf Hinweise von Feindaktivität zu stoßen. Langsam machte sich wieder Hoffnung breit. Sie hatten alle Hunger, aber Soldaten waren daran gewöhnt zu hungern. Dann verließen sie die Kammern und drangen in ein schmales Tunnelsystem ein. Langsam schlichen sie in der Dunkelheit voran. Dann ein Schrei von hinten. Schmerzerfüllt und rettungslos. Feuern, grelle Lichtblitze in der Dunkelheit. Alles schrie, brüllte, schoss ohne ein Ziel zu sehen, brach schließlich in Panik nach allen Seiten aus, verlief sich in den unzähligen Seitenstollen, bis man allein war und von den anderen nichts mehr sah, nur hörte, wenn ihre Todesschreie durch die Dunkelheit gellten.
6676902 wirbelte herum. Der schwache Lichtkegel suchte zitternd in den Schatten. Nichts. Niemand hinter ihm. Er versuchte sich zu beruhigen. Jetzt nur nicht durchdrehen, 6676902. Reiß dich zusammen. Wenn du die Nerven verlierst, bist du tot.
Er drehte sich um und zwang seine Beine langsam einen Schritt nach dem anderen voranzuschleichen. Der Tunnel machte eine leichte Biegung. Dann hörte 6676902 ein Geräusch, ein metallisches Scharren. 6676902 erstarrte, blickte auf seine verräterische Lampe. Der Feind musste seinen Lichtschein gesehen haben. Ausschalten half also nichts mehr.
6676902 legte seine brennende Lampe auf den Boden, zog sich leise einige Schritte in die Dunkelheit zurück und legte sich auf die Lauer, bereits den ersten Naniten zu erledigen, der in den Lichtschein trat.
>Mit mir nicht, ihr Schweine<, dachte 6676902. Er überprüfte seine Waffe und war bereit zu kämpfen, bereit zu sterben. Nur die Angst sollte endlich fort.
Dann hörte er wieder das Scharren. Es kam näher. 6676902 legte an. Eine Gestalt schob ich langsam in den Lichtschein. Sie hatte Greifzangen und Antennen. Erleichtert stieß 6676902 den Atem aus.
>Fünfzwosiebendreiachtzwoeins, bist du das<, flüsterte der Soldat hoffnungsvoll in die Dunkelheit. Dann fiel im auf, dass die Gestalt viel größer war als eine schwarze Wegeameise. Sie war so groß wie eine rote Waldameise.
>Herr Hauptmann<, fragte 6676902 völlig verblüfft. Dann blitzten rot leuchtende Augen im Kopf der Waldameise auf. 6676902s Schüsse prallten wirkungslos an der Armierung der Gestalt ab, als sie sich auf ihn stürzte und mit stählernen Fangzangen seinen Kopf abtrennte.

>FEUERSCHUTZ<, brüllte 47938. Er sprang auf und rannte. Die Naniten schossen, aber das Deckungsfeuer hielt sie nieder. 47938 warf eine Handgranate hinter die Deckung der Naniten. Sie detonierte krachend. Die Ameisen stürmten vor und erledigten die überlebenden Naniten an der Barrikade. Sie hatten es geschafft. Nachdem sich die Ameisen in zwei Trupps geteilt hatten, hatte der Weg 47938 und seine Männer immer tiefer in den Komplex geführt. Die Angriff der Naniten hatten erst zu genommen, so als wollten sie ihr Vordringen mit aller Gewalt stoppen. Dann ließen die Angriffe nach, bis die Ameisen endlich in den zentralen Bereich des Komplexes vorstießen. Nun hatten sie die letzte Verteidigungslinie des Feindes durchbrochen. Der Gegner verfügte augenscheinlich über keine weiteren Truppen vor Ort.
Die Ameisen befanden sich in einer gewaltigen, von riesigen Lampen erhellten Halle, die erfüllt war von dem Rauschen gigantischer Computersysteme.
Die Ameisen waren nur noch zu viert. Außer dem Unteroffizier hatten es noch Schnapszahl und zwei junge Pioniersoldaten geschafft.
>Na gut<, sagte 47938, >dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben. Zange<, so wurde Pioniersoldat Sechsmillionenachthundertdreiundneuzig-tausendsiebenhunderzwoundzwanzig auch genannt, >du versucht dich in den Computer zu hacken. Finde den Ausgang. Wir anderen erkunden die Gegend.<

47938 und Zange liefen über einen schmalen, langen Steg, der über einen schwarzen Abgrund führte.
>Also, was ist es nun, was du mir unbedingt zeigen musst<, fragte 47938 mit vollem Mund. Er kaute genüsslich an einem Stück Zucker. Sie hatten Waffen und Munition gefunden. Und in einer Kammer lagerten unglaubliche Mengen an Vorkriegsnahrungsmitteln der Menschen. Die Ameisen hatten gierig ihren Hunger daran gestillt. Zange hatte sich in den Computer gehackt und Informationen über geheime Projekte der Naniten gefunden. Eines beschäftigte sich mit der Entwicklung gepanzerter Infiltrationseinheiten. Zange hatte noch etwas anders gefunden, das ihn gleichzeitig erschreckte und faszinierte.
>Wart es ab, Unteroffizier<, rief Zange. >Du glaubst es ohnehin nicht, wenn du´s nicht mit eigenen Augen siehst.<
Dann waren sie über den Steg, der in einen Gang mündete, der nach einigen hundert Schritt unterhalb der Decke einer gewaltigen Halle endete. Die Halle war erleuchtet. Riesige zylindrische Gebilde standen aufrecht aneinander gereiht auf dem Boden. Es mussten Tausende sein. Zange zog seinen tragbaren Terminal hervor und hackte sich erneut ins nanitische System.
>Pass auf<, sagte Zange. Er drückte eine Taste und nach wenigen Augenblicked öffnete sich in der Kammer fauchend einer Zylinder. Weißer Nebel drang draus hervor. Es dauerte einige Zeit, bis der Unteroffizier etwas erkennen konnte. Dann sah er, wie sie eine gewaltige Gestalt aus dem Nebel schob.
>Verfluchter Dreck, das ist ein Mensch<, keuchte 47938. Ungläubig sah er auf den Menschen, der wie ein nackter Titan aus der Urzeit regungslos vor dem Zylinder stand.
>Und ein lebender obendrein<, erwiderte Zange. >Die Naniten haben mit ihren experimentiert. Ich glaube, sie wollen sie als Waffen einsetzen. Hier siehst du?< Zange zeigte auf ein Menü auf dem Terminal.
>Ist noch alles experimentell, aber hier sind schon einige Programme aufgelistet. Wir sollten eines ausprobieren, ich meine, damit wir das Bedrohungspotential richtig einschätzen können.<
>In Ordnung, Zange. Wie wäre es hiermit. Klingt bedrohlich.<
>In Ordnung. Aktiviere Programm IRISH RIVER DANCE.< Zange drückte die Taste. Die Ameisensoldaten verfolgten sprachlos das Schauspiel, das sich ihnen nun bot.
>Meine Güte<, entfuhr es schließlich 47938. >Dieses Stampfen ist ja grauenhaft. Nicht auszudenken, dieser Menschen würde eine ganze angreifende Armee zu Tode trampeln. Fahr ihn wieder runter. Ich kann es nicht länger ertragen.<
Zange beendete das Programm. Der Mensch legte sich wieder in den Zylinder, der sich kurz darauf schloss.
>Hier sind noch andere Programme, z.B. Flammenwerfereinsatz. Schwer vorstellbar, dass das noch gefährlicher sein könnte. Verfluchte Schleiße, 47938, hier unten lagern Tausende von diesen Menschen. Was machen wie nur?<
>Es gibt nur eines<, sagte 47938 entschlossen. >Wenn wir diesen Krieg gewinnen und die Welt retten wollen, müssen wir diese Massenvernichtungswaffen in die Luft jagen.<

>Schnapszahl, hier 47938.<
>Kann dich hören, Unteroffizier<, antwortete der junge Ameisensoldat in das kleine Sprechgerät, das die Pioniere eilends aus den Kommunikationseinheiten der Naniten zusammengeschustert hatten.<
>Wir bereiten hier alles für die Sprengung der Generatorentanks vor. Wir sind bald fertig. Halte solange deine Position in der Computerkammer.<
>Verstanden, Unteroffizier.<
Es behagte Schnapszahl nicht besonders, alleine Wache zu schieben, während die übrigen drei den großen Knall vorbereiteten. Andererseits, was sollte schon geschehen. Von den Naniten war weit und breit keine Spur. Und mit etwas Glück konnten sie sich mit dem zweiten Trupp wiedervereinigen und entkommen. Sie verfügten nun über einen Lageplan und wichtigste Geheimunterlagen. Wenn sie es schafften, waren sie verdammte Helden.
>Langsam glaube ich selbst dran, dass ich Glück bringe<, dachte Schnapszahl.
Dann traf ihn der Laserstrahl mitten durch die Brust. Als er sich in Todesquallen auf dem Boden zusammenkrümmte, meinte er noch einen Schatten zu sehen, der an ihm vorbeiglitt, einen Schatten wie von einer riesigen Ameise.

Zange stand bereits auf dem Steg. Als der Unteroffizier und der andere Pionier im Gang erschienen, winkte er ihnen fröhlich mit dem Auslöser, einer modifizierten Naniten-Com-Einheit, zu. Wie jeder gute Pionier, war Zange außer sich vor Freunde, bei dem Gedanken an die bevorstehende Explosion. Die beiden anderen waren nur noch einige Schritte entfernt.
>Die letzte Ladung ist angebracht<, sagte 47938 freudig. Dann erstarrte der Unteroffizier und seine Zangen klafften erschrocken auf. Gleichzeitig vernahm Zange ein metallisches Klirren hinter sich. Er wirbelte herum und sah, wie eine riesige Waldameise, die völlig aus Metall zu bestehen schien, von der Unterseite des Steges nach oben kletterte. Unfähig vor Entsetzen auch nur einen Schritt zu machen, bliebt Zange versteinert stehen. Er sah noch das Laserfeuer, das von hinter ihm kam und wirkungslos an der Armierung der Waldameise abprallte.
>Die gepanzerte Infiltrationseinheit<, schoss es Zange durch den Kopf. Er sah es klar vor sich. Das war kein Zusammenschluss einzelner Naniten, die eine Struktur nachahmten, nein es war eine komplexe Maschine, ein nur von einem Naniten gesteuert wurde. Erhöhte Reaktionszeit, kombiniert mit überlegener Panzerung und Bewaffnung.
>Sie ist perfekt<, staunte Zange. Dann biss die Infiltrationseinheit Zanges Kopf ab. Sein Körper fiel zuckend in die Tiefe, den Auslöser noch immer in den Händen.
Der Unteroffizier und der Pionier rannten zurück in den Gang. Die Infiltrationseinheit zog ihre Waffe und schoss. Ein Schmerzensschrei erklang.
In dem Gang lag der Pionier, sein Verdauungstrakt daneben auf dem Boden.
>Du kannst manuell zünden<, stammelte er schmerzerfüllt zu 47938. >Die Hauptladung am Generator...<
>Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen, Soldat<, sagte 47938 zu dem Sterbenden.
>Ich bin Sechsmillionendreihun- Ach was soll´s. Kein Zeit. Ich halte sie auf. Lauf!<
Der Unteroffizier rannte durch den Gang. Er hörte Feuer hinter sich, dann einen Todesschrei. 47938 rannte die Wand hinab. Als er sich nahe genug wähnte, sprang er. Er kam hart auf, sprang auf die Beine und rannte zur Generatorenkammer. Der Weg war endlos. Er drehte sich nicht um, wagte es nicht. Dann hörte er einen dumpfen Aufschlag und er drehte sich doch um. In einer Staubwohle an der Wand sah er metallisch Blitzen. Des Monstrum musste an der Wand abgerutscht sein. Nicht jeder konnte glatte Wände herunterlaufen, dachte 47938 triumphierend. Hoffentlich war das Ding kaputt.
47938 rannte und rannte. Endlich war der Generator in Sicht. Er war heran, kletterte über öliges Metall nach oben. Die Ladung war ganz nahe. Hinter dem nächsten Überhang musste sie sein. Seine Vorderbeine packten den Rand des Überhanges, seine anderen Beine verloren auf dem öligen Untergrund den Halt und 47938 baumelte frei in der Luft, als mit einem Mal ein heftiger Ruck durch seinen Körper ging, der ihm beinahe seine Vorderbeine aus Körper riss. 47938 schrie schmerzerfüllt auf. An seinem Hinterleib hing die Infiltrationseinheit. Ihre Krallen bohrten fest in ihn.
47938 verlor den Halt. Der Nanit zog ihn unweigerlich durch sein Gewicht nach unten. Selbst wenn er den Sturz überleben sollte, so würde es der Nanit auch tun und 47938 anschließend mit Leichtigkeit töten.
47938 fühlte sich betrogen. Logisch betracht war es ihm klar, dass er ohnehin sterben würden, wenn er die Detonation selbst auslöste. Während der wilden Flucht war dieser Gedanke allerdings nicht bis in sein Bewusstsein gedrungen. Nun war er da und der Unteroffizier fühlte sich betrogen, betrogen von den nachfolgenden Generationen, die leben durften und er nicht. Und 47938 lebte gerne, mochte die Welt auch schrecklich sein.
Hinter ihm fauchte die Infiltrationseinheit. Sie ruckelte und versuchte ihn in die Tiefe zu ziehen. Mit der Kaltblütigkeit eines, der vieles gesehen hatte, zog 47938 mit der freien Kralle seines zweiten Beinpaares sein Kampfmesser. Schmerz brandete durch seinen Körper als der Ameisensoldat in das schmale Stielchenglied stach, das seinen Hinterleib von dem Brustbereich und dem ersten Abdominalsegment trennte. Der Nanit schrie wütend auf, als 47938 das Messer herauszog. Der Hinterleib riss ab und die Infiltrationseinheit fiel kreischend mit dem Hinterleib in den Klauen in die Tiefe.
Es war eine Todeswunde. Das Leben quoll aus ihm heraus, als 47938 sich mit schwindenden Kräften über den Überhang zog. Da war die Ladung. Noch zwei Schritte. 47938 schleppte sich sterbend weiter. Unter ihm Geräusche. Die Infiltrationseinheit machte sich bereits wieder auf den Weg hinauf.
47938 war da. Er hätte gerne selbst den Frieden gesehen. Seine Kraft reichte gerade noch, um den Schalter an der Sprengladung zu drücken. Die Welt verging in einem Ball aus Feuer.

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