Kampf der Titanen
von Carsten Maday

Kapitel
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Nach zwei Tagen waren von den über hundert Überlebenden, die sich vor dem Gas in den Stollen hatten retten können, nur noch ein Dutzend übrig. Die anderen waren in dem gewaltigen Labyrinth aus unterirdischen Kammern und Gängen in endlosen Gefechten mit den Naniten gefallen. Unter den Überlebenden herrschte Hoffnungslosigkeit und nackte Angst.
>Bericht<, befahl der rote Waldameisenoffizier im Range eines Hauptmannes. Der andere Offizier war am Tage zuvor gefallen.
>Der Proviant an Honigtau ist seit gestern erschöpft<, berichtete 47938. Der Offizier hatte ihn zu einem vertraulichen Gespräch in einen Seitengang gebeten. Der Rest der Männer ruhte sich außerhalb der Hörweite aus.
>Da wir mit Feindwaffen operieren, besteht kein Mangel an Munition. Der Proviant an Medikamenten und Nahrung ist verbraucht. Die Männer sind erschöpft. Ich weiß nicht, wie viele Angriffe der Naniten wir noch abwehren können. Die Männer haben Hunger.<
>Das habe ich auch<, sagte der Offizier scharf.
Das stimmte, dachte 47938. Der Offizier war sehr viel größer als seine Untergebenen und hatte wie ein Besessener gekämpft. Er musste am Verhungern sein.
>Wie beurteilen sie unsere Lage, Unteroffizier?<
>Nach den Ausmaßen dieses unterirdischen Komplexes zu beurteilen, handelt es sie wohl um einen menschlichen Vorkriegsbau, der von den Naniten genutzt wird. Die Feindkräfte vor Ort scheinen begrenzt zu sein, da man uns nur in kleinen Stoßtrupps auflauert. Ich vermute, dass der oberirdische Angriff den Feind davon abhält, Entsatz heranzuführen. So lange dies nicht geschieht, besteht eine kleine Chance, dass wir uns zu einem weiteren Ausgang nach oben und zu unseren Truppen durchschlagen können.<
Der Offizier nickte bestätigend.
>Ich stimme ihrer Einschätzung der Lage zu, Unteroffizier. Allerdings gelangen sie zu einem falschen Schluss. Wir werden nicht versuchen, zu entkommen. Zumindest nicht als Primärziel. Wir werden tiefer in den Komplex vorstoßen und weitere Informationen sammeln. Aufklärungsberichte lassen vermuten, dass sich in diesem Komplex ein geheimes Waffenforschungszentrum befindet. Deshalb wurde unser Angriff auf diese Position überhaupt erst befohlen.<
>Davon habe ich nichts gewusst, Herr Hauptmann.<
>Wie sollten sie auch. Sie sind nur einfacher Soldat. Jedenfalls haben die Berichte und die Lage vor Ort mich davon überzeugt, dass etwas wichtiges, vielleicht sogar kriegsentscheidendes hier vor sich geht. Denken sie nur an das Schott, das Labyrinth und die Angriffe der Naniten, so bald wir versuchen, tiefer vorzustoßen.<
47938 nickte. Er wusste, der Offizier hatte recht. Er wusste auch, dass sie beim Versuch weiter in das Innere des Komplexes vorzudringen, sterben würden. Seine Männer würden immer schwächer und eine leichte Beute für den Feind werden.
>Ohne ausreichende Nahrungsmittelversorgung wäre ein weiteres Vordringen glatter Selbstmord. Und bei allem gebührendem Respekt, Herr Hauptmann haben selbst gesagt, dass sie hungern. Wir müssen an den Kodex denken.<
>Ah, der Kodex<, sagte der Offizier seufzend. >Was besagt der Kodex noch gleich<, fragte der Hauptmann mit einer fahrigen Bewegung, als sei ihm das fundamentale Gesetzt des Widerstandes für einen flüchtigen aus dem Gedächtnis geflohen.
>Der Kodex regelt das Zusammenleben von Insekten und Spinnentieren untereinander. Sein wichtigstes Gebot lautet: Ihr soll einander nicht fressen.<
Der Kodex wurde einst von der Schildkröte und den ersten Verständigen verfasst. Ihnen war klar, dass man nur wirksam zusammen kämpfen konnte, wenn man keine Angst davor haben musste, dass der eigene Kamerad einen verspeiste. Ein Großteil der Truppennahrung bestand aus Honigtau, gewonnen aus riesigen Blattlausherden. Wer sich nur von Fleisch ernähren konnte, fraß die Gefallenen, nachts und diskret.
Mochte sich hier und da ein Ameisensoldat auch fragen, ob er nur deshalb zum Sturmangriff auf eine befestigte Stellung aufsprang, um den Herren Spinnenoffizieren im Hauptquartier zum Abendessen serviert zu werden, gelang es doch durch den Kodex eine Allianz zu formen, in der Beute und Jäger Seite an Seite standen.
Da mit dem Kodex alles stand und fiel, wurde seine Einhaltung streng überwacht. Von Offizieren wurde sogar erwartet, dass sie sich eher selbst erschossen, als in einer ausweglosen Situation ihren Instinkten nach zu geben.
Der Hauptmann nickte gönnerisch.
>Sie haben den Kodex zutreffend zitiert, Unteroffizier. Glauben sie nicht, das der Kodex ein Produkt von sehr weisen Männern und Frauen ist?<
>Das glaube ich, Herr Hauptmann<, erwiderte 47938 voller Überzeugung.
>Und glauben sie nicht auch, dass die Schöpfer des Kodex in ihrer Weisheit nicht erkannt hätten, es das es zu, wenn auch unwahrscheinlichen aber entscheidenden Situationen kommen kann, in denen die Einhaltung des Kodex, größere Schäden verursacht als dessen Bruch?<
>Ich verstehe nicht recht, Herr Hauptmann<, sagte 47938, in dessen Verdauungstrakt sich wieder ein ungutes Gefühl breit machte.
>Sind sie mit Geheimprotokoll 23a vertraut, Unteroffizier?<
>Nein, Herr Hauptmann, aber...<
>Natürlich sind sie das nicht. Sie sind ja nur Unteroffizier. Das Geheimprotokoll 23a regelt Ausnahmesituationen des Kodex. Es besagt, dass, wenn die Einhaltung des Kodex das Gemeinwesen gefährdet, es in der Macht des kommandieren Offiziers liegt, den Kodex vorübergehend auszusetzen.<
>Auszusetzen<, wiederholte 47938 verwirrt dieses Wort, das er noch nie im Zusammenhang mit dem Kodex gehört hatte.
>Ja, aussetzen<, fuhr der Hauptmann fort. >Erkennen sie denn nicht unsere wahre Mission, Unteroffizier? Wir kämpfen nicht für unser eigenes Überleben, wir kämpfen für den Sieg. Unser eigenes Schicksal spielt keine Rolle. Wichtig sind die Generationen, die nach uns kommen. Für deren Fortbestand kämpfen wir. Wir sind nur Teile des großen Ganzen. Habe ich nicht recht, Unteroffizier?<
>Jawohl, Herr Hauptmann<, antwortete 47938 instinktiv. In seinem inneren aber war der Unteroffizier verwirrt, denn er hatte sich schon irgendwie selbst gesehen, wie er am Ende des Krieges sein Leben in Frieden lebte, und nicht zukünftige Generationen.
>Glauben sie nicht auch, dass die Informationen, die wir in dem Waffenlabor sammeln werden, den Kriegsverlauf zu unseren Gunsten verändern könnten. Wenn unsere Männer dafür sterben müssen, ist ihr Tod dann nicht gerechtfertigt, wenn wir vielleicht die Leben Millionen anderer retten?<
47938 nickte langsam. Die Zahlen klangen überzeugend. Aber etwas in ihm widerstrebte dieser Logik. Bei all seinen Einsätzen hatte 47938 nie das Gefühl gehabt, das sein Tod befohlen wurde. Gut, er wurde oft mit an Irrsinn grenzender Wahrscheinlichkeit von den Strategen im Hauptquartier in Kauf genommen, aber nie gewollt. Und bei einem Selbstmordkommando, bei dem man mit 99,99%iger Wahrscheinlichkeit draufging, hatte man immer noch eine 0,01 und die Tatsache, dass man in einem Millionenheer kämpfte, an die man sich Klammer konnte.
>Sehr gut, Unteroffizier<, sagte der Hauptmann. >Machen sie die Männer zum Aufbruch bereit!<
>Jawohl, Herr Hauptmann.<
>Und schicken sie Soldat 666666 zu mir!<
>Herr Hauptmann?<, fragte 47938.
>Als kommandierender Offizier vor Ort bin ich zu dem Schluss gelangt, dass unsere derzeitige Lage das Inkrafttreten vom Geheimprotokoll 23a rechtfertig. Uns jetzt führen sie meine Befehle aus, Unteroffizier.
>Aber Herr Hauptmann...<
>SOFORT, Unteroffizier!<, befahl der Hauptmann scharf.
>Jawohl, Herr Hauptmann.< 47938 nahm instinktiv Haltung an, drehte sich auf den Absätzen um und machte einen Schritt, ehe er innehielt und sich wieder zum Hauptmann drehte.
Der Hauptmann sah ihn überrascht und wütend an. Aber in seinen Augen lag noch etwas anderes. Hunger. Ehe der Hauptmann etwas sagen konnte, hob 47938 seine Waffe und schoss.
Wer so oft wie 47938 dem Tod ins Auge geblickt hatte, entwickelte eine gewisse Kaltblütigkeit. Der Unteroffizier trat zu dem toten Hauptmann, zog dessen Dienstwaffe und legte sie ihm in die Klaue.
>Geheimprotokoll 28a<, sagte 47938 in die toten Augen des Hauptmannes. >War vermutlich ohnehin nur erfunden.<
Dann kamen die Männer herbeigerannt.
>Der Hauptmann hat sich gemäß des Kodex verhalten und sich selbst gerichtet<, fasste 47938 die Situation zusammen, nachdem sich die Aufregung bei den Männern gelegt hatte.
>Nehmt eure Sachen auf, Leute. Wir machen uns auf den Weg nach draußen.<
Die Männer blieben beim Leichnam des Hauptmanns stehen. 47938 sah ihren Hunger.
>Sollten wir nicht...<, begann einer.
>Denkt an das zweite Gebot des Kodex: tote Offiziere werden nicht gefressen.<
Dann machten sie sich auf den Weg.

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