Eine amerikanische Erzählung
von Florian Huber (huber_florian)

Kapitel
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Schauspiel des Lebens

"Suchen jungen Arbeiter mit Grips. Bezahlung nach Absprache. Sie finden unser Büro 64 West, 12. Straße." Aufmerksam studierte Bowlen den Anzeigenteil des New Yorker. Es gab nicht genug Jobs für junge Leute in diesen Tagen. Außer man ginge zur Army. Die Armee war der letzte Rettungsanker für manche Jungs, Traumjob oder die Hölle, es kam nur auf die Betrachtungsweise an. Es war ungewöhnlich kalt an diesem Morgen im Mai, Bowlen trug einen langen Mantel und feste, schwarze Lederschuhe, als er aus dem Zeitungsladen heraus die Straße betrat. John Bowlen hatte seine ganze Kindheit in New York verbracht, ausgenommen die Ferienmonate, die oft genug die vierköpfige Familie aus dem Dschungel der Großstadt heraus und auf das Land brachte. Montana war das Ziel und Großvater, der dort lebte und dessen Alter wohl nur Bowlens Vater genau wusste.

Montana war ein Traum. Lange, ausgedehnte Felder, Hügel, Berge und saftiges Grasland. Brady Bowlen, Johns Bruder, liebte es mit Großvater Fischen zu gehen, und John ließ es sich nicht nehmen, die zwei zu begleiten und ihnen Tipps und Ratschläge zu geben, gleichwohl er am wenigsten Ahnung hatte. Auch wenn die Beute nie riesig ausfiel, außer 1932, als Großvater eine 70 cm Forelle fing, wurde oft Abends gegrillt und alle saßen zusammen am Feuer. An Geschichten fehlte es nicht, und neben John und seinem Bruder konnten auch ihre Eltern den Erzählungen Großvaters lauschen, die des öfteren durch Vaters Einwände noch ergänzt wurden. Um Indianer ging es da, um wilde Bären und um die Zeit, als noch viele Sklaven ins Land geholt wurden und auf großen Baumwollfeldern arbeiten mussten.

Die Kinder hatten viel Spaß in ihren Schulferien und Zeit und Gelegenheit durchzuatmen. Brady war ein hervorragender Schüler, er schrieb fast nur Einsen. Manchmal schien es fast, er würde sich selbst benoten und natürlich die beste Note geben. John stand dem etwas nach. Er war begabt, ja, aber es fehlte ihm manchmal am nötigen Fleiß. Auch interessierte er sich nicht so für die ganzen Daten in den Geschichtsbüchern und wie groß Mitteleuropa sei, und welches die Hauptstadt Portugals. Er liebte den Kunstunterricht und dachte sogar daran, später Schauspieler zu werden. In New York war dafür selten Zeit, aber wenn die Familie auf dem Land war, sahen sie sich manche Vorstellung fahrender Schauspielgruppen an und John klatschte begeistert Beifall. Es waren weniger die Stücke, die ihn interessierten, die Handlung war ihm nebensächlich und zu verworren. Er konnte sich für die Darstellung, die Kleider, die Bühnenbilder und die hübschen Mädchen begeistern.

Einmal traute er sich ein Mädchen anzusprechen. Es war irgendein Stück von William Shakespeare aufgeführt worden und John traf zufällig beim Umherstreifen eine noch sehr junge Schauspielerin, ungefähr in seinem Alter. "Hallo." sagte er schüchtern. "Hi!" erwiderte sie. "Hast du das Stück gesehen?" "Ähm, ja war echt toll." "Danke, wie heißt du?" "Ich bin John." "Ich heiße Marissa." "Machst du das schon lange?" fragte er, vielleicht war es eine etwas dumme Frage, sie war ja ca. erst 10. "Eigentlich solange ich denken kann. Ich bin mit meinen Eltern immer unterwegs. Mein Dad hat die Hauptrolle gespielt!" "Ja, der war echt toll." "Und woher kommst du?" "Ich wohne in New York. Das ist ganz weit im Osten drüben." "Cool, da würde ich auch gern mal hin." "Ach, man kanns aushalten." "Machs gut, wir müssen los." rief Marissa und gab ihm flüchtig die Hand. John Bowlen drehte sich und sah ihr lange nach.

Als er das riesige Gebäude betrat, fielen John die vielen Leute, Angestellte, Handwerker und Reinigungspersonal auf. Jeder ging behäbig seiner Arbeit nach, keiner schien zu viel oder zu wenig Zeit zu haben, keiner wirkte richtig glücklich oder unglücklich. Im zweiten Stock des Gebäudes sollte er sich bei einem Herrn Miller melden, wie er am Eingang erfahren hatte. "Nun, sie wollen also unser neuer Mann sein?", fragte dieser John Bowlen und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. "Ich denke ja.", erwiderte Bowlen. Mister Miller, ein Herr mittleren Alters mit wenig Haarwuchs, erläuterte John Bowlen alles, was er wissen musste, Größe der Firma, Gehalt, zukünftige Aufgaben, usw. John Bowlen konnte sofort anfangen. Er musste einige administrative Aufgaben erledigen, und was halt sonst noch alles anfiel. Geschafft verließ Bowlen das große Gebäude um sechs Uhr abends und versuchte eins der Taxis zu erwischen, deren Lichter sich in den Pfützen der Straße widerspiegelten.

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