Eine amerikanische Erzählung
von Florian Huber (huber_florian)

Kapitel
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Ein Abend mit Miles

Es war 1952, und Miles Davis war bereits jetzt eine Legende. Die Jazzclubs in denen er regelmäßig auftrat, waren jedesmal voll bis auf den letzten Platz und manche tanzten zu seinen sagenhaften Performances. Ein Zahnarzt hatte ihm das Spiel ohne Vibrato beigebracht, er musste wohl die Anatomie des Mundes zu gut gekannt haben. An diesem Abend fand sich auch John Bowlen in dem Nachtclub im Stadtviertel Queens ein. Er schätzte gut gespielte Livemusik und gemütliche Nachtclubs. Das Poodle war beides. Gute Konzerte und ein stilvolles Ambiente, das einem Platz zur Entspannung bot. Bowlen hatte es sich auf einem roten Samtsofa bequem gemacht und genoss seinen Martini. Okay, manch unliebsame Bekanntschaft hatte er hier schon gemacht, aber es waren auch positive darunter.

John Bowlen hatte selbst einmal versucht Saxofon zu lernen, es war katastrophal. Er konnte die Töne nicht richtig treffen und die Noten blieben ihm ein Rätsel. Sein Lehrer gab es irgendwann mit ihm auf, Bowlen war auch froh darüber. Aber er kaufte sich Jazz-Alben aller Größen, Charlie Parker, Thelonious Monk, usw. Man konnte in New York gut Platten erwerben, außerdem gab es viele angesagte Liveclubs. So wurde die Musik ein ständiger Begleiter, der ihm seine freie Zeit angenehm machte. Oft traf er sich mit Freunden in den verschiedensten New Yorker Clubs, an denen es keinen Mangel gab. Es groovte einem schon auf der Straße entgegen und somit war ein "Aufreißer" überflüssig. John und seine Freunde jedoch wussten genau in welche Clubs sie wollten, nur hin und wieder ließen sie sich überraschen.

Sie saßen also im Poodle und warteten auf Miles Einsatz. Dann fing er zu spielen an, er spielte "Embraceable You" von George Gershwin. Für John Bowlen war es ein unvergesslicher Moment. Er konnte die Musik in sich aufnehmen, sie geradezu einatmen, als wäre sie angenehme, frische Luft. Nie hat jemand davor oder danach die Trompete so, auf diese ganz spezielle Art und Weise gespielt. Gegen Ende des Stücks spielte das Saxofon zusammen mit der Trompete, während das Klavier weiterhin brav die Bassbegleitung übernahm. John war absolut relaxed. Das musste es sein, die totale Entspannung. Es wurde wenig gesprochen in diesen Jazzclubs, die Musik war die Hauptsache. John war meist mit zwei Freunden unterwegs: Marissa und Danny, der eigentlich Daniel hieß, aber die Wenigsten nannten ihn so.

John verabschiedete sich und machte sich auf den Nachhauseweg. Langsam ging er voran, er war leicht angetrunken und musste sich etwas konzentrieren. Er ging lange dahin, allein auf dem Bürgersteig und über ihm schien der Mond, der fast vollständig zu sehen und nur leicht von ein paar Wolken verhangen war. John dachte nach und reflektierte sein bisheriges Leben. Er versuchte Gutes zu finden, er versuchte Schlechtes weniger wichtig erscheinen zu lassen. In diesem Moment konnte er sein ganzes bisheriges Leben Revue passieren lassen, seine Gedanken waren klar und ungetrübt und er versuchte herauszufinden, ob es sich bisher gelohnt habe oder nicht. Lange dachte er nach, wälzte Gedanke um Gedanke, spielte Situation um Situation nochmal durch, versuchte sich an lange Vergangenes zu erinnern und es abzuwägen.

Als er in die Straße, in der sein kleines Apartment lag, einbog, war er sich noch nicht sicher, wie sein kleines Gedankenspiel ausgegangen war. Überwogen die guten Seiten? Vielleicht die schlechten? Hatte er genug gekämpft, genug probiert? Hatte er sich immer „richtig“ seinen Mitmenschen gegenüber verhalten? Als er schließlich auf seiner alten Matratze lag, war er sich immer noch nicht ganz sicher. Von der Straße herauf konnte man Schritte Angetrunkener hören, die vorüber gingen und sprachen. Ein altes Fahrzeug rauschte vorbei. Langsam wurden seine Gedanken ruhiger und er war sich ziemlich sicher, dass er fast immer versucht hatte, sein Bestes zu geben und ein guter Mensch zu sein. Das Leben in all seinen Facetten schien sich allerdings seltenst bestimmen zu lassen. Er löschte sein Licht und schlief über diesem, letzten Gedanken schließlich ein, während eine Turmuhr in der Nähe halb drei schlug.

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