Guldas Fall
von C.S. Strangelove (csstrangelove)

Kapitel
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2.

Von seinem Platz aus konnte Gulda die Sonne nicht sehen. Aber das helle Viereck aus Sonnenlicht kletterte langsam die Wand hinauf und ließ die glasierten Kacheln in hellem Türkis erglühen. Das Viereck und die Geräusche draußen, die wieder zunahmen, sagten Gulda, dass die Sonne den Zenith überschritten hatte. Die gleißende Mittagshitze war vorüber. Die bunten Finken, die ihre stete Futtersuche zur Mittagszeit unterbrochen hatten, um im Schatten zu dösen, schwirrten wieder umher, tschilpten und zankten sich. Die Zikaden, die in den alten Bäumen des Anwesens saßen und ihr Konzert einstellten, wenn die Hitze am Mittag zu groß wurde, setzten wieder ein. Und noch ein Geräusch war zu hören. Gulda brauchte eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, um was es sich handelte – so fremd war dieses Geräusch. Es war das leise Rascheln der Zweige und Blätter, die ein leiser Windhauch bewegte. Seit vier Wochen hatte tagsüber kein Wind die heiße Luft über der Insel bewegt. Manchmal war nachts eine Brise über die See gekommen, die ein wenig für Abkühlung gesorgt hatte; aber der Wind, auf den alle hofften, blieb aus. Wind hätte kühle, feuchte Meeresluft bedeutet, hätte Wölkchen mitgebracht, die an den Hängen der Berge hochgestiegen wären und sich gesammelt hätten, um schließlich den heiß ersehnten Regen zu bringen. Doch bisher war die Hoffnung vergebens gewesen. Sollte dieser Wind, der jetzt in den Blättern der Olivenbäume und Akazien spielte, anhalten, konnte das durchaus ein Zeichen für das baldige Ende der Trockenperiode sein.
Richard Gulda hustete trocken und versank wieder ins Grübeln.

Das Treffen mit dem Junior in dessen luxuriösem Büro, dessen Interieur der Brücke eines noblen Kreuzfahrtschiffes ähnelte und mit seinen Messinglampen und seinem Duft nach Leder und Zigarren in krassem Gegensatz stand zu dem schlecht gelüfteten Großraumbüro mit den singenden Leuchtstoffröhren, in dem Gulda seinen Dienst versah, war im Grunde der Anfang vom Ende gewesen.
Richard Guldas Herz hatte einen Sprung gemacht, als ihm der Junior leutselig vom Ende des Mannes berichtet, der „das Herz“ von InterSec bislang am Schlagen gehalten hatte und ohne Umschweife Gulda zu dessen Nachfolger bestimmt hatte.
Gulda hatte etwas gestammelt von „große Auszeichnung“, „Vertrauen“ und „würdig erweisen“ und war umgehend in sein neues Büro geführt worden. Als sich die Tür der Kommandobrücke hinter ihm schloss, stand Kronzucker jun. in der Mitte des Zimmers, zwischen Leder und poliertem Mahagoni, und grinste sein Haifischgrinsen.
Vom nächsten Tag an empfing Gulda seine Weisungen direkt vom Junior; und der Junior war der Einzige, der seine Arbeit kontrollierte. Er schien hochzufrieden zu sein. Als Gulda ein Jahr lang auf dem neuen Posten verbracht hatte, stand eines Tages der Junior morgens vor seinem Büro, empfing Gulda mit breitem Grinsen und machte ihm eine elegante Armbanduhr zum Geschenk.

„Kann das alte Ding nicht mehr sehen“, meinte er mit Blick auf Guldas alte Digitaluhr.
„Sie müssen die Firma in gewisser Weise auch nach Feierabend repräsentieren, wissen Sie!“

Damit legte er Gulda die goldene Audemars an, beförderte die Digitaluhr mit elegantem Schwung in den nächsten Papierkorb und winkte noch einmal zum Abschied über die Schulter.

„Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum!“ grinste er.

Richard Gulda kicherte hysterisch, als er in seinem Büro alleine war. Endlich! Jetzt wurde er endlich respektiert. Seine Leistungen wurden gewürdigt! Er war vom Juniorchef persönlich ausgesucht und für würdig befunden worden, diesen Posten zu bekleiden. Und damit nicht genug: seine Arbeit wurde so hoch geschätzt, dass ihm der Junior persönlich gratulierte und ihn mit einem Geschenk der Firma auszeichnete!
Von diesem Tag an hatte Gulda große Stücke auf den Junior gehalten. Er tat seine Arbeit sehr gewissenhaft, und wurde jedes Jahr pünktlich dafür belohnt. Mal mit einer Rundreise durch Ägypten, mal mit einem riesigen Ledersessel, den eine Spedition zu Gulda nach Hause lieferte. Die beiliegende Glückwunschkarte war schwungvoll mit „Kronzucker II“ unterzeichnet.

Ungefähr zu dieser Zeit bemerkte Gulda Unregelmäßigkeiten in den Zahlen. Ein wenig von dem Herzblut, das in den Organismus strömte, kehrte nicht zurück. Neue Posten tauchten auf; und als Gulda sie verfolgte, stellte er fest, dass die Adern der Firma an vielen Stellen winzig kleine Lecks bekommen hatten. Aus diesen Nadelstichen tröpfelte stetig eine kleine Menge Geldes und versiegte irgendwo im alpenländischen Raum in einer kleinen Stadt namens Vaduz.
Gulda bekam vor Aufregung Schluckauf. Sein Tick machte sich wieder bemerkbar: unter Stress begann Guldas Oberlippe nervös zu zucken wie bei einem Kaninchen. Seine Unruhe wurde für jeden offensichtlich; und das steigerte seine Nervosität noch zusätzlich. Er prüfte die Zahlen nach, wieder und wieder – doch das Ergebnis blieb das Gleiche. Nein, er hatte keinen Fehler gemacht. Das konnte nur bedeuten, dass die einzige Person außer ihm, die in diesem Sektor noch so weit reichende Befugnisse hatte, nämlich Kronzucker jun., einen Fehler gemacht hatte. Wie sollt er sich verhalten? Eine ganze Weile tat er überhaupt nichts. Hoffte, das Problem würde sich von selbst regeln. Lächelte und schwitzte vor Aufregung und Anspannung, wenn der Junior mit seinem Haifischgrinsen auf ihn zutrat und von nichts zu wissen schien. Dienerte zum Abschied und biss sich gleich darauf ärgerlich auf die Lippe, weil er das Problem mit keiner Silbe erwähnt hatte.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Bat um einen Termin. Die Chefsekretärin bestellte ihm, Herr Kronzucker jun. würde sich freuen, Herrn Richard Gulda in einer Woche privat, in der Villa Kronzucker, zu empfangen. Ihr Blick ließ keinen Zweifel daran, dass dies nicht so sehr eine Einladung, als vielmehr eine Aufforderung war, der Gulda tunlichst Folge zu leisten hatte. Und das tat Gulda pflichtschuldigst.

Richard Gulda verließ die Villa Kronzucker völlig zerstört. Kronzucker war in keiner Weise zerknirscht. Er hatte überhaupt kein Schuldbewusstsein. Er hatte nicht einmal den leisesten Versuch unternommen, Guldas leise Vorwürfe abzustreiten oder sich zu rechtfertigen. Er hatte vor ihm gestanden und sein Raubtiergebiss gebleckt.
Gulda hatte gefühlt, wie ihm die Knie weich wurden. Ihm wurde buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. Dann hatte Kronzucker ihn in einen Sessel komplimentiert, hatte seinen Sessel ganz nahe herangerückt und seinen breiten Kopf direkt vor Guldas Gesicht gestreckt.

„Gulda. Sie sind ein guter Mann, Richard Gulda! Ich weiß, Sie werden das Richtige tun, nicht wahr? Von unserem kleinen Spesenkonto braucht niemand zu erfahren, richtig? Es wäre besser für uns alle, wenn niemand davon erfährt! Schhh… lassen Sie mich ausreden.
Nehmen wir einmal an, jemand erfährt davon. Wen wird man wohl zuerst verdächtigen? Hm? Ganz recht. Man wird fragen, warum Sie nicht schon längst Alarm geschlagen haben. Und dann wird man Nachforschungen anstellen, Gulda. Man wird in Ihrem Privatleben herumspionieren. Man wird sich an Ihre Reisen erinnern; und an Ihre neuen Möbel. Man wird sich über die nette kleine Uhr an Ihrem Handgelenk wundern. Und schließlich wird man Ihr Konto überprüfen.
Was glauben Sie denn – Ihre kleinen, monatlichen Extravergütungen, die ich Ihnen habe zukommen lassen, die hat nicht etwa die Firma bezahlt! InterSec sind Sie egal, Gulda! ICH habe sie bezahlt, Gulda, weil ich mich immer auf Sie verlassen konnte! Natürlich nicht aus meinem Privatvermögen – sondern von unserem kleinen Spesenkonto! Sie verstehen? Na also.“

Des Juniors Lächeln funkelte.

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