Guldas Fall
von C.S. Strangelove (csstrangelove)

Kapitel
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4.

In Gulda begann es zu kochen. Er merkte, wie seine Ohren glühten. Jetzt hatte er verstanden! Dieser Mann hatte ihn nicht auf seinen Posten gesetzt, weil er ihn achtete. Kronzucker jun. hatte nach einem leichten Opfer für seinen großen Coup gesucht, nachdem Guldas Vorgänger zur Unzeit verschieden war – oder zum Schweigen gebracht worden war. Er hatte ihn zu seinem Komplizen gemacht – aber nicht, weil er in Gulda einen ebenbürtigen Geist gefunden hatte, dem er vertraute und den er respektierte, nein! Er hatte ihn in diese Geschichte hineingezogen, weil er in Gulda ein billiges Werkzeug sah – einen Handlanger, nichts weiter. Er, Gulda, hatte alles aufgegeben, was ihm wichtig gewesen war, weil er wie ein Licht am Ende des Tunnels die Möglichkeit gesehen hatte, endlich respektiert zu werden. Endlich die Achtung zu bekommen, die ihm immer verwehrt geblieben war. Und wenn schon nicht wegen seiner treuen Dienste für InterSec oder seine überragende Abschlussarbeit, dann wenigstens für einen genialen Coup, wie ihn nur ein wahrhaft genialer Meisterverbrecher planen und ausführen konnte. Dafür hatte er seinen Posten geopfert, seinen Alltag, der ihm Halt gab, sein Zuhause. Dafür hatte er sogar seine Abneigung gegen das Fliegen überwunden. Er hatte einen Lebensabend in der Fremde in Kauf genommen, denn er würde nie mehr nach Hause zurückkehren können. Alles hatte er geopfert, in der Hoffnung auf… Respekt. Doch nicht einmal jetzt, wo er und Kronzucker in einem Boot saßen, beide Verbrecher auf der Flucht, erkannte dieser Mann ihn als Partner an. Respekt? Ha! Keine Spur. Es war pure Verachtung, die ihm entgegenschlug. Dieses arrogante Schwein hatte ihn gedemütigt. Schon wieder! Schon wieder!!!

Gulda starrte wie gebannt auf den breiten Schädel des Juniors, der vor ihm über die Lehne des Sessels ragte, und vor seinem inneren Auge liefen in Sekundenschnelle Bilder ab wie in einem alten, schadhaften Film… Er sah den Junior seinem Abteilungsleiter auf die Schulter klopfen und sein Haifischgrinsen aufblitzen. Eine Sekretärin grüßte die beiden Männer im Vorübergehen. Beide schauten ihr anerkennend hinterher, auf ihre langen Beine, auf ihren Arsch. Er sah Kronzucker dem Abteilungsleiter spielerisch gegen die Brust boxen und eine leise Bemerkung machen – es ging offenbar um die Sekretärin. Er hörte, wie die beiden Männer ihr schallendstes Männerlachen lachten.
Er stand wieder neben Kronzucker im Fahrstuhl. Er sah den Junior grüßen und erlebte wieder, wie er damals starr vor Ehrfurcht gewesen war. Er sah die weißen Zähne sich öffnen wie einen Raubtierrachen.

„Gulda! Hören Sie mir jetzt gut zu, denn ich sage es kein zweites Mal!“

Das war in Kronzuckers Wohnung. Gulda hatte ihn mit dem Vorwurf der Veruntreuung konfrontiert und war von einer Sekunde auf die andere zwischen die Mühlen geraten. Eben noch im Bewusstsein der eigenen Unangreifbarkeit, in der nächsten unter des Juniors Absatz um Gnade winselnd, der drohte, ihn zu zerquetschen.

„Sie werden tun, was ich Ihnen befehle, oder Sie enden wie Ihr Vorgänger. Niemand wird Ihnen glauben, niemand! Oder denken Sie vielleicht, das Wort eines elenden kleinen Buchhalters hat neben meinem irgendeine Bedeutung? He?“

Neben Guldas Schemel stand ein zierliches Rauchtischchen; darauf ein schwerer Aschenbecher. Auf dem Boden des Aschers war ein Etikett, echt Kristall stand darauf und: Made in Bohemia. Gulda hatte ihn Stunden zuvor vorsichtig aufgehoben und bewundernd registriert, wie schwer er war. Ohne es zu bemerken, stahl sich nun seine zitternde Hand zu dem Aschenbecher, berührte ihn, umklammerte ihn…

Gulda dachte an das letzte Treffen in Kronzuckers Villa, wie der Junior ihn gedemütigt hatte, gedemütigt vor seiner - des Juniors – Geliebten. Er dachte an die milchweiße Haut dieser Frau, an den spöttischen Ausdruck auf ihrem Kindergesicht, an ihre langen, nackten Beine und wie er sich dafür hasste, dass er sie begehrte.

Er sah sich wieder auf dem Boden liegen, auf dem weißen Teppichboden, zu Füßen dieser Frau. Diese kleinen Füße mit den rot lackierten Zehennägeln direkt vor seinem Gesicht. Er hatte bemerkt, dass sie nichts trug unter ihrem Kimono. Er spürte wieder Kronzuckers Ledersohle im Genick. Und hörte ihr verächtliches Lachen. Wut, Hass und Scham kochten erneut in ihm auf und seine Oberlippe begann, nervös zu zucken. Und dann nahm er alle Kraft zusammen und schwang den Ascher hoch über seinen Kopf. Nie wieder wollte er auf dem Boden kriechen müssen! Nie wieder sollte der Junior ihn demütigen! Er hatte begriffen: Respekt bekam immer nur der, der am mächtigsten war. Und wer war am mächtigsten? Derjenige mit dem größten Scheckbuch! Gut, dann würde Richard Gulda sich diesmal nicht mit einer lumpigen halben Million abspeisen lassen. Ihm würde alles gehören. Und alle, alle müssten ihn endlich respektieren!

Mit einem dumpfen Schlag traf der schwere Ascher Kronzuckers Hinterkopf. Der Aufprall riss ihn aus Guldas Hand. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst das Kristallglas auf dem Boden in tausend glitzernde Scherben, die quecksilberartig auseinanderspritzten.

„Gulda!“ sagte der Junior und sprang auf. „Sind Sie wahnsinnig geworden?“

Er fasste sich an den Hinterkopf. In seinem Blick mischten sich fassungsloses Staunen und Entsetzen, als er die blutige Hand herabnahm.

„O mein Gott! Ich bin verletzt! Du erbärmliches Schwein… einen Arzt! Schnell – ich muss…“

Und der Junior stürzte zur Tür. Er war erstaunlich schnell. Schon hatte er sie aufgerissen, schon war er hindurch, da fasste sich Gulda. Mit drei Sätzen war er durchs Zimmer. Er flog förmlich über die Galerie. Er nahm fünf Treppenstufen auf einmal. Auf dem Treppenansatz holte er Kronzucker ein. Mit einem wilden Schrei sprang er ihn an. Der Junior verlor das Gleichgewicht, gemeinsam stürzten sie die letzten Stufen hinunter. Der Junior kämpfte sich hoch. Aus einer Platzwunde auf der Stirn rann ihm Blut über das Gesicht und in die wilden Augen. Mit blutigen Händen griff er ins Leere, taumelte auf die Eingangstür zu. Doch Gulda klammerte sich an sein Bein wie ein Terrier im Blutrausch, wurde mitgeschleift, ließ nicht locker. Der Junior stolperte über den zerknüllten Teppich, krachte gegen die Eingangstür und ging mit einem heiseren Laut zu Boden. Und dann war Gulda über ihm, die Hände zu Klauen gekrümmt, wie von selbst fanden sie zum Hals seines Peinigers und schlossen sich und drückten und pressten…

Richard Gulda seufzte. Haßerfüllt blickte er in das Gesicht seines toten Chefs, der ihm gegenüber an der Wand lehnte. Im Todeskampf hatte sich sein Gesicht zu einer grässlichen Grimasse verzogen. Die Ober- und die Unterlippe waren wie zu einem grotesken Grinsen zurückgezogen und gaben den Blick auf Kronzuckers makelloses Gebiss frei. Es sah aus, als fletsche er die Zähne. Seine leeren Augen waren nach oben gerichtet und blickten stier in den kleinen Ausschnitt Himmel, wo lustige weiße Schäfchenwölkchen von einem frischen Wind zusammengetrieben wurden. Es war nicht mehr zu übersehen, dass es bald regnen würde.
Gulda überlegte. Irgendwann müsste jemand vom Personal in der Villa auftauchen und sie beide aus ihrem unfreiwilligen Gefängnis befreien. Wenn er seinen einheimischen Rettern erklären könnte, dass alles ein Unfall war, würde er immerhin Zeit gewinnen. Wenn man ihm glauben würde, dass Kronzucker sich seine tödlichen Verletzungen beim Sturz in dieses verdammte Loch zugezogen hatte, nachdem sie beide etwas gefeiert hatten… Sie verstehen schon, Herr Wachtmeister, wir waren ziemlich betrunken!
In der Gerichtsmedizin würde man sehr schnell die Wundmale um Kronzuckers Hals entdecken. Dann würden sie ihn jagen. Doch bis dahin könnte er, Gulda, schon längst auf dem Weg nach Südamerika sein, von wo man ihn nicht ausliefern würde. Ächzend richtete er sich auf. Sofort begann sein Knöchel höllisch zu pochen. Bei seinem Sturz war Kronzucker auf ihn gefallen und hatte ihn halb unter sich begraben. Ein stechender Schmerz hatte ihn aufheulen lassen und das Wasser war Gulda in die Augen geschossen, als ihm klar geworden war, dass er sich seinen Knöchel zumindest verstaucht, vielleicht sogar gebrochen hatte.

Er biss die Zähne zusammen und starrte nach oben. Eingerahmt von den türkisgrünen Kacheln blickte er in ein drei mal drei Meter großes Himmelsfenster, in dem der Wind schwere graue Wolken aufeinandertürmte und wieder zerriss. Richard Gulda war gefangen. Zusammen mit seinem toten Chef und Komplizen. Eingesperrt in ein gekacheltes Verlies mit sechs Quadratmetern Grundfläche, etwa doppelt mannshoch. Die glasierten Kacheln an den Wänden hätten selbst einem sportlicheren Mann als Richard Gulda ein Entkommen unmöglich gemacht. Selbst wenn er auf die Leiche kletterte, konnte er noch nicht einmal annähernd den oberen Rand seines Gefängnisses erreichen, das war ihm schnell klar geworden. Es bleib ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis das einheimische Personal oder die Bauarbeiter irgendwann zurückkehrten und ihn aus seiner misslichen Lage befreiten. Gulda fluchte und kauerte sich ächzend wieder in seine Ecke. Das war doch wirklich verfluchtes Pech! Tränen des Selbstmitleids stiegen ihm in die Augen, als er seine Lage überdachte.

Er hatte geplant, die Leiche Kronzuckers einfach durch den Garten zu schleifen und über die Klippen zu befördern. Dann hätte er im Haus die Kampfspuren beseitigt, die Blutspuren aufgewischt, die zwei Aluminiumkoffer mit dem Bargeld genommen und wäre verschwunden. Die Papiere hätte er dagelassen. In der Firma wäre man schnell dahinter gekommen, wer hinter der Katastrophe steckte, doch das spurlose Verschwinden des Juniors plus die Papiere in dessen Ferienhaus hätten die Ermittlungen sicher eher auf die Fährte von Kronzucker jun. geführt als auf die des unscheinbaren Buchhalters. Bis die See die Leiche irgendwo an Land gespült und man erkannt hätte, dass diese Fährte schon lange kalt war, hätte Gulda schon unter einem falschen Namen sein zweites, sein richtiges Leben begonnen haben können. Doch es war ganz anders gekommen.

Keuchend hatte Gulda den schweren Körper des Juniors zur Eingangstüre hinaus und in den Garten befördert. Kronzucker war im Leben ein massiger Mann gewesen; und als er tot war, schien er wie am Boden festgenagelt. Gulda arbeitete sich rückwärts durch den Garten und schleifte den Junior an den Füßen hinter sich her. Der Garten war eine einzige Baustelle, Schleifspuren, sollte es auf der hart gebackenen Erde überhaupt welche geben, würden gar nicht weiter auffallen. Mehr als einmal glitt Gulda auf dem unebenen, umgegrabenen Erdboden aus und schlug der Länge nach hin. Dass er in völliger Dunkelheit arbeiten musste, erleichterte die Sache nicht gerade. Der Schweiß floss ihm in Strömen über das Gesicht, in den Hemdkragen und kitzelte ihn unter den Achseln. Keuchend zog er den Junior ruckweise weiter. Und dann passierte es. Er hatte wohl bemerkt, dass seine tastenden Schritte hohl nachhallten. Und dass der Leichnam auf einmal ein ganzes Stück vorwärts glitt, als läge er auf einer glatten Fläche, wie… Holzbohlen. Aber noch ehe ihm klar wurde, in welcher Gefahr er sich befand, ertönte ein lautes Knirschen, ein hohler Knall, der Boden gab unter seinen Füßen nach und Gulda stürzte, wild um sich schlagend, in die Tiefe.

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