TV-Leap: Dr.Mental gegen die Unheimlichen Vier
von Carsten Maday

Kapitel
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>Ja, ja, ja, jaaaaaaaaa!<
>Na, los, komm schon, komm schon, kooooooooommmmm.<
>Ja, jetzt, jetzt, jeeeeetzt!<
>Ich bin gleich soweit. Nicht mehr weit, nicht mehr weit.<
>Ich auch, ich auch!<
>Gewonnen!< schrie Claire triumphierend. Ich warf enttäuscht den völlig verbogenen Joystick auf den Boden. Auf dem C64 lief Decathlon. Der legendäre 1500m Lauf war auch für Superhelden die ultimative Herausforderung. Es war sieben Uhr morgens. Claire und ich waren von unserer nächtlichen Heldenpatrouille zurückgekehrt und ließen die Nacht mit einem Computermatch und ein paar Bieren ausklingen. In den letzten drei Wochen hatte ich mich gut eingelebt. Ich schlief auf Claires Sofa und war froh, menschliche Gesellschaft zu haben, die nicht schreiend davon lief. Um meinen Mitbewohnern entgegenzukommen, trug ich Oropax in den Ohren, damit mein Supergehör nicht jedes intime Detail in der Wohnung aufschnappte, wie z.B. dass Claire, die sich Punk Girl nannte, am liebsten Wham und Simple Minds Hits unter der Dusche trällerte. Ich konnte mein Gehör nicht auf Kommando abstellen wie Supermann seinen Röntgenblick. Wer weiß, ob er es überhaupt wirklich konnte. Ich ließ Claire an meiner erschütternden Vermutung teilhaben.
>Kann gut sein<, sagte sie zwischen zwei Schlücken. >Beim Umgang mit Supermann gilt das Wort meiner Mutter: Immer frische Unterwäsche tragen!<
>Das gilt auch so<, sagte Bridget. Sie stand in der Tür zu Claires Zimmer, ohne dass wir sie bemerkt hatten. Sie hatte die Nacht bei Jeff verbracht –sie war noch immer mit ihm zusammen- und gerade erst zurückgekommen. Sie sah leicht zerzaust aber glücklich aus.
>Hängt ihr schon wieder vorm Computer<, tadelte Bridget mit Blick auf die leeren Bierdosen. >Hab ihr mal daran gedacht, dass ihr so etwas wie eine Vorbildfunktion habt.<
>Klar<, antwortete Claire. >Deshalb trinken wir auch NACH der Arbeit und nicht davor.<
>Das ist überhaupt nicht witzig Claire. Und wie es hier wieder aussieht. In deinem Kopf sieht es aus wie in deinem Zimmer. Reines Chaos. Was ist eigentlich mit deinem Studium?<
>Ja, Claire<, stichelte ich >Was ist eigentlich damit? Was studierst du noch gleich?<
Claire sah mich giftig an.
>Muss das jetzt sein, Harvey? Das steht auf meinem Studentenausweis. Aber ich hab echt keinen Bock, den jetzt in diesem Chaos zu suchen.< Sie wandte sich an Bridget. >Hör mal, CG, ich nehme mein Studium sehr ernst. Ich gehe heute Mittag auch in eine Vorlesung-<
>Heute ist Sonntag<, konstatierte Bridget.
>Aha, Sonntag. Da hat die Uni wohl zu, was?<
>Du weißt noch nicht einmal welchen Tag wir haben, Claire. Das macht mir langsam Sorgen. Denk doch an deine Zukunft.<
>Ich bin neunzehn, HerrGottnochmal.<
>Ja, aber nicht für immer, Claire.< Sie deutete auf Claires Sponti-Anstrecker. Der Wahlspruch von heute lautete: Gott sei punk. >Was wird denn aus Punk Girl, wenn es einmal vierzig ist?<
>Keine Ahnung. Retro-Mom? Und was ist mit dir? In ein paar Jahren heißt du Captain Neurose, oder was?<
>CLAIRE!<, rief Bridget empört.
>BRIDGET<, keifte Punk Girl zurück. Ich schnappte mir ein neues Bier und lehnte mich zurück. Das versprach unterhaltsam zu werden. Leider stürmte in diesem Moment Queen Tarawa in den Raum. Sie sah erschreckend gut und leicht außer sich aus
>Es ist etwas schreckliches passiert<, sagte sie und zupfte sich mit perfekt lackierten Fingern eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. >Es kommt im Fernsehen!<

>...schalten wir jetzt live zu Jeff Herrhausen vor dem Orion-Forschungsgebäude. Hallo, Jeff?<
>Da ist er<, rief Bridget aufgeregt, als sie ihren Freund auf dem Fernsehbildschirm sah. Er sah übernächtigt aus. Im Hintergrund stand ein riesiger Gebäudekomplex in Flammen.
>Hallo, Susan<, grüßte Jeff seine Kollegin im Studio. >Ich stehe hier vor dem Orion-Forschungsgebäude, das heute Nacht Ziel eines Anschlages wurde. Kurz nach halb drei überfiel ein Kommando, das dem berüchtigten Dr. Mental angehörte, den Laborkomplex...<
>Dr. Mental?<, fragte ich. >Was für ein Name, ich meine Dr. Hirni...< Drei Pssst-Rufe brachten mich zum Schweigen.
>...stahlen sie unseren Quellen zufolge hochgeheimes Forschungsmaterial<, fuhr Jeff fort. >Aus noch nicht näher bekannten Umständen, konnten sich die Einbrecher den vor Ort angekommenen Einsatzkräften der Polizei entziehen. Kurz zuvor soll es zu mehreren Explosionen gekommen sein, die Brände in Teilen des Orion-Gebäudes auslösten. Einem Reporterteam gelangen Aufnahmen von den Entführern, als sie das Gebäude verließen.< Ein Beitrag wurde eingeblendet. Die Aufnahme war wackelig und unscharf. Sie zeigte den Eingang des Gebäudes. Dutzende Polizeifahrzeuge blockierten ihn. Polizisten hocken dahinter in Deckung und zielten. Dann flogen die Türen auf. Zwei Gestalten traten heraus. Die eine war ein nebulöser Schatten in dem man undeutlich scharfe weibliche Konturen erkennen konnte.
>Das ist Styx<, keuchte Bridget erschrocken. Sie zeigte auf die Schattengestalt, die ein dünnes, bläulichschimmerndes Rapier in der Hand hielt.
>Stimmt<, sagte Queen Tarawa. >Mit der Figur kann man so etwas tragen.<
Die Gestalt neben Styx wirkte noch bedrohlicher. Sie war von einem schwarzen Kapuzenmantel verhüllt.
>Dr. Mental<, sagten meine drei Freunde erschrocken. Dr. Mental streckte einen Arm vor und machte eine Geste. Die Polizisten erhoben sich und legten aufeinander an. Das Bild flackerte mehr und mehr und erlosch endgültig. Der Ton lief noch einen Moment, bis er Mitten im Losbrechen Dutzender Schüsse erstarb.
Es dauerte, bis sich das Entsetzen in unserem Wohnzimmer gelegt hatte. Wir verfolgten die Nachrichten weiter, bis die gleichen Informationen immer wieder neu aufbereitet und Expertenstimmen eingeholt wurden.
>Verbinden wird in ein einer halben Stunde mit Dr. Charles Xavier, einem intimen Kenner der Mutantenszene-< Bridget schaltete die Übertragung aus.
>Xavier? Ist das nicht der Typ von den X-Men? Haben die nicht Forschungsstipendien? Das wäre doch was für uns. Wir sind Pleite und haben keine Ausrüstung. Wir können uns doch bewerben.<
Mein drei Mitbewohner sahen mich voller Abscheu an.
>Pah, X-Men<, sagte Claire angewidert. >Uniformierte Befehlsempfänger.<
>Patriarchalischer Kostümball<, fügte Bridget hinzu.
>Kleingeister, die sich vor dem Anderssein fürchten<, sagte Queen Tarawa bitter.
>Aha, verstehe. Sie haben euch nicht genommen, wie?<, vermutete ich.
>Wer braucht die schon<, sagte Bridget. >Wir können Dr. Mental auch alleine zur Strecke bringen. Auf geht´s, Superhelden. Es gilt einen Oberschurken zu besiegen.<

Jeder von uns bekam eine Aufgabe zugeteilt. Bridget und Claire wollten vor Ort des Geschehen Nachforschungen anstellen. Queen Tarawa sollte als Greg von seinem Job als wissenschaftliche Hilfskraft in der Uni aus alle Informationen über die Orion-Forschungseinrichtung besorgen, und ich sollte die Wohnung putzen. Da ich schlecht als zwei Meter großes Häschen durchs tägliche New York wandern konnte, schnappte ich mir ein Kopftuch und Schneeschieber und fing mit Claires Zimmer an.
Der Anruf kam um zwölf Uhr Mittags. Ich ließ den Anrufbeantworter rangehen. Offiziell wohnte ich hier ja nicht, und ein fremder Mann am Telefon war verdächtig genug, auch wenn er kein rosa Kaninchen war. Ich drückte mit meiner Pfote auf Rücklauf und das Band spulte zurück. Ich hörte die Nachricht ab. Sie war für Bridget bestimmt. Als die Nachrichte beendet war, stand ich völlig überrascht neben dem Telefon und überlegte was ich tun konnte. Ich musst das Haus verlassen. Aber wie? Selbst in New York würde ein zwei Meter großes rosa Kaninchen auffallen. Vielleicht landete ich im Gefängnis und danach auf einem Seziertisch eines Regierungslabors. Ich musste mir irgendetwas überlegen.

>Sie sollten sich wirklich was schämen<, sagte die ältere Dame mit dem roten Barett und dem weißen T-Shirt der Guardian Angels. Ich stand Mitten in der gut gefüllten U-Bahnstation und spürte die empörten Blicke der Reisenden. In meiner Not war mir nichts besseres eingefallen, als mir zwei große Pappschilder zu machen und mir umzuhängen. Vorne hatte ich mit dickem Filzstift „Rudi´s Häschen-Klemm“ darauf geschrieben und hinten „Esst mehr Häschen. Esst bei Rudi´s“. So gelang es mir zwar, meine Superheldenidentität zu verbergen, aber leider erweckte ich auch so Aufmerksamkeit. Die Leute hatten nichts dagegen, wenn man im Verborgenen Kaninchen rosa färbte, aber man sollte doch bitte nicht vor ihren Augen für deren Verzehr werben.
>Es tut mir leid<, sagte ich zu der entrüsteten Dame. >Ich bin armer Student und muss jeden Job-< Der Kreischen der einfahrenden Bahn erlöste mich. Ich stieg ein und fuhr los.
Der Anruf, der mich ans Licht der Öffentlichkeit gezwungen hatte, stammte von dem Wissenschaftler, der uns damals in dem Labor gefunden hatte. Er schien darüber informiert, dass Bridget, Claire und Greg eine, wie er es nannte, Verwandlung vollzogen hatten. Er hatte wichtige Informationen, die Dr. Mental betrafen. Er wollte sie Bridget persönlich übergeben, ehe er sich ins Ausland begab. Er war bis zum Nachmittag bei dem Treffpunkt am Hafen. Seine Stimme hatte ängstlich geklungen.
Claire und Bridget konnte ich nicht erreichen. Sie waren unterwegs und im Zeitalter vor dem Handy unerreichbar. Unser schmales Superheldenbudget erlaubte futuristischen Kommunikatoren, die unser Superhirn Greg ohnehin nur hätte entwickeln aber nicht zusammenbauen können. Als Mathematiker war er sich zu fein, als bloßer Handwerker zu arbeiten. Ich rief Greg in der Uni an. Er war nicht da, aber ich konnte ihm eine Nachricht hinterlassen. Dann brach ich auf. Der Wissenschaftler und Dr. Mental. Wie hingen sie zusammen und wer war Dr. Hirni wirklich? Wir kannten ihn, soviel war sicher. Irrsinnige Erzbösewichter mit Welteroberungsgelüsten stammten in neun von zehn Fällen aus dem eigenen Bekanntenkreis. Möglich, dass die anderen ihn kannten und ich nicht. Immerhin waren wir fast ein Jahr getrennt gewesen.
Jeff! Das war der erste Name, der mir eingefallen war, als wir von dem Überfall hörten. Es war perfekt. Er war ein Schönling, was immer verdächtig war. Aber diesmal musste mich mein Instinkt trügen. In der Nacht, als Dr. Mental und seine Handlanger das Oriongebäude überfielen, war Bridget die gesamte Zeit über bei Jeff gewesen. Und von dem seltsamen Unfall, der uns verwandelt hatte, war Jeff damals nicht betroffen gewesen. Es musste jemand anderes sein, und Jeff war eine Art männliche Louise Lane für unseren Captain Gravity. Fragen schossen mir durch den Kopf wie die U-Bahn, die durch die unterirdischen Tunnel raste. Was mich wohl an dem Treffpunkt erwarten würde?

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