Dossier 'Prothese'
von Saha Morgenrot

Kapitel
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2.

Als Ilona erwacht, klebt ihre Zunge am Gaumen und das T-Shirt am Oberkörper. Sie greift zur Wasserflasche, die neben dem Bett steht. Leer. Die Uhr zeigt ein Uhr Mittag.
Gequält steht sie auf und geht mit zittrigen Gliedern zum Kühlschrank, um sich anschließend einen halben Liter eiskaltes Mineralwasser aus der Eifel in die ausgedörrte Kehle zu schütten.
Jetzt beginnt ihr Darm zu rumoren, und sie überlässt sich dem morgendlichen Bierschiss, der heute in besonders flüssiger Form aus ihr herauskommt. Gottseidank hat sie niemanden abgeschleppt. Ursprünglich wollte sie ja Artus mitnehmen, einfach so als kleinen sexuellen Zwischensnack nach ihrem Desaster mit dem egomanen Sportsiggi. Doch als sie Artus gestern mit diesem Pferdeschwanz gesehen hatte, war ihr sofort die Lust vergangen. Andererseits – wenn sie von der Beschaffenheit des Pferdeschwanzes auf die Größe seines Lustschwengels schließen könnte, hat sie vielleicht doch einen Fehler gemacht.
Während sie Kaffee kocht, liest sie noch einmal die Postkarte. Äußerst mysteriös, das Ganze. Sie würde Daphne anrufen, wenn sie richtig wach ist. Denn Daphne ist für Mysterien und seltsame Geschichten immer zu haben. Und das sieht ja ganz nach einer interessanten Crimestory aus – mit diesen vielen Doppeldeutigkeiten! Eine Recherche wert.

Aber erst mal eine Runde durch den Volkspark joggen. Einmal in der Woche sollte man sein Gehirn mal durchlüften lassen und der Cellulitis würde es auch gut tun.
Als Ilona sich die Schuhe zubindet und gerade überlegen will, ob die
Frequenz, mit der Männer sich von ihr zurückziehen, proportional zum Umfang ihrer Cellulitis sei, klingelt das Telefon. Daphne.
Daphne entschuldigt sich erst einmal lang und breit, dass sie weder ins Mono Wonderbra noch in den Tulip Club gekommen ist. Sie hätte eine Serie im TV gesehen, in der der Hund einer Darstellerin gestorben sei. Weil es sich in diesem Fall um einen blonden Labrador gehandelt hätte, wäre sie, Daphne, untröstlich gewesen und hätte beschlossen, den Abend mit Smilla zu verbringen. Smilla, der Labradordame, die ebenso blond ist wie der Hund von Mariele
Millowitsch. Ganz im Gegensatz zu Daphnes schwarzem glatten Haar.
Ilona grinst. Weiß sie doch genau, dass Daphnes Fernbleiben nichts mit dem Hund zu tun hat. Vielmehr damit, dass Zocker ihr einen Besuch abgestattet hat. Wahrscheinlich hatte Daphne es wieder nicht fertig gebracht, ihm die Meinung zu geigen. Und statt die Angelegenheit durch einen Anwalt klären zu lassen (Zocker schuldet Daphne 10.000 Euro) hatte sie ihm wahrscheinlich noch eine Apfelsine geschenkt.
"Ist er noch bei Dir?" unterbricht Ilona deshalb den Redeschwall Daphnes.
Natürlich kommt ein kleinlautes "Ja".
"Schmeiß ihn raus und ruf mich sofort zurück!" Ohne eine Antwort abzuwarten, legt Ilona auf. Die Sportschuhe zieht sie sich wieder aus, wie auch den Rest ihrer Kleidung und genehmigt sich ein Nickerchen, wobei sie von vergangenen sexuellen Ausschweifungen träumt. Als sie im Traum Artus Pferdeschwanz mit einem Zentimetermass vermisst, klingelt das Telefon sie aus dem Schlaf.
Daphne!
Nach kurzem Austausch überflüssiger Floskeln kommt Ilona zur Sache und liest Karteninhalt verdutzter Daphne vor:


28.01.2001 Köln

Liebes Finchen!

Es ist soviel los gerade!...Puh.
Aber draußen hocken die Blüten in ihren Startlöchern
und fiebern den ersten warmen Tagen entgegen.
Ich hoffe so es geht Dir gut und die Amputation Deines
Zehens bzw. Fingers erübrigt sich. Genauso wie die U-Haft mir nach Schnee und Sonne die Möglichkeit zur Meditation wiedergibt.

Mein Schatz
bis bald
Deine Vera

„Wir kommen sofort vorbei, das ist ja höchst interessant.“ Daphne legt auf und Ilona ist klar, dass mit ‚wir’ nicht Zocker, sondern Smilla gemeint ist, Smilla, die Ilona nicht nur deshalb so toll findet, weil sie ein ausgemusterter Leichensuchhund ist. Ihren letzten Einsatz hatte Smilla in der Türkei, als sie mit dem Deutschen Roten Kreuz verschüttete Erdbebenopfer suchen musste. Doch nur so lange, bis sie in einem zusammengestürzten Restaurant einen ganzen Eimer scharf gewürztes und bereits halb verwestes Lammfleisch gefressen hatte. Seither ist ihr Geruchssinn verdorben und sie kann nicht mehr arbeiten, weshalb sie seit zwei Jahren bei Daphne ihren Vorruhestand genießt. Gott sei Dank ist für sie prophylaktisch eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen worden, weshalb sie nicht eingeschläfert worden ist.

„Jetzt zeig’ mal deine ominöse Postkarte!“ Daphne reicht Ilona eine der mitgebrachten Flaschen Kölsch, Smilla einen großen Kauknochen und liest die Karte aufmerksam durch.
„Vielleicht sind das alles Codeworte für irgendwelche Illegalitäten,“ meint Ilona. „Blüten, die in ihren Startlöchern hocken, Schnee, Amputation deines Fingers bzw. Zehens...“
„Ja,“ sagt Daphne, „es scheint ein Subtext zu sein, angesiedelt auf einer Metaebene der Realität. Vielleicht können wir den Text dechiffrieren.“
Immer, wenn Daphne so redet, wundert sich Ilona, dass Daphne mal mit Zocker liiert war, wirkt er doch bodenständig und überhaupt nicht intellektuell.
„Die eine ist oder war in U-Haft, die andere wohnt in der Mainzer Strasse. Und schau mal auf das Datum, Daphne!“
„28.01.2001, aber das ist doch schon über ein Jahr her.“
„Und jetzt schau auf den Stempel.“ Ilona prostet Daphne zu.
„Briefzentrum, gestempelt 19.04.2001. Vielleicht hat Vera in U-Haft gesessen und Finchen einige Hinweise gegeben, wie sie Falschgeld und Drogen unter die Leute bringen soll. Und die Knastbeamten haben die ominöse Karte erst untersucht, bevor sie losgeschickt wurde.“
„Aber andererseits wäre es plump, von Blüten und Schnee zu sprechen,“ sagt Ilona.
„Meinst du, es gibt Prothesen für den großen Zeh?“ fabuliert Daphne. „Oder für den Finger?“
„Außerdem wissen wir noch nicht mal, ob es zwei Frauen sind. Es könnten Decknamen sein.“ Sie nimmt einen Schluck aus der Flasche.
„Zumindest die eine auf der Adresse muss ja stimmen. Vielleicht sind es ja zwei kriminelle Lesben?“ vermutet Ilona.
„Apropos Adresse, lass uns in die Mainzer Strasse gehen und nachschauen, ob Josephine Zuckmann da noch wohnt,“ sagt Daphne, springt auf und weckt ihren Hund aus dem Dämmerschlaf: „Los, Smilla, vielleicht findest du ja mal wieder eine Leiche?!“
"Sooo schnell schießen die Preußen nicht." Ilona kann die heißgelaufene Daphne noch gerade zurückhalten und fragt: "Warum recherchieren wir nicht einfach mal nach guter alter Art,“ und holt das zerfledderte Kölner Telefonbuch aus dem Bücherregal.
„Du bist hier die Journalistin,“ sagt Daphne und stellt mit leichtem Ekelgefühl fest, dass an dem Telefonbuch eingetrocknete Reste von Erbsensuppe kleben. Ilona hat nämlich in ihrer kleinen Einzimmer-Wohnung keinen Platz für einen Tisch. Und so muss das Telefonbuch immer als Essensunterlage dienen. Diese Tatsache ignorierend, blättert Ilona in den Seiten. „Zuckmann, Josephine, Mainzer Strasse - da haben wir sie ja.“ Kurzentschlossen wählt Ilona die Nummer: 4934575. Tuuut-Tuuut. Tuuut-Tuuut. Umschalten. Ilona stellt schon einmal auf Lautsprecher. Dann ertönt eine weibliche Stimme:
"Hallo! Hier ist der Anschluss von Josephine Zuckmann. Ich bin zur Zeit nicht zu erreichen. Auf diesem Anrufbeantworter können Sie keine Nachricht hinterlassen. Rufen Sie mich auf dem Handy an: 01709836586."

Ilona legt auf. "Siehste!"
Daphne ist sprachlos.
"Wahrscheinlich ist sie auch im Knast? Knackis haben heutzutage ein Handy, um Kontakt zu ihrer Außenwelt zu halten," mutmaßt Ilona. Dabei ist sie sich nicht sicher, ob das wirklich stimmt. Eine Kollegin
hatte ihr so was einmal erzählt. Aber auf der anderen Seite konnte sie sich das nicht wirklich vorstellen. Dann könnten alle Knackis ja munter und fidel ihr Handwerk weiterbetreiben mit Mittelsmännern? Den letzten Gedanken spricht sie aus, um Daphne mit ihrem Pseudowissen zu beeindrucken. Und wieder einmal funktioniert’s. Daphne ist Informatikerin und eine brilliante Theoretikerin mit einem scharfen analytischen Verstand, aber wenn es darum geht, wer Yvonne Wussow ist oder das Teppichluder, dann hat Ilona die Nase vorn. Außerdem glaubt sie Ilona jedes Wort, auch wenn diese manchmal maßlos übertreibt.
"Los, wir sehen uns sofort an, wo die Gute wohnt."

Zunächst nehmen sie allerdings einen kleinen Zwischensnack in der Grille zu sich. Wobei Daphne trotz Winterkälte auf der blauen Bank draußen sitzen bleibt. Sie hat sich nämlich zum Jahreswechsel vorgenommen, in diesem Jahr nur noch in ihrem Veedel, besser gesagt, in der Gladbacher Strasse, auszugehen. Und daran hält sie sich strikt. Smilla ist mit der Wahl des Etablissements sowieso nicht zufrieden, mit diesem fleischlosen Ökofrass könnte sie nicht glücklich werden.
Schließlich marschieren die drei in die Mainzer Strasse 10 und inspizieren die Klingelschilder.
Eine Zuckmann gibt es nicht. Dafür aber ein namenloses Schild. Smilla bleibt auffallend gelassen. Wahrscheinlich keine Leiche weit und breit.
Daphne und Ilona sehen sich an. Dann wandert ihr Blick hinauf zur ersten Etage.
"Da müsste sie dann wohl wohnen, wenn sie nicht vorübergehend hinter Gittern ist," sagt Daphne und deutet hinauf. Rote Samtvorhänge, Topfpflanzen im Fenster, dann geht Licht an.
"Irgendwer scheint aber da zu sein!" wendet Ilona ein.
"Klingeln?" Daphne runzelt skeptisch die Stirn.
"Nee, ich trau mich nicht, aber wir könnten mal die Handynummer ausprobieren."
"Und was willst du dann sagen? Entschuldigung, wir haben Ihnen Ihre Post unterschlagen und wollten jetzt mal sehen, ob sie vielleicht im Knast sind?"
"Man könnte doch einfach auflegen. Aber dann hat sie unsere Nummer auf dem Display"
"Die kann man immer noch unterdrücken."
„Du hast Recht, Daphne. Also, was machen wir jetzt?“
„Ich schlage einen Ortswechsel vor! Wir fahren erst mal in den Schwarzen Wacholder und überlegen, wie wir weiter vorgehen," meint Daphne schließlich. Und die immer durstige Ilona willigt gerne ein.

Im Schwarzen Wacholder geht Ilona zunächst einmal zur Jukebox und drückt ein paar Karnevalslieder. "Mit guter Musik lässt’s sich einfach besser denken!" verkündet sie.
Während sie zwei Kölsch bestellt und fröhlich „Dicke Mädchen haben schöne Nahamen“ singt, trinkt Smilla schon ihr erstes Hunde-Radler, eine Spezialität des Hauses für durstige Vierbeiner – Wasser mit einem Schuss Kölsch.
Daphne hingegen malt eifrig Hieroglyphen auf einen Bierdeckel. "Wir müssen im Internet recherchieren. Vielleicht erscheinen sie gemeinsam auf der Homepage einer Firma oder es gibt einen Zeitungsartikel oder so," sagt sie schließlich.
"Jau, ein Kronjuwelenraub oder - Lesben ermorden Vergewaltiger’,“ sinniert Ilona und hält versonnen ihre Kölschstange gegen das Kneipenlicht. "Gülden wie die Herbstsonne im Odenwald", sagt sie dann mit Kennermiene, stülpt die Unterlippe vor, wirft den Kopf in den Nacken und leert das Glas in einem Zug.

Von Daphnes Erkerfenster aus schaut Ilona auf den erleuchteten Mediapark, vor ihren Augen verschwimmen die dreieckigen Hologramme zu einem bunten Kölner Dom, während im Hintergrund der Rechner leise surrend hochfährt.
Daphne legt Mouse on Mars ein und holt zwei Reissdorf aus dem Kühlschrank, dann setzt sie sich vor den PC und gibt bei www.giggle.de, ihrer Lieblingssuchmaschine, die Namen Josephine Zuckmann und Vera ein.
„Fünf Treffer!“ ruft Daphne.
„Wie?“ Ilona schreckt von ihren Domvisionen auf und kommt zum Schreibtisch. „Fünf Treffer?“
„Fünf für unser Finchen. Hier – einmal in der Kölner Rundschau, einmal im Stadtanzeiger und einmal im Express. Da unten noch ein Hinweis auf RTL und einmal auf den WDR. Ist wohl eine Kollegin von dir?“
„Klick halt mal eine Seite an.“
„Also im Stadtanzeiger erscheint sie unter der Überschrift „Kirchen ehren ihre Ehrenamtlichen“ ein Artikel über 2001 als „Jahr des Ehrenamtes“. Hier: Die Kölner Domgemeinde ehrt für besonders treue Verdienste mit der silbernen Ehrennadel ... bla bla bla .... Josephine Zuckmann! Leitet seit zwanzig Jahren die Mädchengruppe der 9 bis 14jährigen...“
„Och nee, so ne Scheiße. Kölner Domgemeinde.“ Ilona konzentriert sich auf das angehängte Foto: Marke Lokalredakteur erstes Bild: 36 Frauen und Männer mittleren Alters. Krawatten und weiße Blusen. Die Gesichter sind so groß wie Erbsen und verschwimmen mit dem Blitzlicht des Reporters, während der Rest des Fotos schwarz ist wie die Nacht. Ilona schaut Daphne an und die Enttäuschung ist ihr deutlich anzusehen. „Und was ist jetzt mit unserer Crimestory?“
„Wart’s doch ab, hier gibt’s noch andere Hinweise.“ Daphne klickt die anderen Seiten an.
„Ach, ich hab gar kein Bock mehr.“ Ilona macht sich ein weiteres Bier auf.
„Ich glaub, du hast recht. WDR und Rundschau berichten auch über diesen Ehrennadelkram. Und weit und breit keine Vera dabei.“ Daphne kratzt sich ratlos am Hinterkopf und zündet sich eine Zigarette an.
„Vielleicht hat sich eine aus der Mädchengruppe mit dieser Karte einen Scherz erlaubt. Lass es einfach,“ sagt Ilona. „Trinken wir lieber Bier.“
„Ich will aber nicht so schnell aufgeben. Hartnäckigkeit macht sich oft bezahlt.“
„Doch, wir müssen aufgeben. Was erwartest du von einer Kirchentante, die seit ihrer Kindheit in der Domgemeinde engagiert ist?“
„Wie kommst du darauf, dass sie seit ihrer Kindheit dort dabei ist?“
„Naja, sonst müsste sie doch irgendeiner Kirchengemeinde in der Südstadt angehören. Schließlich wohnt sie doch dort. Man engagiert sich immer in der Kirchengemeinde, die zu dem Stadtteil gehört, in dem man gemeldet ist. Wenn sie katholisch ist, wär das die Severinskirche, schätze ich,“ sagt Ilona mit wichtigem Gesichtsausdruck und leert mit einem letzten tiefen Schluck die Flasche.
„Wahrscheinlich hast du wie immer Recht.“ Daphne geht offline und spielt aus lauter Frust eine Runde Solitär, bevor sie sich eine weitere Flasche Kölsch genehmigt. „Und wir haben gedacht, es sind kriminelle Lesben...“

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