Dossier 'Prothese'
von Saha Morgenrot

Kapitel
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5.

Im Parkhaus am Dom findet Daphne einen freien Frauenparkplatz. Hastig steigen alle aus, rennen den Weg bis zum Dom und bleiben bis auf Smilla kurzatmig vor der Kasse stehen.
„Ilona! Wenn ich nicht so auf dein Dekollete stehen würde, stünde ich jetzt nicht hier!“
„Olli! Bist du wirklich gekommen“, freut sich Ilona, als sie ihren Lieblingskameramann erkennt.
„Und, so wie ich’s dir gesagt habe? Kein grosses Team?“
„Nein nur ich allein. Und ich habe meine kleine Canon im Rucksack.“
Während Ilona ihren Presseausweis zeigt und „Meine Fotografin,“ sagt, während sie auf Daphne deutet, schickt diese Smilla mit einem unauffälligen Wink unterhalb des Kassenfensters vorbei die Treppe zum Turm hoch.
„Ist hier zufällig eine dunkelblonde Frau vorbeigekommen mit zwei Russen im Schlepptau?“
„Ach, Sie meinen Frau Zuckmann?“
„Ja, wir sind mit ihr verabredet,“ sagt Ilona zu dem Herrn an der Kasse. „Wir machen die Bilder für das russische Reisemagazin.“
„Ach so, sie gehören zur Frau Zuckmann, die ist schon oben im Turm. Aber nächstes Mal sollten Sie sich doch besser bei unserer Pressestelle anmelden.“ Ilona überzeugt den Kassenwart, dass heute das beste Wetter für eine Fotoreportage sei, auf das sie seit Wochen gewartet habe und darf passieren. Der Kameramann löst ein Ticket, dann laufen sie schnell die Wendeltreppe hoch. Ständig kommen ihnen Touristen entgegen, die ihnen den Weg versperren. „Film alles, was du siehst,“ raunt Ilona dem Kameramann zu.
Auf dem Weg nach oben ruft sie kurzatmig bei ihrem Sender an und reserviert sich Sendezeit für eine exklusive Livereportage, obwohl sie angesichts des Ärgers über ihren Chef die brandheiße Geschichte lieber an Radio Urft verkauft hätte.

„Hier seht ihr den berühmten dicken Pitter!“ Josefines Stimme wird schrill, als sie am Treppenende angekommen sind. Die Luft wird allmählich zugiger. Eine Handvoll Touristen schlendert um die Glocken herum, einige lauschen den kunstgeschichtlichen Ausführungen per Band.
Josefine Zuckmann klettert über die Absperrung. Ein Tourist murrt: „Steht dick drauf, dass das verboten ist.“
„Dompersonal!“ erklärt Josefine Zuckmann knapp und ermutigt die Russen, ihr zu folgen. In einer dunklen Ecke bückt sie sich und öffnet einen kleinen Holzkasten. „Ach, da ist sie ja, meine Querflöte!“ sagt sie und nimmt eine längliche Ledertasche heraus.

Als Daphne, Ilona, Smilla und Olli im Glockenturm ankommen, sehen sie Josephine Zuckmann, wie sie gerade mit einer länglichen Ledertasche über eine Absperrung klettert. Ilona rennt auf sie zu, kitzelt sie unter der linken Achsel, worauf Zuckmann die Tasche fallen lässt. Ilona hebt sie auf, versteckt sie hinter ihrem Rücken und will sich von hinten an dem Grobschlächtigen vorbeischleichen, um den Rückweg anzutreten und per Handy dem Sender hoffentlich ungestört die aktuelle Entwicklung durchgeben zu können, doch sie hat nicht mit dem geschulten Auge des Russen gerechnet. Ruckartig dreht er sich um und brüllt sie an: „Keinen Schritt näher!“ Er stößt Ilona an die Wand, nimmt ihr kurzerhand die Tasche ab und klemmt sie unter seinen Arm.
Plötzlich schnappt der feingliedrige Russe einen älteren japanischen Touristen und drückt ihm die Pistole an den Kopf. „Lass uns durch, sonst Mann tott!“ brüllt er.
Die anderen Touristen schauen erschreckt, eine Frau schreit.
„Bleiben sie ruhig,“ ruft Ilona. Die Leute raunen, ein kleiner Junge fängt an, zu weinen.
Ilona fällt ein, wie sie die Menge wirklich beruhigen könnte. „Es sind nur Dreharbeiten. Wir sind in einer Medienstadt.“
„Das glaub ich nicht,“ heult eine Frau auf.
„Schnauze, Bljad!“ brüllt der feingliedrige Russe sie an, ohne seine japanische Geisel aus den Augen zu lassen. „Sonst Schlitzauge chier ist tott quick.“
Jetzt ist Zeit für Smillas Einsatz, denkt Daphne und flüstert Smilla etwas in ihr hellbraunes Schlappohr. Vorsichtig schleicht diese sich an der Wand des Turms entlang und springt den dünnen Russen mit der Waffe von hinten an, der schießt vor Schreck und lässt die Pistole fallen. Die Kugel knallt auf das Läutwerk des Doms und alle Glocken fangen gleichzeitig an zu schlagen. Ilona, die endlich eine Verbindung zu ihrem Aufnahmeleiter hat, kann nichts mehr verstehen, geschweige denn berichten.
Der Japaner schafft es, sich dem Russen zu entziehen und er versteckt sich in der aufgeregten Menschenmenge. Der andere Russe versucht, mit der Ledertasche die Treppe hinab zu fliehen, doch Daphne verstellt ihm den Weg. Wütend stößt er sie zur Wand, als von hinten mehrere Männer in den kleinen Raum drängen. Ein hübscher Dunkelhaariger mit einer Knarre im Anschlag ruft etwas, doch er kann das Glockengeläut nicht übertönen. Daphne schätzt ihn auf Mitte Dreißig, und als sie auf seine Pistolenhand schaut, registriert sie sofort, dass er keinen Ehering trägt. Er scheint der Einsatzleiter zu sein.
Der feingliedrige Russe wechselt die Richtung und versucht, über eine eiserne Treppe weiter nach oben zu gelangen. Doch der Polizist schießt und trifft ihn am Bein. Der Russe greift sich an seine Hose, die sich sofort mit Blut tränkt.
„Aus dem Wägg, ich sprenge in Luft wie New York elfter September,“ brüllt sein Kumpan aus Leibeskräften. „Das war jetzt aber mal ein schlechter Witz,“ ärgert sich die politisch korrekte Daphne, die nur eineinhalb Meter von ihm entfernt steht. Auf die Polizisten hingegen wirkt die Drohung. Wieder brüllt der hübsche Einsatzleiter, etwas, doch bevor seine Kollegen reagieren können, springt der Japaner plötzlich gazellengleich aus der Menge her vor und streckt mit zwei gezielten Karateschlägen den grobschlächtigen Russen nieder.
Kamikaze ist eine japanische Tugend, denkt Ilona und sieht, wie sich Smilla in der länglichen Ledertasche verbeißt.
„Nicht, nicht, aus! Smilla, aus!“ ruft Daphne der Labradorhündin erschrocken: „Sonst kriegen wir wieder Probleme mit der Versicherung.“
Josephine Zuckmann tritt hinter dem dicken Pitter hervor, wo sie sich versteckt hat, um sicher vor den Kugeln zu sein, und schaut unsicher in die Menge.
Drei knackige, solarienbraungebrannte Kollegen des Kommissars, wahrscheinlich alle schwul, wie fast alle hübschen Männer in Köln, vermutet Ilona, führen Josephine und die beiden Russen unter dem Lärm der läutenden Glocken ab. Olli hält mit der Kamera drauf.

Ein Raunen geht durch die Menge, die Menschen treten zurück, aber nicht etwa, weil die Polizisten gerade einige Leute abführen, sondern weil sich das Hauptportal des Dom öffnet und eine Gestalt im purpurroten Gewand naht: der Kardinal. Sein Blick fällt auf die Polizisten und auf die junge Frau.
„Frau Zuckmann!“ donnert eine tiefe Stimme. „Haben sie etwas damit zu tun, dass die Glocken läuten? Unsere Andacht ist gestört worden.“
Josefine Zuckmann fällt vor dem Kardinal auf die Knie. „Gott möge mir verzeihen. Bitte, beten Sie für meine Sünden, Eminenz“, stammelt sie unter Tränen, dann küsst sie den Siegelring des Kardinals. „Ich habe es nur für Vera getan, alles geschah aus Liebe.“
„Vera, Bljad!“ höhnt der feingliedrige Russe in respektlosem Unterton. „Leider meine beste Pferdchen ist in Knast. Viele Dollar an Eigelstein, Düsseldorf oder Kaukasus, scheissegal.“
„Pferdchen!“ wiederholt Josefine Zuckmann verächtlich. „Vera ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, der Liebe braucht wie jeder andere auch.“ Sie steht auf und spuckt dem Russen ins Gesicht, dann wendet sie sich um und verlässt die Domplatte, ohne sich noch einmal zum Kardinal umzuwenden.
„Die Liebe ist ein seltsames Spiel“, resümiert Ilona und schaut nachdenklich auf den gestählten Hintern des Einsatzleiters, wie er mit den Gefangenen die Treppe hinunter geht.

Am folgenden Abend sitzen Daphne und Ilona, deren Nasenflügel leicht gerötet sind, mit dem gutaussehenden Kommissar und Ilonas Lieblingskameramann im Schwarzen Wacholder und trinken Kölsch, während im Hintergrund die von Ilona wahllos gedrückten Lieder erklingen.
„Das war ja heute DIE Story und wir sind dran mit der weiteren Berichterstattung – exklusiv!“ sagt Olli und rückt seine Baseballkappe zurecht. „Der Alte war ganz aus dem Häuschen. Ich wette, du kriegst ne Festanstellung. Lackier dir schon mal die Nägel für das Beförderungsgespräch. Steht er doch drauf.“
„Ja, wir haben Glück gehabt,“ sagt der Kommissar: „ Josephine Zuckmann war sofort geständig.“
„Wahrscheinlich der Einfluss des Kardinals,“ wirft Daphne ein.
„Vielleicht. Sie hat sogar zugegeben, ihren Mann ermordet zu haben, und das alles für diese Vera, die in Ossendorf eine mehrjährige Strafe wegen Hehlerei, Betrugs und illegaler Prostitution absitzt.“
„Ihren Mann ermordet?“ echot Daphne und zündet sich eine Zigarette an. „Wie denn?“
„Als er in der Badewanne lag, hat sie den Fön hineingeworfen und es später als Unfall dargestellt.“
„Deshalb hatte sie keinen Fön im Bad,“ sagt Ilona näselnd.
Der Kommissar nimmt einen Schluck Kölsch, dann fährt er fort: „Sie hat auch zugegeben, für diese Vera den Domschatz geklaut zu haben. Sie wollte mit ihr zusammen ein neues Leben beginnen.“
„Und dafür brauchte sie Geld...“ schlussfolgert Ilona und niest. Dann sagt sie, während sie sich die Nase putzt: „Deshalb hatte sie auch keinen Namen mehr an der Klingel.“
„Ja. Sie stand kurz davor, ihre Existenz in Köln aufzulösen. Aber wie sind sie denn draufgekommen?“ fragt der Kommissar neugierig und schaut die beiden abwechselnd mit seinen pflaumenblauen Augen an.
„Da war diese Postkarte,“ sagt Ilona und steckte das Taschentuch in ihre Hosentasche. „Ich kann sie schon auswendig: 28.01.2001 Köln. Liebes Finchen! Es ist soviel los gerade!...Puh.
Aber draußen hocken die Blüten in ihren Startlöchern und fiebern den ersten warmen Tagen entgegen.
Ich hoffe so es geht Dir gut und die Amputation Deines
Zehens bzw. Fingers erübrigt sich. Genauso wie die U-Haft mir nach Schnee und Sonne die Möglichkeit zur Meditation wiedergibt.
Mein Schatz bis bald Deine Vera.“
„Wir fanden die Karte sehr mysteriös, deshalb haben wir recherchiert. Und dann haben wir nach und nach alles aufgedeckt,“ ergänzt Daphne. „Und weil sie von der Kirchengemeinde geehrt worden ist, haben wir sie zuerst für harmlos gehalten.“
„Ihr Ehrenamt hat sie doch abgeben, an eine jüngeren Kollegin, wie sie sagte. Kurz nachdem sie die Ehrennadel für ihre Verdienste erhalten hat.“ Der Kommissar trinkt sein Glas aus und ordert per Handzeichen ein neues.
„Aha, das ist also die Amputation,“ sagt Ilona.
„Oder der Mord an ihrem Mann,“ sagt Daphne. „Und die Blüten in ihren Startlöchern waren die Schätze aus dem Dom, die bald verkauft werden sollten. Jetzt macht alles Sinn.“
„Aber was soll dann der Satz: Genauso wie die U-Haft mir nach Schnee und Sonne die Möglichkeit zur Meditation wiedergibt,“ fragt Ilona.
„Da kann ich vielleicht zur Aufklärung beitragen: Vera hat einen Fluchtversuch hinter sich, der sie im Januar 2001 bis auf die Schwäbische Alb gebracht hat, wo zu dieser Zeit strahlendes Winterwetter geherrscht hat. Vera wollte sich dort mit Josephine treffen. Doch dank der Aufmerksamkeit eines Hotelbesitzers konnte sie wieder verhaftet und nach Ossendorf zurückgebracht werden. Ursprünglich wollten Vera und Josephine zusammen den Schatz veräußern, doch die erneute Verhaftung kam ihnen in die Quere.“
„Und dann hat Vera Onkel Vladimir ins Spiel gebracht...“ ergänzt Daphne.
„Genau! Er ist nicht Veras leiblicher Onkel, sondern ein Freund von Veras verstorbenem Vater, Vladimir der mit Frauenhandel und Kunstschmuggel sein Geld verdient. Deshalb verfügte er über die entsprechenden Kontakte, denn solche Raritäten zu verkaufen ist ja nicht gerade so einfach.“
„Und warum ist Vladimir erst jetzt gekommen und nicht schon im Januar 2001?“
„Weil er seinerseits eine Zeitlang in Russland im Gefängnis gesessen ist.“
„Ganz schön kriminell,“ sagt Daphne, doch Ilona entgegnet: „In Russland werden viele Menschen erst durch die Armut in die Kriminalität getrieben. Vielleicht blieb ihnen ja gar nichts anderes übrig.“
„Onkel Vladimir war zu Sowjetzeiten ein angesehener Kunstexperte und Vera hat deutsche Literatur studiert.“
„Das erklärt den poetischen Stil der Postkarte,“ sagt Ilona zufrieden.
„Und dann muss die Arme mit Prostitution ihr Geld verdienen...“ sagt Olli nachdenklich. „Das wär doch auch eine gute Reportage für uns.“
„Solche Reportagen sind doch schon hundertmal gelaufen,“ wehrt Ilona ab.
Doch der Kommissar sagt: „Leider muss ich Sie aber enttäuschen, so harmlos ist Onkel Vladimir nicht. Er war schon vor Glasnost aktenkundig wegen Gewalt und Hehlerei. Ein korrupter Kunstexperte.“
„Ist denn die Echtheit der gestohlenen Domschatzstücke überprüft worden?“ fragt Daphne.
„Man geht davon aus, dass alles echt ist. Und jetzt, wo der Fall so gut wie abgeschlossen ist, hab ich noch eine Frage: Wie kann ich den Damen für diese hervorragende Zusammenarbeit danken?“ fragt der Kommissar.
Daphne zwinkert Ilona verstohlen zu und sagt: „Wir hätten da schon eine Idee...“


(PS: Herzliche Grüße an die First Ladies!)

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