Dossier 'Prothese'
von Saha Morgenrot

Kapitel
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3.

Obwohl Smilla ihren Labradordarm für chronisch unausgelastet hält, meldet dieser sich jeden Morgen gegen zehn Uhr. Smilla springt aus dem Körbchen und initiiert das tägliche Weckritual, indem sie Daphne heftig wedelnd einen alten Fellhausschuh, den diese vor Jahren in Polen erstanden hat, ins Gesicht klatscht. Daphne grunzt und Smilla freut sich noch mehr.
Auf einmal schlurft Ilona, die gegen zwei Uhr nachts auf dem Sofa eingeschlafen ist, in Daphnes Schlafzimmer. „Bleib liegen, ich geh mit Smilla raus. Etwas frische Luft kann meinem Dumpfschädel nicht schaden.“

Als Ilona und Smilla nach einer halben Stunde zurückkommen, sitzt Daphne im schwarzen Seidenpyjama vor dem Computer und trinkt Tee.
„Na, suchst du immer noch nach dem Krimi, der keiner war?“
„Nein, ich checke nur meine Emails, muss heute noch ein bisschen arbeiten.“
„Am heiligen Sonntag?“ Ilona holt die Postkarte aus ihrer Tasche und dreht sie hin und her. „Dann müssen wir jetzt wohl Abschied nehmen, die mysteriöse Karte und wir. Schade eigentlich.“
„Noch ein Tässchen Tee?“
„Nee, deine braune Brühe kannst du allein trinken.“ Ilona steckt die Postkarte in ihre Tasche und bricht auf. „Ich werd’ sie noch schnell in der Mainzer Strasse einwerfen, dann ist die Sache abgeschlossen.“
Sie greift nach ihrem Mantel. „Schade, ich hab schon gedacht, ich hätte endlich ne gute Story. Seit ich aus Moskau zurück bin, passiert einfach nichts mehr.“
„Du bist immer noch nicht darüber hinweg, dass aus dem Praktikum nicht mehr geworden ist, oder?“ fragt Daphne teilnahmsvoll und sucht aus ihrem Kassettenschrank die russische Band ‚Kino’ heraus. „Das könnte dir etwas helfen. Russische Klänge.“
„Russland und der ganze Trubel, das fehlt mir halt sehr. Das chaotische Leben dort, die goldenen Kuppeln. Der Geruch. Was soll’s, life’s a bitch. Mach’s gut, Daphne.“ Ilona macht sich auf den Weg.

In der Mainzer Strasse zehn sucht Ilona sich zwei der beschrifteten Klingeln aus und drückt, kurz darauf geht der Türsummer. Sie betritt das Treppenhaus. Keine Briefkästen. Sie geht die Treppe hinauf in den ersten Stock. An der Tür auf der rechten Seite ein Aufkleber mit „Zuckmann“ über einer Klappe.
Als sie gerade die Karte durch den Schlitz wirft, klingelt ihr Handy.
Daphne.
Ilona schleicht eine halbe Treppe runter, bleibt stehen und flüstert: „Ach, die Russen singen immer noch... Aber was gibt’s?“
„Ich hab’ noch nachrecherchiert, auf der Seite von RTL kommt ein Bericht über unser Finchen,“ sagt Daphne. „Die Zuckmann betreut nicht nur kleine Mädchen, sondern auch Frauen im Knast.“
„Wie? Frauen im Knast? Dann ist Vera vermutlich tatsächlich im Knast.“
„Vielleicht ist die Zuckmann ja dann doch nicht so harmlos wie wir gedacht haben. Lausch’ doch mal an der Tür.“
„Wieso denn weniger harmlos dadurch? Das ist doch sozial. Aber wie du willst: Der große Lauschangriff auf Josephine Z.“ sagt Ilona und lacht halblaut auf. „Ich werde mal durch den Türschlitz gucken, da hab’ ich grad die Postkarte durchgeworfen.“
Bevor sie sich umwenden kann, verspürt sie einen Lufthauch und einen dumpfen Schlag auf ihren Kopf. Das Licht verschwimmt vor ihren Augen zu einem Wirbel grellweißer Arabesken, bis alles um sie herum dunkel wird.
Daphne meint, Ilona kurz aufschreien zu hören, danach ein Scheppern, ein Schleifgeräusch und das Schlagen einer Tür. Dann ist alles still.
„Hallo, hallo! Lass den Scheiß!“ ruft Daphne. Keine Antwort. Als sie gerade auflegen will, hört sie Schritte, dann wird die Verbindung beendet.

„Verdammt!“ Daphne springt auf, reißt sich den Pyjama vom Leib, schlüpft hastig in eine graue Hose und einen grauen Rolli, zieht sich schwarze Sportschuhe und die schwarze Lederjacke an, schnappt sich ihre Tasche und Sonnenbrille und eilt mit Smilla zum Auto. Die Hündin springt routiniert auf den Beifahrersitz und lässt sich von Daphne anschnallen. Im Sommer darf sie nur mit Taucherbrille mitfahren, damit sie keine Bindehautentzündung kriegt, weil Daphne dann immer mit offenen Verdeck fährt. Für die nächste Sommersaison würde sie Smilla eine richtig gute Brille schenken, eine, wie sie Lawinensuchhunde tragen, damit sie nicht schneeblind werden.

Zur nächsten Polizeidienststelle brauchen sie keine zehn Minuten.
Der diensthabende Polizist liest gerade den Express und rührt in einer Kaffeetasse, als Daphne polternd hereinkommt. Sie sieht ihm an, dass seine sonntägliche Ruhe gestört scheint.
„Tschuldigung, aber meiner Freundin ist was zugestoßen.“
„So, was denn?“ fragt er langsam, faltet die Zeitung zusammen und legt sie noch langsamer auf den Tisch, während er sich ausmalt, welche Unterwäsche die soeben hereingeschneite Tussi trägt. Er tippt auf schwarz, passend zu dem schwarzen Pagenkopf. (Womit er nicht Unrecht hat.)
„Sie ist zusammengeschlagen worden und dann wurde sie weggeschleift, ich hab sie schreien gehört!“ sagt Daphne atemlos.
„Jetzt mal der Reihe nach. Und langsamer, wenn ich bitten darf.“ Dabei stellt er sich vor, wie Daphne ohne Unterwäsche aussieht.
„Also: meine Freundin Ilona ist vermutlich zusammengeschlagen worden. Sie müssen schnell mitkommen.“ Daphne dreht sich nervös eine Kippe. Der Beamte deutet stumm auf das Schild, welches eine durchgestrichene Zigarette zeigt. Dann fragt er: „Wo soll das sein?“
„In der Mainzer Strasse.“
„Und warum haben Sie dann nicht die Kollegen in der Südstadt informiert?“ Er überlegte, ob sie beim Sex wohl genauso temperamentvoll war.
„Weil, weil ich gar nicht dort war. Ich hab alles über’s Handy mitgekriegt, da war ich noch zuhause.“ Daphne dreht die Kippe zwischen ihren Fingern.
„Was wollen Sie per Handy mitgekriegt haben? Einen Überfall oder was?“
„Ein Poltern und ein Schleifgeräusch, Ilona hat geschrieen, dann hab’ ich nichts mehr gehört und dann wurde das Handy ausgemacht. Wahrscheinlich von der Person, die Ilona niedergeschlagen hat.“
„Also hören Sie mal, junge Dame. Ihre Geschichte klingt höchst unglaubwürdig. Meinen Sie, ich schicke einen unserer Leute raus, nur damit der feststellt, dass Ihrer Freundin das Handy runtergefallen ist und jetzt einen Defekt hat. Das beste wird sein, Sie gehen jetzt nach Hause und warten ab, bis Ihre Freundin sich meldet. Schönen Sonntag noch.“ Der Beamte nimmt die Zeitung wieder auf und liest weiter.

„Das beste wird sein, Sie gehen jetzt nach Hause und warten ab,“ wiederholt Daphne wütend, „der spinnt doch, der Sack. Wenn Ilona etwas zugestoßen ist...“
Sie biegt vom Ubierring aus in die Mainzer Strasse ein, dann parkt sie auf der anderen Straßenseite der Nummer zehn und beobachtet das Haus. Ihr Blick schweift zum ersten Stock. Die Vorhänge sind zugezogen.
Auf der Strasse ist nicht viel los. Ein alter Mann läuft auf dem Gehweg in Richtung Ring, ein Mädchen fährt Kickboard, ein schwarzer Mercedes hält auf der anderen Strassenseite und ein Mann Mitte Dreißig schiebt einen Kinderwagen vorbei. Ein typisches Phänomen im Belgischen Viertel und in der Südstadt, denkt sie, Kinderwagen schiebende Männer. Moderne und aufgeklärte Väter, die ihre Verantwortung ernst nehmen. Sie schreckt aus ihren Gedanken auf – haben da nicht eben zwei Männer das Haus betreten, die, die gerade aus dem schwarzen Mercedes gestiegen sind? Daphne schreibt die Autonummer auf und verlässt mit Smilla ihr Auto.

„Ööehmmmhhhmmm, hmmmmmpfff.“ Ilona gelingt es, die Augen einen spaltbreit zu öffnen. Ein abgedunkelter Raum. Einzelne Sonnenstrahlen wagen den Weg durch die Vorhänge. Ilona will sich bewegen, aber Arme und Beine sind mit Klebeband gefesselt. Ebenso ihr Mund. Die Zimmertür ist angelehnt. Ilona hört gedämpfte Stimmen.
„Ich habe alles nach Plan erledigt. Gebt mir jetzt das Geld!“
hört sie eine hysterische Frauenstimme sagen.
„Schätzchen, glaubst du nicht, ohne Ware Geld.“ Der Akzent des Mannes versetzt Ilona in Alarm: ohne Zweifel ein russisch gerolltes „R“.
„Shto ana skazala?” Ilona hört eine zweite Stimme. „Dengi!“
Geld, klar worum sollte es auch sonst gehen? fragt sich Ilona. Das weitere Gespräch kann sie nicht mehr verfolgen, weil die Stimmen leiser werden. Ich müsste mich zur Tür robben, denkt sie und beginnt damit, sich mühsam über das breite Ehebett zu rollen. Rabong.
„MMMMMhhhMMM“, kann Ilona gerade noch wimmern, da wird die Tür ganz aufgestoßen.
Ein Gorilla mit feistem Stiernacken steht über ihr und reißt mit einem schmerzhaften Ruck das Klebeband von ihren Lippen. „Aaaaauuuu!“ brüllt sie unter Tränen.
„Bljad! Ty moltschi! Schto za Devuschka!“ brüllt der Gorilla.
„Bljad, ne vaschna!“ eine zweite Gestalt kommt in das Zimmer. Feingliedriger als sein Kumpan, im Seidenblouson. „Werrr ist diese Mädchen?“ fragt der Feingliedrige. Eine schlanke, mittelgroße Frau betritt das Zimmer.
„So was? Korova!- Kuh!“ brüllt der Gorilla und schlägt die Frau in die Magengegend. Die sackt in sich zusammen. „Sie hat vor meiner Tür herumgelungert. Ich glaube, sie weiß was. Sie hatte die Postkarte bei sich.“
„Du Schlampe, Bljad. Warrrum chast du sie nicht forrtgeschickt einfach?“ fragt der Feingliedrige und nickt seinem feisten Kumpel zu, dessen Faust gleich noch einmal auf die Körpermitte der Frau eindrischt.
Dann wendet er sich Ilona zu. „Izvinite djevuschka. Vy mnje nravitjes...no, eto zhisn. That’s life.“
„Ne nada. Bitte nicht!“ Haucht Ilona und versucht einen mädchenhaften Augenaufschlag. „Du gefällst mir auch!“ haucht sie lasziv. „Ona govorit po-russki!”
“Was, sie spricht russisch?” Auch die Frau erschrickt. „Tut was!“
„Erst Arbeit, dann Vergniegen!“ sinniert der Feingliedrige. „Mit diese Miststück darf Igor sich später amisieren. Gute Fleisch!“ grinst er zynisch, während sein Blick lüstern über Ilonas wohlgeformten Körper schweift. Etwas Speichel füllt seinen linken Mundwinkel.
„Gibt Klebeband!“ brüllt er die Frau schließlich an. Die gehorcht und wieder wird Ilona geknebelt.
„Warum lasst ihr sie leben?“
„Vielleicht gute Geldanlage in Kaukasus, blonde Frau – viel Kunde, viel Dollar.“

„Darf ich? Danke!“ sagt Daphne und schlüpft durch die Tür, die der junge Mann gerade zufallen lassen will. Endlich. Noch länger hätte Smilla nicht mehr am gegenüber der Tür stehenden Baum schnuppern können.
„Wo ist Ilona? Such!“ flüstert sie Smilla zu und sieht sich im Treppenhaus um. Plötzlich hört sie, wie im ersten Stock eine Tür geöffnet wird. Wohin? Sie eilt die Kellertreppe hinunter und gelangt in einen langen Flur mit Holzverschlägen rechts und links. Hastig versucht sie, eine der Türen zu öffnen. An den meisten hängen Vorhängeschlösser. Erst die dritte Tür auf der rechten Seite ist offen. Schnell schlüpfen Smilla und sie hinein, denn sie meint, die Schritte mehrerer Leute in den Keller kommen zu hören.
Im dämmrigen Licht erkennt sie eine Kommode, mehrere Regale und Schränke – und einen umgedrehten Tisch. Sie macht ihr das Halsband fest, damit es nicht mit den Metallteilen auf dem Betonboden Geräusche verursacht, die sie verraten könnten.
Sie wagt einen Blick seitlich vorbei durch die Holzbretter und sieht die beiden Männer wieder, sie haben eine Frau dabei, die Daphne noch nie gesehen hat.

Smilla schnauft durch die lange Schnauze. Daphne versucht, sie durch Streicheln ruhig zu halten.
Die Leute wenden sich in ihre Richtung und kommen näher. Die Frau hält sich auf der rechten Seite, sie scheint tatsächlich zu dem Keller zu gehen, in dem Daphne und Smilla sich verstecken. Daphne hält den Atem an und hofft, dass sich ihre Anspannung nicht auf Smilla überträgt. In so eine Situation hat sie die Hündin noch nie gebracht, weiß also nicht, wie Smilla reagieren könnte. Doch die Leute gehen zum Nachbarkeller, der mit Umzugskartons voll gestapelt ist. Daphne atmet leise aus und beruhigt sich wieder. Die Frau schließt das Vorhängeschloss auf.
„Schnellerr, Schlampe du alte!“ sagt ein grobschlächtiger Mann in einem östlichen Akzent. „Wo sind Sachen?“
Die Frau geht zu einem der Umzugskartons und holt einige Plastiktüten heraus. Der andere, schlankere Mann schaut sorgfältig in die erste Tüte und sagt: „Du dumme Frau. Andere Frau damit reingezogen, große Quickscheiße.“ Er holt einen Becher aus der Tüte. Als er sie durchgesehen hat, reicht er sie dem Grobschlächtigen.

Oh Gott, die andere Frau ist sicher Ilona, dann muss diese Frau hier Josephine Zuckmann sein, die tatsächlich in irgendwelche krummen Geschäfte mit irgendwelchen Osteuropäern verwickelt ist. Wahrscheinlich die Russenmafia. Und Ilona, die Gute, steckt mitten drin im Sumpf der Kriminalität. Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Ilona, die einzige, die Smilla ein Geschenk mitbringt, wenn sie zu ihr zu Besuch kommt. Daphne wird flau im Bereich des Sola Plexus.

Sie sieht, wie der Schlanke aus einer Tüte eine Art Medaillon holt und gegen die Funzel im Holzverschlag hält. Dann zieht er einen fünfarmigen Leuchter heraus. Als er fertig mit seiner Tütenkontrolle ist, reißt er die Zuckmann an den Haaren zu sich her und sagt leise zischend: „Fehlt Wichtigstes, was unsere Kunde wünscht. Wo ist es? Ich will es chaben.“
Der andere schlägt der Frau in die Seite, sie schreit leise auf.
Daphne bemerkt, dass Smillas Körper aufgeregt zuckt.
„Los, sage uns!“ sagt der Schlanke und hält Josephine Zuckmann drohend die Hand vor’s Gesicht. „Sonst deine Visage ist kaputt, also, wo ist er?“
„Petrus ist bei Peter...“ flüstert diese kryptisch. „Aber was ist mit der fremden Frau?“
„Das unsere Sorge später.“
Ohne abzuschließen, verlassen die drei den Keller.

Daphne hört die Haustür klappen. Wie viel Zeit ihr wohl bleibt? Wahrscheinlich geht es Ilona nicht gut. Aber vermutlich lebt sie noch.
Eilig sucht sie mit verschwitzten Händen im Keller ein Werkzeug, mit dem sie die Tür öffnen könnte. Ilona hat doch am Handy von einem Briefkastenschlitz gesprochen.
Im Schrank ist nichts außer Gerümpel, doch darauf steht eine Kiste. Darin findet sie mehrere Kleiderbügel, zwei davon aus Draht. Sie schnappt sich einen davon. „Damit müsste es gehen,“ murmelt sie vor sich hin.

Niemand begegnet ihr, als sie in den ersten Stock läuft. „Los Smilla, wo ist Ilona?“
Zielstrebend bleibt Smilla vor einer Tür stehen, die mit ‚Zuckmann’ beschriftet ist und legt sich flach auf den Boden.
„Brav,“ lobt Daphne leise und versucht, den Drahtbügel auseinander zu drehen. Und eine Schlinge zu formen. Den Trick kennt sie vom Schlüsseldienst, der ihr einmal weit nach Mitternacht aus der Patsche geholfen hat – gegen saftige Rechnung – versteht sich. Damals hatte sie nur geflucht, als sie erkannte, wie einfach so was zu machen ist. Jetzt aber ist sie froh über ihre damalige Schusseligkeit.
Sie angelt durch den Briefschlitz nach der Türklinke und kann nach einigen Versuchen die Klinke runterziehen.

Smilla drückt mit der Schnauze die Tür auf und rennt ins Schlafzimmer.
Auf einem großen Ehebett liegt Ilona gefesselt, der Mund ist mit einem Klebeband zum Schweigen verurteilt, der Rest des Gesichtes ist tränenüberströmt. Smilla läuft wedelnd um das Bett herum.
Daphne reißt Ilona das Klebeband vom Mund, einige Hautpartikel bleiben daran kleben.
Ilona reißt ihrerseits sofort die blutigen Lippen auf und schnauzt Daphne an: „Sag mal, spinnst du? Das haben die Russen vorhin auch mit mir gemacht. Das tut sauweh.“
„Wenn du weiter so rummotzt, kleb ich dir den Mund wieder zu... Im Sado-Maso-Club könntest du mit der Fesselnummer viel Geld verdienen!“ versucht Daphne zu scherzen.
„Hör bloss auf,“ sagt Ilona mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Sowas haben mir die Schätzchen von der Russenmafia auch schon versprochen. Wo kommst du eigentlich her?“
„Aus dem Keller. Die haben die Zuckmann ja auch ganz schön zugerichtet.“
„Was, du warst im Keller? Bist du wahnsinnig?“ Ilona sieht Daphne fassungslos an.
„Meinst du es geht um den Plunder, den die Zuckmann in ihrem Keller hatte?“
„Was für Plunder?“ will Ilona wissen.
„Ich konnte es nicht genau sehen. War zu dunkel. Aber da war so ein Becher und irgendein Kerzenständer. Und ein Medaillon. Sah ein bisschen aus wie aus dem Museum. Die Russen waren zumindest ganz begeistert,“ erzählt Daphne.
„Hast du denn was mitbekommen?“
„Nur, dass die Zuckmann Geld haben wollte.“
„Wir sollten sehen, dass wir schnellsten hier aus der Wohnung heraus sind. Bevor deine Schätzchen wieder kommen,“ drängt Daphne. „Und dann gehen wir auf die Wache.“
„Du willst allen Ernstes die Bullen da mit reinziehen? Wir wissen doch immer noch nicht, worum es wirklich geht,“ wendet Ilona ein.
„Außerdem muss ich pissen.“
Daphne schluckt die bittere Bemerkung, die ihr auf der Zunge liegt, herunter. Klar, Ilona hat in den letzten Stunden einiges mitgemacht.

Während Ilona im Bad verschwindet, inspiziert Daphne die Wohnung. Die Küche ist sauber und aufgeräumt. Im Wohnzimmer ein halbausgeräumtes Bücherregal, davor zwei volle Umzugskisten. Josefine scheint umzuziehen.
Auf dem Schreibtisch ein Rechner. Aus alter Gewohnheit fährt Daphne ihn hoch, während sie Ilona ein „Beeil dich!“ zubrüllt.
Bitte geben Sie Ihr Kennwort ein. Daphne hatte es geahnt. OK. So eine graue Maus wie die Zuckmann hat bestimmt keine Phantasie. „Josefine“ – Das von Ihnen angegebene Passwort ist falsch. Bitte versuchen sie es noch einmal.
„Zuckmann“ – Das von Ihnen angegebene Passwort ist falsch...
Aha: „Vera“ – Das von ihnen angegebene Passwort.... Daphne grinst. Wohl doch nicht so doof die Zuckmann. Im Bad kann sie die Klospülung und Wasserhahn wahrnehmen. Ilona kommt raus mit klatschnassen Haaren. Anscheinend hat sie den Kopf unter den Wasserkran gehalten. „Wo hat die Zuckmann bloß ihren Fön?“ will sie wissen.
„Mensch, du sollst dich lieber beeilen, statt dir die Haare zu fönen!“ fährt Daphne sie an.
„Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich so vor die Tür, geschweige denn zur Polizei gehe! Guck mal wie ich aussehe,“ protestiert Ilona und verzieht das rotverquollene Gesicht. „Bäh und ich stink wie’n Schwein.“ Insgeheim denkt sie dabei an den jungen Polizisten aus der Südstadt-Wache, der im Sommer auf Roller-Blades Streife schiebt. Wenn der sie doch nur gerettet hätte! Ilona reißt sich das T-Shirt vom Leib und verschwindet in Richtung Zuckmannschen Kleiderschrank.
„Petrus“ – Das von Ihnen angegebene Passwort ist falsch.
Daphne ist allmählich genervt, da hört sie Ilonas Stimme: „Hej – komm her und schau dir das mal an!

Daphne läuft ins Schlafzimmer. Ilona kniet vor dem aufgerissenen Kleiderschrank. Ihren gut bestückten Oberkörper ziert ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Liebe ist – sich zum Fressen gern zu haben!“ Wohl aus dem Fundus der Josefine Zuckmann, kombiniert Daphne. Dann fällt ihr Blick auf zahlreiche Postkarten, die in einem mit rosa Samt bespannten Kästchen stecken und gerade von Ilona begutachtet werden.

„Hör dir das an:“ sagt Ilona. „Mein liebes Finchen! Vielen Dank für Deine vielen lieben Worte. Du weißt gar nicht, was mir Deine Zuneigung bedeutet. Seit ich hier bin, bist du mein einziger Lichtblick. Ich fiebere unserem nächsten Treffen mit Ungeduld entgegen.“
Jetzt stöbert auch Daphne in den Karten und liest:
„Meine liebe Fine. Immer noch muss ich an Deinen zärtlichen Kuss denken. Wie gerne würde ich nach meiner Entlassung ein neues Leben mit Dir führen. Aber Du ist eine verheiratete Frau. So bleiben mir nur meine Träume. In Liebe, Vera.
„Schau mal, was hier steht: P.S.: Mein Onkel Vladimir ist zur Zeit auf Deutschland–Besuch und würde dich gern kennen lernen. Die Familie ist Dir so dankbar für deine Fürsorge.....“
„Also doch!“ Daphne schiebt ihre dunkle Brille zurecht. „Eine zarte Liebe hinter Gittern. Sieh zu, dass du fertig wirst, wir müssen los. Wenn ich nur den Rechner noch schnell hochfahren könnte..“

Ilona folgt der Freundin ins Arbeitszimmer. – Das von Ihnen angegebene Passwort...
„Vielleicht braucht man gar keins?“ fragt Ilona harmlos.
„Mensch, wie naiv bist du eigentlich! So doof ist doch keiner.“ Trotzdem klickt Daphne auf OK. Und tatsächlich – „Die Zuckmann ist doch blöder als die Ordnungshüter erlauben. Ich geh schnell die Textdateien durch.“
„Lass gut sein, Daphne! Ich glaub ich hab’s!“ triumphiert Ilona, indem sie mit einem Bildbändchen herumwedelt. „Wie war das: Kerzenständer, Kelche? Mir scheint die hochgeehrte Sozialtante hat den Domschatz geklaut. Erinnerst du dich noch an die Express-Schlagzeile von Weihnachten 2000: Meissner sauer: Wer hat aus meinem Becherchen getrunken?“
„Ne, wann soll das gewesen sein?“
„Weihnachten 2000. Und die Postkarte ist von Januar 2001.“ Ilona steckt das Bändchen ein.
„Na ja, in meinen Computerzeitschriften steht so was nicht. Jetzt aber los.“
„Sollen wir nicht noch ein bisschen rumstöbern, eine so gute Gelegenheit finden wir nicht so schnell wieder.“
„Mich würde höchstens noch interessieren, wer der Typ auf dem Foto ist?“ sagt Daphne. Und jetzt fällt auch Ilonas Blick auf das gerahmte Bild, welches auf der Kommode steht, mit einem Trauerflor versehen.
„Na, wenn das mal nicht Herr Zuckmann ist. Gott hab ihn selig.“ Ilona bekreuzigt sich verstohlen, dann rennen die Frauen die Treppe hinab und verlassen das Haus.

Erst in Daphnes Auto kommt Ilona langsam zur Ruhe. Daphne startet das Auto und fährt vorsichtig in Richtung Rolandstrasse.
„Wo fahren wir eigentlich hin, zur Süd-Wache?“ fragt Ilona.
„Das wird wohl das Beste sein.“
„Verdammt, meine nassen Haare. Wenn ich mich da mal nicht erkälte.. Außerdem seh ich total beschissen aus,“ sagt Ilona und zieht den Innenspiegel in ihre Richtung. „Muss mich erst schminken. Fahr doch schnell bei mir vorbei.“
„Spinnst du eigentlich? Wenn es stimmt, was du vermutest, sind wir grad dem geklauten Domschatz auf der Spur und du willst dich schminken? Kommt gar nicht in Frage. Für Erfolge muss man Opfer bringen.“
„Aber deshalb muss man doch nicht Scheiße aussehen,“ mault Ilona.
„Dann schau in meinen Rucksack, der liegt auf dem Rücksitz. Da sind Schminksachen drin. Und dreh den Spiegel sofort wieder richtig hin.“
Ilona zieht den Rucksack unter Smilla hervor, die ausnahmsweise auf dem Rücksitz liegen muss und leicht beleidigt wirkt.
„Haben die eigentlich irgendwas gesagt, wo sie hin wollen?“ fragt Ilona, während sie sich die Nase pudert.
„Ich hab was gehört von ‚Petrus ist bei Peter’, aber ich hab keine Ahnung, was das soll.“
„Ich leg mal Musik ein, dann lässt es sich besser denken,“ meint Ilona und kramt ohne Nachfrage in Daphnes grüngemustertem Kassettenkoffer herum. „Aha, hier haben wir’s doch.“
Sekunden später dröhnt „Mr losse dr Dom in Kölle“ aus dem Autoradio und Daphne ärgert sich, dass sie die Kassette nicht längst entsorgt hat.
Als sie an der Bonner Strasse halten muss, zieht Ilona die Lippen nach. Dann legt sie den Lippenstift zurück in die Tasche und sagt bestimmt: „Auf jeden Fall hat es etwas mit dem Dom zu tun, da bin ich mir sicher.“
„Was nicht vielleicht damit zusammenhängt, dass du zuviel kölsche Musik hörst?“
„Ne, wieso? Liedgut bildet. Aber jetzt mal im Ernst: Die Zuckmann ist in der Domgemeinde engagiert, du hast im Keller wahrscheinlich Teile des Domschatzes gesehen, Petrus ist ja nicht gerade ein normaler Vorname...“
„In Holland schon,“ wirft Daphne ein.
„Das bringt uns jetzt aber nicht weiter. Petrus ist bei Peter. Was könnte das bedeuten?“ Ilona schaut ins Register des Bildbandes. „Petrus, Petrus... Hier haben wir es doch: Stab des Petrus, wertvollstes Exponat des Domschatzes aus dem 5. Jahrhundert nach Christus. Sie hat den Petrusstab geklaut.“
„Wenn Petrus der Stab ist, wer ist dann Peter? Peter Tschaikowsky? - Verdammt noch mal, wie fährt der denn?“ Daphne muss abrupt stoppen, wodurch sich Ilona mit der Wimperntusche einen breiten Klecks auf die Wange schmiert. „Pass doch auf!“ motzt sie. „Wenn das jetzt ins Auge gegangen wär, hätte das ganz schön wehgetan.“
„Was kann ich denn dafür, wenn der Depp vor mir so einen Mist zusammenfährt.“
„Zurück zu unserem Peter,“ sagt Ilona. „Villeicht ist Peter Millowitsch gemeint?“
„Also Ilona, was soll der denn mit dem Petrusstab? In sein neuestes Stück einbauen oder was?“
„Ne, braucht er nicht, hat doch selber einen Stab in der Hose. Das kann’s nicht sein.“
„Bei der Zuckmann wundert mich gar nix mehr.“ Sie biegt in die Strasse zur Polizeiwache ein. „Was gibt’s denn noch mit Peter? Ziegenpeter, Peterspils...“
„Peterspils gibt’s nicht. Nur Peterskölsch.“
„Und Pittermännchen!“ sagt Daphne stur.
„Das ist es, der Dicke Pitter, das ist doch auch ein Peter.“
„Dicker Pitter?“ wiederholt Daphne fragend.
„Man merkt, dass du nicht aus Köln kommst. Das ist die Riesenglocke vom Dom,“ sagt Ilona. „Aber ich frage mich, was die da vor haben. Da sind an sonem Sonntag wie heute Tausende von Touristen unterwegs. „
“Machen wir halt ne Spritztour zum Dom. Ich fahr gleich hin und du kannst per Handy die Polizei informieren. Das spart Zeit. Und dreh mir eine.“ Daphne drückt Ilona den Tabak in die Hand.
„Zuerst ruf ich ein Kamerateam und dann die Bullen, Job bleibt Job. Da wird sich mein Chef in den Arsch beissen...“
„Hauptsache es passiert auch was, sonst bist du gearscht.“
„Ok, ich informier die Bullen und was die dann daraus machen, ist ihre Sache.“

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