DESIGN ODER NICHTSEIN
von Jürgen Karl Otto Bartsch (bartsch)

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Barock aus (Boden-)Seesicht

DESIGN ODER NICHTSEIN
Barock aus Bodenseesicht
von
Jürgen Karl Otto Bartsch


Hinweis:
Originaltext mit vielen Bildern hier …
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Wie man weiß, leben wir am Bodensee mitten im Himmelreich des Barock. Aber was bedeutet das eigentlich, Barock? Die Bezeichnung ist ursprünglich ein Schmähwort, abgeleitet von barocco, was auf portugiesisch eine unregelmäßig geformte Perle bezeichnet, die infolgedessen eigentlich wertlos ist. Noch Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnet Barock alles, was überladen und damit geschmacklos erschien. Die heutige, durchaus positive Bedeutung des Begriffs entstand erst Mitte des 19. Jahrhunderts.

Na gut. Aber was ist eigentlich Barock? Was steckt hinter dieser Stilrichtung, die zwei Jahrhunderte lang alle Künste geprägt und miteinander vereinigt hat? Und warum haben gerade wir soviel davon?
Die von Martin Luther ausgelöste Reformation (des Glaubens) machte Schluss mit dem Mittelalter. Und sie trieb viele, viele Schäflein dazu, sich aus der einen Herde zu lösen, um sich auf viele, viele kleinere Herden zu verteilen. Das wiederum mündete in eine Existenz bedrohende Krise für den bislang einzigen Hirten, dessen zuvor erfolgreiche Methoden der Bindungsarbeit zunehmend versagten.

Hintergründe oder: Was zuerst passierte
Angesichts dieser misslichen Lage kamen die katholischen Kirchenherren von 1545 bis 1563 zum Tridentinischen (Trienter) Konzil zusammen und dort, nach offenkundig reiflicher Überlegung, zum einzig möglichen Schluss: „Es braucht ein neues Marketing.“
Das strategische Konzept stand ziemlich bald fest. Die Präsentation der kirchlichen Lehre werde – und müsse – künftig auf modernisierte Methoden zugreifen. Anders formuliert: Ganz im Stil des modernen Marketing sollte letztlich nicht das zentrale Angebot verändert werden – schon, um sich deutlich von jedem der neuen Wettbewerber abzugrenzen und natürlich, um die Kernzielgruppe nicht zu verprellen –, wohl aber dessen Verpackung und Erscheinungsbild.
Die Beschlüsse des Konzils gab Papst Pius IV. 1564 der Öffentlichkeit bekannt. Damit läutete er die Gegenreformation ein, und damit wiederum ein Zeitalter, das vom 16. Jahrhundert bis weit ins 18. andauerte. Das Leitmotiv dieser gegenreformatorischen Epoche lautete: „Im Sichtbaren das Unsichtbare verehren“.
Das war der Anfang des Barock. Denn mehr oder minder flugs schlossen sich daraufhin alle Künste – Architektur, Bildhauerei, Malerei und letztlich auch Musik und Schriftstellerei – unter einem einzigen Ziel zusammen: Gesamtkunstwerke zu schaffen, die diesem einen Leitmotiv dienten. Für die Gestaltung der Welt galt fortan die Symmetrie des Ganzen als Ideal und die Ellipse als Grundform. Immer und überall.

Erst einmal Platz geschaffen
In Italien setzte der Architekt Vignola ein erstes Zeichen mit der Kirche Il Gesù in Rom (Bauzeit 1568 bis 1576), dessen Raumprinzip zum Vorbild der Barockkirche schlechthin wurde. Il Gesù hat eine zentrale Kuppel, ein ziemlich langes Haupt- und ein vergleichsweise kurzes Querschiff sowie wunderhübsche Kapellennischen an den Seiten.
Wir hingegen brauchten etwas länger. Wir beschäftigten uns in diversen Scharmützeln zunächst mit den Kernfragen des Glaubens anstatt mit dessen Repräsentation. Und dann schufen wir erst einmal hinreichenden Platz. Unsere Methode war ebenso verständlich wie effizient:
Wir hauten, im Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648), einfach alles kaputt, was bis dahin gebaut worden war, und zwar in aller Gründlichkeit. Das erwies sich im Nachhinein als ziemlich nützlich für die barocke Ideenwelt. Denn weil jetzt sowieso alles kaputt war, konnten wir uns und der Welt unseren ganz eigenen Barock machen.

Unser Beitrag oder:
Nichts ist, was es zu sein scheint
Relativ kurzfristig fanden wir dabei heraus: Nichts braucht zu sein, was es eigentlich zu sein scheint. Marmorsäulen bestanden künftig aus Sandstein, der mit Marmorstuck überzogen war, die Architektur setzte sich in perspektivischen Malereien bis in den Himmel fort, massive Statuen entstanden aus bemaltem Gips oder gar Holz und so weiter.
Allerdings fingen wir vorsichtig an. Die ersten Barockbauwerke waren zunächst noch sehr italienisch beeinflusst. Ein Beispiel für den frühen Barock bei uns ist die 1695 bis 1701 unter der Leitung des Vorarlberger Baumeisters Christian Thumb erbaute heutige Schlosskirche Friedrichshafen … quasi ein erster Versuch, die katholische Kirche als die bessere zu profilieren. (Sinnigerweise wurde genau diese Schlosskirche Friedrichshafen 1812 evangelisch.)
Die kunstvollen Stuckarbeiten an den Pfeilern und der Decke stammen vom Wessobrunner Meister Johann Schmuzer, der von seinen Söhnen Franz und Josef sowie 16 weiteren Wessobrunnern unterstützt wurde. Schmuzer hatte auch den Einfall, die oberen Fenster größer als ursprünglich geplant anzulegen. Schließlich … wenn man die ganze schöne Stuckarbeit nicht sähe, dann wäre sie ja für die Katz.
Übrigens trug der Stuck ursprünglich auch Bilder (die man heute nicht mehr sehen kann). Die scheinbare – weil hinein gemalte – Öffnung des Daches zum Himmel jedoch kam noch nicht vor. Die Verschmelzung von Architektur und Scheinarchitektur durch Malerei war halt noch Zukunft.

Der Sohn des Bäckers
Allerdings war sie keine allzu ferne Zukunft. Denn schon im Jahre 1715 begann der Sohn eines Pfullendorfer Bäckers mit dem Bau des Glanzstücks der hiesigen Barockarchitektur. Der Bäckersohn hieß Sebastian Hyller, er lebte bis 1730, und sein Glanzstück heißt nach dem Petersdom in Rom „Schwäbischer St. Peter“. Es ist ziemlich genau halb so groß wie dieser: 102 Meter lang (gegen 211 beim Petersdom), 26,6 Meter hoch (gegen 47 Meter) und eine Kuppelhöhe von 66,75 Meter (gegen 133 Meter). Platz hat es für ungefähr 12 000 Personen.
Es ist die Basilika in Weingarten (damals noch Altdorf).
Sebastian Hyller war durch überragende Leistung und gesunden Willen zur Macht zum Reichsprälat und Abt von Weingarten aufgestiegen. Mit diesen beiden Eigenschaften prägte er auch den anstehenden Bau, der nicht nur in seinen Abmessungen alles überstieg, was zuvor bei uns entstanden war. Erstmals sprengte er auch die Grenzen zwischen den Künsten Architektur, Bildhauerei und Malerei. Bereits das Deckenfresko der Vorhalle zeigt das jüngste Gericht, „damit der Besucher Forcht vor der Herrlichkeit des Herrn empfände.“
Überhaupt sind die Fresken bemerkenswert. Sie setzen die Architektur perspektivisch ziemlich richtig fort und öffnen das Dach der Basilika scheinbar bis in den Himmel. Geschaffen hat sie der Münchner Cosmas Damian Asam, der zu Beginn seiner Arbeit im Jahre 1718 erst 32 Jahre alt war. Unterstützt wurde er von seinem jüngeren Bruder Egid Quirin, der sich ebenfalls beworben hatte, aber abgelehnt worden war.
Zurück zu Herrn Hyller. Zuallererst einmal entschloss er sich, die gesamte Arbeit in Eigenregie zu planen und zu überwachen. Das führte dazu, dass er das amerikanische Hire and Fire (Heuern und Feuern) in die oberschwäbische Beschäftigungspolitik einführte, insbesondere bei Stars. Immerhin aber war der gigantische Bau bereits nach neun Jahren fertig gestellt und wurde 1724 eingeweiht; eine erste Kirchenbesichtigung war der Bevölkerung schon 1718 erlaubt.
Zweitens sollte das Werk wirklich beeindruckend werden; immerhin diente es (und dient es bis heute) der Aufbewahrung der Heiligblutreliquie, die die Gattin Welfs IV., Judith von Flandern, 1094 den Benediktinern in Altdorf vermacht hatte. Insgesamt beteiligten sich über 200 Künstler aus ganz Europa am Bau von Abt Hyllers Glanzstück. Drittens kümmerte den Abt in diesem Zusammenhang nicht im Mindesten, dass dort, wo er die Basilika aufzubauen gedachte, bereits eine Kirche stand. Die ließ er kurzerhand abreißen.
Und viertens schließlich verstarb Sebastian Hyller schon 1730. Das nahm ein bisschen den Schwung aus dem Aufbaubetrieb. Noch 1729 wurde Josef Gabler mit dem Bau der Orgel beauftragt, die so sein sollte wie keine zweite auf der Welt. Der erste Vertrag über den Bau der Orgel wurde freilich erst 1737 geschlossen, und später kamen noch weitere Verträge hinzu. Doch letztlich gelang Josef Gabler in 14jähriger Bauzeit ein Werk, das bis in unsere Zeit einzigartig ist. Erinnernd an die sechs Schöpfungstage besteht die große Orgel aus 66 Registern mit 6 666 Pfeifen, die so in die Empore eingefügt sind, dass sie die Westfenster nicht verdecken und so das Licht von draußen ungehindert einfallen kann.
1765 schließlich wurde die ursprüngliche Stuckmarmorkanzel von Franz Schmuzer abgenommen und durch die heutige Rokokokanzel ersetzt, die der Weingartner Bildhauer Fidelis Sporer zum Spottpreis von 3 000 Gulden anfertigte. Sie entspricht mehr dem erhabenen Raumgefühl in der Basilika. Die ursprüngliche Kanzel wurde nach Bergatreute gebracht und dort in die Wallfahrtskirche St. Philipp und Jacob d. J. eingebaut.

Didacus Ströbele oder:
Der Name ist Programm
Ebenfalls eine Wallfahrtskirche ist die Steinhauser Pfarrkirche St. Peter und Paul. Denn seit dem ausgehenden Mittelalter beherbergt der Wallfahrtsort Steinhausen – ein kleines Dorf nördlich von Aulendorf – das spätgotische Gnadenbild der Schmerzhaften Muttergottes auf der Saul, und so hat die Kirche einen zweiten Namen. Sie heißt Wallfahrtskirche Unserer Lieben Frau.
Für den Neubau dieser Kirche ab 1728 verpflichtete der Schussenrieder Abt Didacus Ströbele eines der größten Genies der barocken Baugeschichte, den Wessobrunner Baumeister Dominicus Zimmermann.
Denn erstens gab der junge Baumeister auf die Frage: „Muss eine Wallfahrtskirche unbedingt einen eckigen Innenraum haben?“ die vollends wahnsinnige Antwort: „Aber nein! Oval muss er sein. Nur so verwirklichen wir die Grundform unserer Zeit, die Ellipse. Außerdem geben wir dem Fluss der Wallfahrer die Führung.“ Dementsprechend beschreitet der Wallfahrer mit seinesgleichen nach wie vor den Innenraum auf der einen Seite langsam und im Bogen nach vorn – und auf der anderen Seite wieder raus, ohne den Nachrückenden in die Quere zu kommen. Sage keiner, Barock sei nicht auch praktisch. Und zweitens gab Baumeister Zimmermann sich mit diesem einen Geniestreich längst noch nicht zufrieden. Den großen Plan in seiner Gänze beschrieb der Schussenrieder Chronist, Pater Kellermeister Rodenbach, so:
„Es stünde mithin inner drei Jahren ein so prächtige Kürchen auf dem Platz, welche sowohl wegen ihrer künstlichen Oval-Architektur als unvergleichlicher Malerei, wie auch außerordentlich schöner Stukkatur und übrige meisterliche Arbeit von männiglichen bewundert und als eine der herrlichsten im ganzen Revier, dürfte keck sagen, im ganzen Schwabenland, billig gerühmt wird.“
Stimmt. Bis heute gilt Steinhausen als schönste Dorfkirche der Welt.

Weißenau oder:
Nichts ist wie alles
Haben wir übrigens zu Beginn behauptet, Barock gebe es bei uns, weil wir im Dreißigjährigen Krieg ausreichend Platz dafür geschaffen haben? Nun, als steinernen Gegenbeweis für diese Behauptung haben die Prämonstratenser in Weißenau ihre Klosterkirche angelegt, die heutige Pfarrkirche St.Peter und Paul. Zwar hatte Franz Beer 1717 – der kurz zuvor in Weingarten wutschnaubend das Feld räumte – Kirche und Kloster haarklein im Stil des Barock geplant. Dann wurde aber doch der Chor der Kirche so beibehalten, wie er seit 1631 dort stand, und quasi nur barock umbaut. Stilmix, sozusagen, und ein gelungener noch dazu.

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