MIT TRETEN UND TORKELN
von Jürgen Karl Otto Bartsch (bartsch)

Kapitel
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Von Opfermut und menschlicher Grösse

Einmal im Laufe seiner Geschichte gab der Weinbau am Bodensee Gelegenheit, menschliche Größe zu zeigen. Sie bewies sich in der Art und Weise, in der das Heiliggeistspital Konstanz im Jahre 1272 die Haltnau bei Meersburg erwarb.
Nämlich befand sich diese im Besitze des edlen Fräuleins (damals sagte man so, und es stimmte wohl auch) Wendelgard von Halten, wohnhaft zu Meersburg. Die Haltnau galt als ausgezeichnetes Weingut, quantitativ, und zudem galt Meersburger Wein als vergleichsweise trinkbar:
Die Seewein seind unmild und sauer,
Ihr acht kein Bürger oder Bauer
Doch schwebet der Meersburger ob
Den anderen mit seinem Lob.
Samuel Dilbaum: „Weintraktat“ (1584)
Weit weniger ansprechend waren die wesentlichsten Eigenschaften Fräulein Wendelgards. Im Detail verfügte sie a) „über einen Höcker“, b) „über ein Schweinsrüsselein statt eines lieblichen Mundes, mit dem sie aus einem silbernen Troge aß“ und c) über die unerschütterliche Gewissheit, dass sie schließlich ein edles Fräulein sei.
Insbesondere Punkt c) erschien ihren Zeitgenossen als erhebliche Bedrohung. Denn edle Fräuleins pflegen nicht allein auszufahren oder gar zu essen, pardon, zu speisen. Es sollte schon – mindestens – ein Ratsherr im Wagen und bei Tisch zugegen sein. Weil jedoch die damaligen Ratsherren immer wieder – eigentlich täglich – dringende Geschäfte vorschoben, aß und fuhr Fräulein Wendelgard allein.
Um diesen unerträglichen Zustand ein für alle Mal zu beenden, bot das Fräulein die Haltnau auf dem freien Markt an, gegen die Bedingung, ihr täglich einen Ratsherren zum Mitessen zu schicken, der zudem öffentlich mit ihr auszufahren habe, ebenfalls jeden Tag, und zwar jeden ohne Ausnahme. Ihre zunächst angesprochene Heimatgemeinde Meersburg lehnte zutiefst erschrocken ab.
Offenere Ohren, bessere Nerven und größeren Opfermut fand Fräulein von Halten in Konstanz, möglicherweise auch den heftigeren Wunsch, das Weingut Haltnau in Besitz zu nehmen. Das Geschäft wurde beschlossen, und alle waren zufrieden ...vielleicht ausgenommen die jeweils betroffenen Ratsherrn.

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