Guldas Fall
von C.S. Strangelove (csstrangelove)

Kapitel
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1.

Die Sommerhitze hatte die Insel seit achtundzwanzig Tagen buchstäblich ausgetrocknet. Für die großen Hotels der Hauptstadt war Wassermangel kein Thema – von diesen hatte jedes eine Meerwasser-Entsalzungsanlage, damit die Frühbucher, Cluburlauber und erlebnishungrigen Touristen aus Europa auch in der erbarmungslosesten Trockenperiode weiterhin duschen und im azurblauen Pool mit Gegenstromanlage baden konnten. Im Hinterland jedoch verbrannte den Bauern das Gemüse auf den Feldern, das Vieh leckte das letzte Bisschen Brackwasser aus den Gräben am Straßenrand und die Dorfbewohner putzten sich ihre Zähne mit Wein, weil das Wasser aus den Zisternen bald aufgebraucht war. Die ganze Insel lechzte nach Regen. Nur Richard Gulda nicht.

Er blickte um sich. Wenigstens war es hier schattig. Die glasierten Kacheln, die Boden und Wände bedeckten, strahlten sogar ein bisschen Kühle aus, da sie nicht den ganzen Tag der stechenden Sonne ausgesetzt gewesen waren. Wie spät mochte es sein? Wieder hob er das Handgelenk und schob die Manschette seines Hemdes zur Seite, um den Arm sogleich mit einem Seufzer sinken zu lassen. Die teure Audemars war unwiderruflich hinüber, das Uhrglas zertrümmert, die Zeiger stehen geblieben. Doch die fahrige Geste war stärker. Richard Gulda war in seinem ganzen Berufsleben noch nicht ein einziges Mal zu spät gekommen. Seit zwanzig Jahren versah er seine Arbeit in der Firma mit der Präzision und Zuverlässigkeit eines Uhrwerks. Seine Vorgesetzten schätzten seine Pünktlichkeit; Gulda jedoch hatte sie ein Magengeschwür und die Angewohnheit, alle paar Minuten auf die Uhr zu schauen, eingetragen. Ja, er war sehr diszipliniert. Seine Disziplin hatte ihm geholfen, voran zu kommen und in der Firma aufzusteigen. Sie hatte ihm einen verantwortungsvollen Posten eingetragen. Einen Posten, der ihm Einblick gewährte in das schlagende Herz der Firma und ihm gleichzeitig die Verantwortung dafür übertrug, dieses gigantische Herz am Schlagen zu halten. Für Uneingeweihte waren die endlosen grünen Zahlenkolonnen, die auf seinem Computerbildschirm stetig abwärts rannen, kryptische Zeichen; er jedoch konnte sie deuten und darin lesen, so mühelos wie Kinder in einem Bilderbuch. Diese Zahlenkolonnen bedeuteten Aktien- und Devisenkurse, Umrechnungsfaktoren, Gewinne, Investitionen und Verluste. Diese Zahlen bedeuteten Geld; und Geld war das Blut, das durch das Adernetz der Firma rann und von Guldas Büro, dem Herzen aus, bis in die entferntesten Kapillaren dieses Organismus’ gepumpt wurde. Hier wurde es angereichert, dort belebte es, um schließlich wieder zurück zum Herzen gesaugt zu werden und seinen Kreislauf von Neuem zu beginnen.

Guldas Posten war wichtig. Er wusste das. Jeden Tag, wenn er den achtstelligen Zahlencode in den Ziffernblock an seiner Bürotüre tippte, wurde ihm aufs Neue bewusst, wie wichtig er für die Firma war. Sein Computerarbeitsplatz war durch drei Passwörter geschützt, die ein Zufallsgenerator alle zwei Wochen ausspuckte und die alleine ihm, Gulda, zugänglich waren. So war gewährleistet, dass niemand die endlosen Zahlenreihen auf Guldas Bildschirm manipulieren und den endlos schwellenden Strom umleiten konnte. Ein kleiner Bypass hier, ein kleiner Aderlass dort – schon wäre ein diskretes Nummernkonto in Genf oder auf den Cayman Islands übergeflossen. Sein Besitzer hätte den Rest seines Lebens damit verbringen können, die Zinsen zu verprassen; und der riesige, träge Krake, der die Firma war, hätte kaum den Piekser der Nadel gespürt, die seine Adern angezapft hätte.
Guldas Posten war eine Vertrauensstellung. Die Versuchung war groß; und nicht jeder hätte ihr widerstanden. Für Guldas Vorgänger war sie zu groß gewesen. Eines Tages waren Unregelmäßigkeiten in den endlosen, grünen Zahlenkolonnen aufgetaucht; und man hatte Untersuchungen eingeleitet. Sie dauerten nicht lange. Guldas Vorgänger war unvorsichtig gewesen. Die Hinweise auf einen Lebensstil, den er sich von seinem Gehalt allein nicht hätte leisten können, wurden bald zutage gefördert. Von Reisen gingen die Gerüchte; von teuren Uhren und noch teureren Frauen… Er werde die Konsequenzen nicht alleine tragen, drohte er noch an dem Tag, als man ihn feuerte. Er trug sie dann doch alleine – ganz alleine; denn seine Geliebten hatten die Uhren untereinander aufgeteilt und sich aus dem Staub gemacht; an dem Tag, an dem Guldas Vorgänger beschloss, die Konsequenzen zu tragen und sich an einem Deckenbalken seines unbezahlten Hauses erhängte.
Guldas Posten war ihm wie auf den Leib geschneidert; denn Gulda war loyal, pünktlich, zuverlässig und vertrauenswürdig. Auch ohne das schreckliche Schicksal seines Vorgängers zu kennen, hätten Richard Gulda die grünen Zahlenkolonnen und die Aussicht auf ein Leben in Luxus nicht in Versuchung führen können, denn Richard Gulda war zufrieden mit seinem Leben. Er verreiste nie; und Frauen waren ihm unheimlich. Außerdem liebte er seinen Posten und das Gefühl, eine große Verantwortung zu tragen, viel zu sehr, um beides aufs Spiel zu setzen. Mit einem Wort: Richard Gulda war glücklich. Außer vielleicht…

Es gab etwas, das Richard Gulda schmerzte. Respekt hieß das Zauberwort. Als Kind eines Gleisarbeiters hatte Gulda es schon vor seinen Mitschülern schwer gehabt, die nur ihresgleichen respektierten, sprich: Kinder, die genau wie sie schon mit sechzehn teure Armbanduhren und modische Jacken trugen.
Während seines Studiums hatte Gulda hart gearbeitet und sich von seinen Kommilitonen abgegrenzt, die gesellig das Studentenleben genossen, gemeinsam ausgingen und sich mit Mädchen trafen. Er war zuhause geblieben und hatte über seinen Büchern gebrütet; Büchern mit endlosen Zahlenreihen… Er war stets der Jahrgangsbeste – aber respektierten ihn seine Kommilitonen dafür? Sie schüttelten den Kopf über seinen Ehrgeiz, versuchten ihn zum Ausgehen zu bewegen, zogen ihn eine Weile auf und als das nichts fruchtete, wandten sie sich ab und sprachen und lachten hinter seinem Rücken über ihn.
Nachdem er sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, fiel es ihm leicht, eine Arbeit in einer hoch angesehenen Firma zu finden. Hier hatte er fünfzehn Jahre lang Zahlen addiert, Gewinne ausgerechnet, die Rechnungen anderer kontrolliert, ein gewissenhafter Mitarbeiter unter vielen. Niemand, dem besondere Anerkennung zuteil wurde. Bis ihn eines Tages sein Chef beiseite genommen hatte.

„Gulda. Der Junior will Sie sehen. Es ist wichtig – und Ihre große Chance! Also vermasseln Sie’s nicht!“
„Aber – wann will er…“
„Jetzt! Und wenn er jetzt sagt, meint er: sofort!“
„Und… wie komme ich dahin – ich meine: wo ist überhaupt sein Büro?“
„Nehmen Sie den Fahrstuhl, Mensch, und fahren Sie ganz nach oben! Los jetzt! Und… Gulda!!!“
„Bitte?“
„Rücken Sie in Gottes Namen Ihre Krawatte zurecht, Sie Höhlenmensch!“

„Der Junior“ war Carlo Kronzucker jun., Sohn des Firmeninhabers, Leiter der Versicherungsabteilung und damit Guldas höchster Vorgesetzter. Doch Carlo Kronzucker war noch mehr: Er war der uneingeschränkte Herrscher in dem Palast aus Marmor, Stahl und Glas, in dem Gulda seit fünfzehn Jahren gewissenhaft an der Vermehrung des Kronzucker-Vermögens arbeitete. Es gab nur einen Mann, der noch höher stand, und das war Carlo Kronzucker sen., der große Boss. Doch diesen weißhaarigen Giganten der internationalen Finanzwelt hatte Gulda noch nie während der gesamten fünfzehn Jahre zu Gesicht bekommen. Kronzucker sen. fuhr in einem gewaltigen Chrysler mit verspiegelten Scheiben; benutzte einen eigenen Aufzug, der ihn in 5,4 Sekunden mit geschmeidigem Zischen aus der Tiefgarage in sein Büro im sechzehnten Stockwerk beförderte und erteilte seine Anweisungen stets schriftlich und nur an die ihm direkt unterstellten Führungskräfte.
Der Junior hingegen war Gulda bestens bekannt. Kronzucker jun. war ein Mann mit breitem Gesicht, breiten Schultern und ausladenden Bewegungen. Er konnte nur ein paar Jahre jünger als Gulda sein, pflegte aber sein sportliches Erscheinungsbild mit solchem Nachdruck, dass er mit ewiger Jugend gesegnet zu sein schien. Er trug stets marineblaue Blazer aus feinstem italienischen Tuch und war das ganze Jahr über sonnengebräunt. Er pflegte einen jovialen Umgang mit seinen Angestellten, nickte manchen einen kurzen Gruß zu oder klopfte einem anderen auf die Schulter. Meist folgte dann noch eine halblaut geraunte obszöne Bemerkung, begleitet von einem angedeuteten Boxhieb auf die Brust des Mitarbeiters, worauf der solchermaßen Ausgezeichnete und sein oberster Dienstherr in schallendes Gelächter ausbrachen. Gulda hatte den Junior einige Male in der Abteilung gesehen; und einmal hatte er mit ihm zusammen im Fahrstuhl gestanden. Ein Funke des Erkennens war über das breite, gebräunte Gesicht des Juniors gefahren, als ihre Blicke sich begegneten; dann hatte er eine Reihe makelloser, weißer Zähne zu einem freundlichen Lächeln entblößt und Gulda zugenickt. Gulda war wie vom Donner gerührt und war zu keiner Reaktion fähig gewesen.
Und jetzt – Jahre danach – wollte der Junior ausgerechnet ihn, Gulda sprechen? Er war sich keines Fehlers bewusst; und was hatte der Chef mit „großer Chance“ gemeint?
Gulda schwitzte.

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