TV-Leap: Horror-High
von Carsten Maday

Kapitel
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Ich erwachte. Es schrillte. Ich schrie, sprang auf und warf mich in Deckung.
>Charlie greift an<, schrie ich wie irre, ehe ich begriff, dass das Schrillen von dem Telefon stammte, das auf dem Nachttisch stand. Ich atmete erleichtert auf:
>Gott sei Dank. Ich bin nicht mehr in NAM!< Ich hätte weinen können vor Erleichterung. Ich kam aus der Hölle und wo immer ich nun war, es konnte nur besser werden. So dachte ich zumindest.
Ein übellaunisches Schicksal hatte mich dazu verdammt, in immer neue Rollen irgendwelcher billigen B-D Movies zu springen. Warum dies geschah und welchen Zweck ich in meinen Rollen verfüllen sollte, war mir bislang noch nicht bewusst geworden. Vielleicht bestrafte ein rachsüchtiger Gott meinen übermäßigen Konsum an billigen Filmen. Ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass die letzte Rolle, aus der ich gerade gesprungen war, den bisherigen Tiefpunkt in meiner bemitleidenswerten Karriere darstellte. Es war ein Kriegsfilm. Billig, stupide und in der Darstellung des Vietcong zutiefst rassistisch. Andauernd schoss irgendjemand auf mich, dauernd sagte irgendeiner so etwas wie: >Keiner sagt Vietnam, Mann! Man sagt einfach nur „NAM“<. Oder so etwas in der Art. Und ständig wurde geflucht. Je unflätiger desto besser. Und die Frauen! Entweder Huren oder Engel. Furchtbar. Und immer wenn einer mehr als zehn Kommi-Brüder erwischt hatte oder ein Kamerad von einer Granate zerrissen worden war, motzte irgendeiner, dass Krieg die Hölle war. War er auch, besonders wenn man in einem Film mitspielen musste, für den sich sogar Michael Dudikoff geschämt hätte.
Es dauerte einen Moment, die Todesangst abzulegen und zu merken, dass ich in eine neue Rolle gesprungen war. Ich sah ein Zimmer, ein Bett, neben das ich mich hingekauert hatte, Stofftiere und Bücher. Viele Bücher. Ich griff zum Hörer.
>Ja?
>Hallo Liebling. Ich bin´s.<
>Ähm?<
>Deine Mutter, Süße.<
>Ah, Hallo, Mami.<
>Habe ich dich geweckt?<
Ich sah auf die Uhr. Es war neun Uhr morgens. >Nein<, log ich.
>Ich wollte dir nur alles gute für heute abend wünschen.<
Ich war lang genug in dem Geschäft der alternierenden fiktiven Realitäten, dass es mir keine Probleme bereitete, aus meiner Mutter alle nötigen Informationen heraus zu bekommen. Es war überlebenswichtig, zu wissen, in welche Art Rolle man gesprungen war. Hauptrolle, Nebenrolle oder, oh Graus, Komparse. Mein Name war Patricia Miller. Ich war ein Mädchen. War nicht das erste Mal. Ich war achtzehn und heute abend sollte ich auf den Abschlussball meiner Highschool gehen. Oh, Gott. Immer diese Abschlussbälle! Kein Teeny-Film ohne Ball. Andererseits, besser als NAM!
Ich lebte auf einer kleinen Insel, die vor der Ostküste der USA lag. Eine Brücke verband sie mit dem Festland. Meine Mutter war Witwe und zur Zeit geschäftlich in New York. Sehr gut, ich hatte das Haus für mich allein, was darauf schließen ließ, dass meine Rolle vertrauenswürdig und anständig war und kein labiler Pyromane. Ich fertigte meine Mutter ab und legte auf. Ich sah mich im Zimmer um. Die Einrichtung in einem Teeny-Film verriet einiges über den Charakter. Auf dem Nachttisch lag meine Brille. Aha, belesen und Brille. Sehr aufschlussreich! Die Bücher. Französische Gedichtbände und jede Menge Shakespeare! Alles klar! Ich war die brave, schweigsame Intellektuelle mit dem Herz aus Gold! Aus irgendeinem Grund ist der Besitz der gesammelten Werke von Shakespeare in solchen Film das Nonplusultra an Kultiviertheit. Ich sah mich weiter um. Ich war also langweilig! Nichts besonders in dem Zimmer, den Regalen, im Nachttisch..., oh, was haben wir denn hier? Ein Vibrator. Ich atmete erleichtert aus. Immerhin etwas! Ich schaltete ihn an. Er blieb stumm. Die Batterien waren leer. Alle Achtung! Ein gutes Zeichen.
Ich stellte mich vor den Schrank und zog mein Nachthemd aus. Ein nackter Körper verriet so einiges. Ich war klein. Sehr klein. Die einssechzig schaffte ich nur, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte und hüpfte. Aha! Ich hatte schwarze, lange Haare. Mein Gesicht war niedlich. Ich erinnerte mich vielleicht an eine junge Janeane Garofalo. Der Hauch einer Fettschicht bedeckte meinen Körper und mein Busen hing einwenig.
>Alles klar<, sagte ich zur Welt im Allgemeinen. >Die Nebenrolle!< Keine Hauptrolle in einem Teeny-Film hatte ein Gramm zuviel, geschweige denn, einen hängenden Busen. Ich fand mich sehr süß, aber vermutlich reichte es nur zu dem leicht übergewichtigen Kumpeltyp (richtige übergewichtige Leute wurden erst gar nicht besetzt). Nun gut, der belesene Kumpeltyp. Keine allzu anstrengende Rolle. Besser als von Charlie durch den Dschungel gejagt zu werden.
Ich wippte meine linke Brust in der Hand, um meine Körbchengröße zu raten. Ein Geräusch hinter mir ließ mich herum wirbeln. Mein Überlebensinstinkt lief noch immer auf Hochtouren. Ich schrie. Das Gesicht am offenen Fenster ebenfalls. Als wir ausgeschrieen hatten, folgte eine peinliche Stille. Ich zog mir schnell das Nachthemd über.
>Was zur Hölle machst du an meinem Fenster<, fauchte ich das Mädchen an. Es war entzückend. Kastanienbraunes Haar, riesige Augen, furchtsam wie ein Reh und doch neckisch. Ein rundes Gesicht mit Lippen, die voll waren und gerne lachten.
>Aber, Patt, ich komme doch immer an dein Fenster. Schon seit dem Kindergarten.< Ach sie hatte eine reizende Stimme!
>So<, brummte ich. >Vielleicht sollten wir diese Handlungsweise einmal überdenken.<
Nichtsdestotrotz winkte ich das Mädchen herein. Sie war die Hauptrolle. Kein Zweifel. An mein Leben als richtiger Mensch konnte ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich vermutete, dass ich ein Mann gewesen bin. Jedenfalls verspürte ich auch im Körper einer Frau die kernig männliche Homophobie, die mich vor Intimkontakt mit einem Mann zurückschrecken ließ. Der Gedanke an eine heiße, lesbische Affäre turnt mich dagegen irgendwie an. Also, wenn das nicht auf einen Mann hindeutete, dann wusste ich auch nicht.
Sie hieß Chloë und war meine Klassenkameradin und beste Freundin. Wir hatten einen gemeinsamen Freund, der einfallsreicher Weise Jason hieß. Chloë und Jason hatte vor Zeiten eine Affäre gehabt. Aus der Art, in der Chloë von Jason redete, schloss ich, dass die beiden sich sehr liebten. Aber aus abstrusen Gründen war Chloë zur Zeit nicht mit Jason sondern mit Matt, dem rebellischen Schulrowdy, zusammen. Chloë deutete aber an, dass sie Jason vielleicht doch lieber hatte als Matt. Leider war Jason zur Zeit leicht angepisst, dass Chloë etwas mit Matt hatte und hatte sich deshalb mich Bianca, einem seelenlosen Cheerleader eingelassen. Normalerweise hätte mir diese Geschichte Übelkeit bereitet, aber nach meiner Runde in NAM konnte ich so eine seichte Nummer wirklich brauchen. Ich würde also Chloë und Jason wieder zusammenbringen und mir einen netten Abend auf der Party machen.
Vor Dankbarkeit umarmte ich Chloë und wimmelte sie dann ab.
>Warum hast du es so eilig? Hast du noch was vor, Patt?<
>Ach, ich muss noch in die Stadt. Ich brauche ein neues Kleid. Meine alten sind so spieß..., ähm, alt eben.< Ich überlegte. >Außerdem brauche ich noch ein paar neue Batterien.<

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