Bulgakov in Holmgardir
von Rutz Rische

Kapitel
 

2.

Die Zeit der Kirchen ist nach Jahrzehnten wieder zurückgekehrt. Deshalb muß Peter nicht auf die Uhr zu schauen, um den Studenten zu sagen, daß sie Spaten und Schaber weglegen können. Zart bimmeln die kleinen, klingen die etwas größeren in ihren Glockentürmen, die wie meterhohe Wächter in der ganzen Stadt postiert sind.
Suse legt erleichtert den Schaber weg, erhebt sich von ihrem Hocker und stützte die Fäuste in den schmerzenden Rücken. Die Grundpfeiler liegen fast blank auf dem lehmigen Boden.
"Gute Arbeit", lobt Werner, "jetzt können wir die ersten Gehöfte des Dorfes in die Karte eintragen."
"In dem zweiten Haus muß ein Schuhmacher gelebt haben. Ich habe jedenfalls noch nie soviel altes Leder auf einen Haufen gesehen!" stöhnt Nina. Und Abel lacht:
"Ich habe heute nichts ausgegraben außer einer 800 Jahre alten Kakerlake."
"Weiß man eigentlich, wer hier gelebt hat?" fragt Nina.
Professor Simonovitsch hört ihre Frage und kommt herbei: "Ja, das ist sogar sehr gut erforscht. Zwei städtische Adelsfamilien. Wenn ihr wollt, seht in der Chronik nach. Ihr Schicksal ist dort sehr ausführlich geschildert."
Professor Simonovitsch wendet sich an Peter: "Deine Gruppe hat heute die Sensation geliefert." Zufrieden betrachten beide das Holzrohr, das parallel zu den Planken verläuft, welche die einstige Hauptstraße darstellen.
"Wer hätte das gedacht? Abwassersysteme kannten wir schon, bevor diese mongolischen Schlitzaugen über uns hinweggeritten sind." triumphiert Peter.
"Wir können getrost unsere Geschichte umschreiben."
"Später, jetzt gehen wir erstmal essen" unterbricht Werner.
Der kleine Arbeitstrupp setzt sich in Bewegung. Zieht an der Kremlmauer, die hier einen Farbton heller ist als in der Hauptstadt, vorbei.
Ein paar Touristen betrachten kopfschüttelnd die vor Dreck starrenden Studenten. Die Einheimischen dagegen grüßen freundlich und fragen: "Na, heute schon einen Schatz gefunden?"

Tante Sonja, wie alle die resolute Köchin nennen, hält Buchweizengrütze parat. Die deutschen Gäste verziehen das Gesicht. Doch leider haben sie das Geld für feinere Küche längst versoffen.
Nach dem Essen versammeln sich alle in dem baufälligen Klosterhof.
Danilov kommt aus einem Kellergewölbe und blinzelt den anderen entgegen. Seine Augen müssen sich erst an das ungewohnte Sonnenlicht gewöhnen.
"Seht euch das an. Glatte Schädelfraktur. Aber die haben versucht, den Kameraden wieder zusammenzuflicken." Danilov zeigt stolz den Schädel herum, den er soeben gewogen und vermessen hat.
"Hast du eigentlich schon etwas gegessen?" will Abel wissen.
"Bei dieser Arbeit vergeht mir manchmal der Appetit."
Die anderen können Danilov verstehen. Aber warum hat er sich auch in den Kopf gesetzt, über die Wehwechen der vor Jahrhunderten Verstorbenen zu promovieren?
Die meiste Zeit verbringt er alleine im Keller bei schwachem Licht. Die deutschen Studenten haben ihn dort nur ein einziges Mal besucht. Und vor allem die Mädchen hatten sich vor seinem Schädelkabinett gegruselt. Danilov hatte das für seine eigenen Interessen zu nutzen gewußt. Nachdem er die verschreckte Nina getröstet hatte, hatte sie ihm ihrerseits mit ein paar mehr als freundschaftlichen Küssen für die so dargebotene Fürsorge gedankt.
Danilov zieht eine Zigarette aus seiner Schürzentasche.
"Na, Abel, so trübselig?"
Die anderen lachen. Tatsächlich ist Abel seit ein paar Tagen
etwas bedrückt. Was wohl daran liegt, das Jana ein paar Kilometer weiter aufwärts gezogen ist, zur Wikingergrabung, über die sie ihre Diplomarbeit schreiben will.
Und in dem dort aufgeschlagenen Zeltlager hausen nicht nur russische, sondern auch jede Menge gut gebauter schwedischer Studenten, heißt es. Und bisweilen stellt sich Abel vor, wie so ein Recke die dreckigen Füße seiner Jana knetet. Aber auf der anderen Seite ist ja nicht gesagt, dass es noch mehr Männer gibt, die eine solche Vorliebe haben. Abel ist nämlich Fußfetischist. Und vor allem Janas zierliche Füße, die durch die Ausgrabungsarbeiten immer schwarz sind, haben es ihm angetan.
Jana ist es mehr als peinlich, dass er immer wie ein Teufel hinter ihr her ist, wenn sie mit dreckigen Füßen von der Ausgrabung kommt. Und irgendwie ist sie froh, dass sie ihn wenigstens für ein paar Tage los ist. Irgendwie hatte sie ja auch gehofft, dass die Gespräche hier etwas besser sein würden, als in der Stadt. Aber auch bei der Wikingergrabung wird jeden Abend gezecht und dummes Zeug geredet. Aber interessant ist es allemal. Jana ist auch schon ziemlich braun geworden. Kein Wunder - den ganzen Tag sitzt sie am Fluß und siebt den Sand durch. Wundervollen Schmuck hat sie gefunden: Kämme aus Schildpanzern, kleine versilberte Fibeln, sogar ein kleines Messer mit einem Borretierchen verziert.


"So, Kinderchen! Genug geschwatzt!" Professor Simonovitsch klatscht in die Hände: "An die Arbeit! Und vergesst nicht, heute abend ist ein Vortrag von Pavel Iljitsch im Kulturhaus."

Danilov verzieht sich wieder in seinen Klosterkeller. Die anderen marschieren über die Brücke, an der Kremlmauer vorbei zur Ausgrabung.

"Simonovitsch!" Der Bürgermeister betritt den aufgeworfenen Lehmboden.
Professor Simonovitsch eilt herbei. Die Besuche des Bürgermeisters verheißen selten Gutes. "Gibt es schon eine Entscheidung?" fragt er deshalb vorsichtig.
"In diesem Jahr könnt ihr noch graben. Aber für das kommende Jahr kann ich nichts versprechen." der Bürgermeister räuspert sich. "Wir werden uns dem Verkauf der Grundstücke im historischen Stadtkern wohl nicht auf Dauer entziehen können."
"Aber bedenken Sie doch, wieviel Kulturschätze uns dann verloren gehen!" will Professor Simonovitsch einwenden.
"Ach, jetzt hören sie doch auf. Ihr grabt doch jedes Jahr den gleichen Plunder aus:
Birkenrindeninschriften, den Wikingerkram, orthodoxe Kreuze, alte Knochen und den Dreck, den die Nazis uns hiergelassen haben." Der Bürgermeister gerät in Rage: "Und an den Scheiß wollen wir wirklich nicht erinnert werden. Fragen sie doch die Mütterchen, die vor den Hauseingängen sitzen, die werden sich bedanken."

Peter mischt sich in das Gespräch ein und zeigt dem Bürgermeister das vormongolische Abwasserrohr. Doch es scheint, dass der Bürgermeister sich nur
wenig für Sanitäranlagen des Mittelalters interessiert.

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