Bulgakov in Holmgardir
von Rutz Rische

Kapitel
 

3.

Derweil haben Werner, Suse, Abel und Nina ein weiteres Wohnhaus abgedeckt.
"Meine Güte!" Nina deutet auf die verkohlten Balken, die die Gruppe freigelegt hat.
"Was ist hier passiert?"
Professor Simonovitsch, der sich vom Bürgermeister verabschiedet hat, kommt herbei.
"Na, Suse, du kennt doch die Chronik. 1080 bis in die 1140er, was war da?"
"Die Volksaufstände?" mutmaßt Suse. "Richtig." Professor Simonovitsch ist zufrieden.
"Mit anderen Worten: Der Pöbel hat unsere städtische Adelsfamilie nieder gemacht?" fragt Abel. Professor Simonovitsch nickt und zieht sich dann in seinen Bauwagen zurück, wo sein Büro provisorisch untergebracht ist.
"Is ja schon irgendwie ekelig, dass wir hier in das Gemetzel von damals hinabsteigen." Nina schüttelt sich. Alle geben sich wieder daran, die Erde in millimeterdünnen Schichten abzutragen und zwischen den Finger zu zerbröseln. Auf einmal stößt Suse einen spitzen Schrei aus. Die Jungs drehen sich um.
"Was ist das?"
Werner hebt eine kleine Zahnreihe auf und betrachtet sie.
"Ein Tier?" hofft Tina.
"Ich fürchte..." Werner schluckt. "...der Größe nach: ein Kind."
"Oh, mein Gott, sie haben die Kinder abgeschlachtet. Bist du ganz sicher?"
Werner ist sich sicher. Schließlich ist er Arzt und die Archäologie nur sein Hobby.



Am Nachmittag entlässt Professor Simonovitsch seine Jungarchäologen früher als gewöhnlich. "Aber nicht, damit ihr euch mit einer Flasche Wodka unter irgendeinen Baum legt!" warnt er seine Schützlinge."Ich will euch alle bei Pavel Iljitsch sehen."
Die russischen Studenten murren. "Was ist denn mit diesem Iljitsch?" will Tina wissen.
"Das guckt ihr euch lieber selbst an!" höhnt Peter und klopft sich den Dreck von der Hose.
Ein Stündchen später verstehen die deutschen Gäste die Vorbehalte ihrer Gastgeber.
Pavel Iljitsch hat sich auf die Musikinstrumente des frühen Mittelalters spezialisiert.
Er gräbt sie nicht nur aus, sondern baut sie nach und gibt tatsächlich Konzerte.
In denen seine gesamte Familie zu bestaunen ist: Seine dicke Frau und die zwei kleinen Töchter. Und schließlich er selbst, mit Stirnband und Muzhik-Hemd.
Die Musik ist mehr als gewöhnungsbedürftig. Nur schwerverständliche glucksende
Laute begleitet von Miniaturtrommeln und -pfeifen.
Die deutschen Touristen kichern hinter vorgehaltener Hand. Versichern
Pavel Iljitsch am Ende der Vorstellung jedoch, dass sie nie etwas vergleichbares
erlebt haben.

"So", sagt Werner schließlich resigniert. "Jetzt müssen wir leider noch einen Wahnsinnigen besuchen."
"Den Künstler!" Abel schlägt erschrocken die Hände vor den Mund. "Den hab ich
glatt vergessen."
Der Künstler ist ein Freund ihres Dekans. Und der hatte ihnen vor ihrer
Abreise aufgetragen, dem russischen Freund einen dicken Briefumschlag
vorbeizubringen.
"Am besten machen wir uns gleich auf den Weg!" kommandiert Werner.
Abel zögert. "Die Steine haben mir gesagt, ich soll heute abend nicht mehr ausgehen."
"Abel. Jetzt hör doch mit dem Eso-Quatsch auf." ruft Nina entnervt.
Denn Abel hat die merkwürdige Angewohnheit, bei wichtigen Fragen seine
Halbedelsteine zu befragen, die er ständig in einem kleinen Samtbeutelchen
bei sich trägt.
"Wie hält Jana es bloß mit dir aus?" Werner kann nicht verstehen, warum die
intelligente Jana diesem Verrückten den Vorzug gegeben hat.
"Die hört ja auch nicht auf mich." klagt Abel. "Ich habe ihr gesagt, sie soll sich nicht auf dem histrorischen Feld aufhalten. Habt ihr nicht gemerkt, dass die Regenbogen hier wandern?"
"Also erstens ging es dir ja bei deinem Rat in erster Linie um die Schweden. Und dass die Regenbogen hier wandern, liegt daran, dass es hin und wieder regnet, manchmal nur für ein paar Minuten. Es sind die Regenwolken die wandern und mit ihnen die Luftspiegelungen." erklärt Werner zum x. Mal geduldig.
"Also, du kannst mir ja viel erzählen. Ich finde hier alles sehr mysteriös. Das Kloster. Die alten Häuser, die Geister der Toten im Klosterkeller." widerspricht Abel trotzig.
"Nu stell dich ma nich so an!" Suse hakt sich bei Abel unter und zieht ihn mit sich.
Die vier gehen bis zur Stadtgrenze. Auf einem staubigen Feldweg protzt groß und verwinkelt, mit beleuchteten Türmen geziert, das Haus des Künstlers.
Werner klopft. Die Tür springt auf, ein riesiger schwarzer Hund stürmt den Studenten knurrend entgegen.
Abel rennt schreiend weg.
Auf dem Dach öffnet sich eine kleine Luke.
"Schura! Kusch dich." schreit der kauzige Künstler und an die Studenten gewandt:
"Der tut nichts, kommt rein."
Abel versteckt sich trotz dieser einladenden Worte hinter einem Busch.
"Komm jetzt!" Suse zerrt an seinem Arm.
"Nur über meine Leiche! Das ist der Teufel!" Abel will fliehen.
"Mensch, jetzt reiß dich mal zusammen." Sagt Werner harsch.
Widerwillig trottet Abel hinter den dreien her.
Im Haus gibt es Wodka und Gebäck. Der Künstler freut sich über den dicken
Umschlag seines deutschen Freundes. Den Studenten zeigt er seine Bilder:
moderne Versionen der Ikonenmalerei mit starker symbolischer Ausdruckskraft.
Abel ist beeindruckt.
Als die vier Studenten aufbrechen ist es spät und die Tür zu ihrer Unterkunft abgeschlossen."Ich habe doch gesagt, dass wir heute noch Ärger bekommen!" stellt Abel zufrieden fest.
Die russischen Komilitonen, die rauchend im Badezimmerfenster sitzen, erklären ihnen, dass sie sich über
das Kioskdach Eintritt verschaffen sollen.

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