TV-Leap: Die Power Shaolin vs. Meister Ling Liu
von Carsten Maday

Kapitel
 

Die dornenbewehrte Kugel des Morgensterns sauste zischend durch die Luft. Ich sprang. Die stählerne Waffe fraß ein gutes Stück aus der Granitsäule, vor der sich vor Sekundenbruchteilen noch mein Kopf befunden hatte. Im Sprung entfaltete ich meine dämonischen Lederschwingen, drehte mich und landete hinter dem Koloss von einem Ungetüm, der die mörderische Dornenkugel an einer langen Kette nach mir geschleudert hatte.
Nach einem langen Weg voller Gefahren waren wir an dem Orakel von Zos angekommen. Es lag irgendwo in der Wüste Gobi. Dort wurden wir sogleich von den unzähligen Wachen des Orakels angegriffen. Die neue Leibwache von Phantomkriegern hatte sich bereits auf einen dreitägigen Urlaub verabschiedet. Aber auch die Reihen der Wächter hatten sich gelichtet. Nur noch die hartnäckigsten, und im meinem Fall stiernäckigsten von ihnen standen noch. Hinter und neben mir hörte ich Chen und FBK wilde Kung-Fu-Schreie ausstoßen. Sicherlich ein großartiger Anblick. Aber mein Gegner, der wie ein genmanipulierter Sumo-Ringer aussah, hatte meine volle Aufmerksamkeit. Ich verpasste ihn zwei Schläge meiner nicht gerade kümmerlichen Arme in den Rücken, aber die Hiebe verpufften an der soliden Fettpanzerung. Stattdessen erwischte mich seine Rückhand. Ich wurde durch die Luft geschleudert und schaffte es in letzter Sekunde, meinen Flug zu stabilisieren und nicht an einer Granitsäule zu zerschmettern.
Ich landete, nutzte den Schwung und sprintete auf den Fleischberg zu. Ich rannte und schrie wie irre. Meine Schwingen leisteten weiteren Vortrieb. Ich beugte mich weit nach vorn über. Bevor er den Morgenstern auf mich schleudern konnte, erwischte ich den Koloss mit der Schulter in seinem massigen Bauch. Ich hörte keuchend seine Luft entweichen, als ich ihn von den Füßen zwei Meter weit mitriss und gegen eine Säule warf. Der Speck klatschte laut auf den Granit. Ich taumelte zurück, sah den Koloss wanken aber nicht fallen. Er hielt noch immer die Kette in seinen dicken Fingern. Er sah mich unheilvoll an. Dann schrie er zornentbrannt, als habe er den gerade letzten Rest Menschlichkeit abgelegt. Alles, bis auf das kleine Detail zwischen seinen Beinen, in das ich heftig hintrat. Der Schrei des Kolosses wechselte die Klangfarbe. Er riss seine Augen ungläubig auf. Dann rollten die Pupillen weg, bis nur noch das Weiße zu sehen war und den Koloss schlaff vorne über fiel. Ich sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite. Ich sah noch, wie auch FBK und Chen mit ihren letzten Gegnern aufräumten. Chen ging ungemein akrobatisch und orientierungslos vor, FBK ungemein brutal.
FBK und ich atmeten erschöpft, während nicht einmal ein einziger Scheißtropfen auf Chen Gesicht gezeichnet worden war. Statt des filigranen grünen Schwertes trug sie einen klobigen Säbel. Wenn sie schon einmal traf, meinte sie, sollte wenigstens auch Wumms dahinterstecken. Chen lächelte zufrieden, als sie sich vor einer Säule vorbeugte und auf das Eingangsportal des Orakels wies.
>Der Weg ist frei<, sagte Chen zur Säule. >Bitte nach dir, Meister.<

Das Innere des Orakels wirkte eher wie ein römischer Tempel mit seinen Säulenreihen. Eine kleine Armee von Terrakotta-Soldaten verlieh ihm zumindest einen gewissen chinesischen Anstrich. Am Ende des Tempels saß, zwei Stufen erhöht, ein verehrungswürdiger Greis mit enorm langem grauen Haar und Bart im Lendenschurz.
Als wir auf ihn zugehen wollten, gebot er uns mit einer Handbewegung Einhalt.
>Nur dem verehrungswürdigen Meister Ling Liu ist es gestattet, das Orakel zu befragen.<
>Na ist ja klasse<, maulte Chen. >Und dafür komme ich extra her.< Mürrisch verschwand Chen mit FBK. Das Orakel winkte mich näher heran.
>Stelle deine Frage, verehrungswürdiger Meister Ling Liu.<
>Wo finde ich das Zepter von Chi Gong?<
>Es befindet sich im heiligen Kloster von Pesch im Himalaja Gebirge. Hier< Das Orakel griff neben sich und zog einen Notizblock hervor. >Ich schreibe dir die GPS Koordinaten auf.< Der Greis reichte mir den Zettel.
>Ja, vielen Dank. Das war ja ziemlich präzise. Dann also...<
>Stelle deine zweite Frage, Meister Ling Liu<, überraschte mich das Orakel. Verwirrt sah ich es an.
>Eine zweite Frage? Damit hatte ich jetzt irgendwie nicht gerechnet. Also gut. Mal sehen...<
Viele Fragen schossen mir durch den Kopf. Was war der Sinn des Leben? Was fing man mit dem Zepter von Chi Gong überhaupt an? Wie folterte man Blurpsy besonders grausam, oder warum heißen die Power Shaolin Shaolin, wo sie doch so wenig shaolinartiges an sich hatten und darüber hinaus in einem japanischen Manga spielten? War das hier etwas eine Chinakopie eines Mangas? Statt dessen stellte ich eine Frage, die mir weder das Leben noch Doktor Manchu hatten beantworten können.
>Warum bin ich verflucht, auf immer allein durch B-Movies zu springen?< Ich erwartete kein Verständnis meiner Frage noch eine Antwort. Schon gar nicht die Folgende.
>Du bist nicht allein.<
Ich sah das Orakel groß an. Wusste es etwa, dass dies nur ein zweitklassiger Zeichentrickfilm war? Was sollte das bedeuten? Dass ich nicht alleine sprang? Gab es andere, viele oder nur einen? Waren gar alle nur Rollen in einem Film? Oder war das Orakel betrunken? Die leere Flasche Reiswein neben ihm deutete in diese Richtung. Ich musste die dritte Frage mit bedacht wählen, um möglichst viel Informationen aus ihr herauszuholen.
>Nun gut, meine dritte Frage, die Frage nach dem, was mich in meiner Seele am meisten beschäftigt, ist-<
>Es gibt keine dritte Frage.<
>Was? Aber es gibt doch immer drei Frage.<
>Vielleicht im Westen. Aber nicht in China. Hier wird alles eingeschränkt.<
Ich verließ verirrt das Orakel. Ich traf FBK und Chen. Würde ich je erfahren, ob die Worte des Orakels einen Sinn hatten? Irgendwie wäre es tröstlich, wenn ich einfach nur schizophren paranoid wäre.

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