Die Verfluchten - Eine Strafe des Himmels
von Christine Eisner

Kapitel
 

Langsam erhob sich die Sonne über der Gebirgskette Viriane und tauchte das Tal in sanftes Licht, woraufhin der Wald, durch den Lyia und Ryan schritten langsam erwachte. Sie kämpften sich durch das Dickicht und fingen sich ein oder die andere Schramme ein. „Lyia…“, schnaufte Ryan vor Erschöpfung. „Lyia können wir nicht mal eine Pause machen? Wir wandern nun schon die ganze Nacht ohne einmal Rast gemacht zu haben. Ich kann nicht mehr.“ Doch sie beachtete sein Winseln nicht. Seit Stunden hörte sie ihn quengeln, doch sie hatten keine Zeit, um stehen zu bleiben. Sie musste ihre Mission erfüllen. „Lyia…“ „Schon gut, wir rasten. Das hält ja kein Mensch aus!“ Erleichtert ließ sich Ryan auf den Waldboden fallen und atmete die kühle Morgenbrise ein. Lyia hingegen setzte sich auf einen vom Moos bewachsenen Baumstamm und wartete darauf, dass Ryan sich erholt hatte, um die Reise fortzusetzen. Eine Reise, die wohl nie ein Ende finden würde. Sie fragte sich, wann ihre Sünden bereinigt und sie von der Strafe erlöst werden würde. Viel zu lange wünschte sie sich schon die Erlösung, doch ihr Wunsch blieb nur ein Wunsch, der in weite Ferne zu rücken schien. Fröhliches Lachen holte sie aus ihren Wunschträumen. Sie sah zu Ryan, der sich auf dem Waldboden ausgebreitet hatte und mit einigen Vögeln spielte, die an ihm Gefallen gefunden hatten und versuchten an ihm und seiner zerrissenen Kleidung zu knabbern. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass auch sie zu Kindeszeiten mit den Tieren gespielt hatte. In allem hatte sie ein wunderbares Leben, bis sie verflucht wurde. Alles drehte sich um hundertachtzig Grad und ließ sie allein zurück. „Lyia! Vergiss doch für kurze Zeit die Strapazen der Reise und komm her. Ich brauche ein bisschen Hilfestellung, ansonsten bleibt von mir nichts mehr übrig.“ Doch sie schüttelte den Kopf. „Komm schon. Nur ein paar Minuten.“, drängte er und erhob sich, um sie zu sich und den Vögeln auf den Boden herunter zu ziehen. „Ryan nicht!“, doch die Warnung kam zu spät. Ein zweites Mal griffen seine Arme durch sie hindurch und wurden von einem Stromschlag erfasst. Sofort zog er seine Arme wieder zurück und rieb sie sich vor Schmerzen. „Tut mir Leid. Das wollte ich nicht.“ Lyias Stimme wirkte bedrückter. „Ach was, halb so wild!“, versuchte Ryan sie zu beruhigen, doch sie brach wieder in Tränen aus. „Hat es dir wehgetan?“, fragte Ryan bestürzt, woraufhin sie ihre feuerroten Augen auf ihn heftete. Langsam nickte sie. „Es tut höllisch weh. Es tut weh, wenn man versucht Menschen zu berühren, man aber weiß, dass es einem unmöglich ist. Diese Einsamkeit ist schrecklich. Man sucht Nähe, doch man bleibt immer allein. Zudem tut man dem Menschen, den man berühren möchte unfreiwillig weh. Eine schlimmere Strafe als die ewige Einsamkeit gibt es nicht. Schon seit langer Zeit vermisse ich dieses Gefühl. Nicht einmal meine eigenen Eltern konnte ich mehr berühren. Es tut so weh, so weh!“ Lyia fing an zu schluchzen, doch Ryan konnte nichts unternehmen. Er wollte sie in den Arm nehmen, doch er konnte nicht, da der Fluch Lyia die Nähe zu anderen Personen nicht gestattete. Welch grausames Leben, dachte Ryan. Er hatte Mitleid mit ihr. Plötzlich sickerten ihm Tränen aus den Augen, die seine Wangen hinunterliefen und sich schließlich am Kinn sammelten, wo sie sich zu einem Tropfen bildeten, der kurz darauf auf den Boden tropfte. Warum nur muss sie so leiden? Warum nicht ich? Was hat sie nur verbrochen? „Warum du und nicht ich!?“ Ryan kochte vor Wut. „Das ist nicht fair! Sag mir, warum ausgerechnet du?“ Lyia sah gen Himmel. „Weil ich die Verantwortung dafür trage.“ Ungläubig sah er sie an. „Wie meinst du das?“ Sie atmete tief ein und blickte ihm in seine verwirrten Augen. „Ich meine, dass ich die Verbrechen begangen habe und nun die Verantwortung trage. Verstehst du? Ich bin schuld, dass wir überhaupt verflucht wurden. Deshalb liegt es an mir die Sünden wieder rein zu waschen.“ „Ich verstehe nicht.“, gab Ryan zu. Lyia stand auf und öffnete ihren Mantel. Sie schlug ihn zurück und raubte Ryan für kurze Zeit den Atem. Unter ihrem Mantel verbarg sie des Rätsels Lösung. Ein bordeauxroter, eng anliegender Militäranzug umgab ihren Körper. Doch es war nicht nur irgendein Militäranzug, sondern jener der Geheimorganisation, die vor 2454 Jahren aufgehört hatte zu existieren. „Das kann nicht sein.“, flüsterte Ryan. „Es ist aber so. Ich habe der Geheimorganisation „Siras’ Future“ angehört.“ Er musterte sie von oben bis unten und entdeckte das Emblem mit den Initialen der Organisation auf ihrer linken Schulter. Um ihre Hüfte war ein schwarzer Gürtel gebunden, an dem zahlreiche Waffen griffbereit angebracht wurden, darunter auch ihre Sai und in ihren ebenfalls schwarzen Stiefeln waren kleine Dolche versteckt. Der bordeauxrote Lederanzug hatte an den Oberarmen und Oberschenkeln große Schnallen und an den Handgelenken waren schwarze Bänder angebracht, die ebenfalls das Emblem mit den Initialen „SF“ trugen. „Die Geheimorganisation SF hat vor 2454 Jahren aufgrund des Fluches aufgehört zu existieren. Alle, bis auf vier Personen, wurden von dem Fluch ausgerottet. Dies war das Ende der Geheimorganisation, aber der Anfang des Fluches.“ „Aber was hat das alles mit dir zu tun?“ Lyia wandte sich von ihm ab. „Ich bin eine der vier Überlebenden.“ Ungläubig schüttelte er den Kopf und stellte sich ihr gegenüber. „Aber das geht doch nicht! Dann wärst du heute über zweitausend Jahre alt!“ Sie lächelte leicht. „Zweitausendvierhundertdreiundsiebzig um genau zu sein.“ „Wie ist das möglich? Ich meine du siehst keine zwanzig Jahre aus.“ „Der Fluch, er hat mich mit neunzehn Jahren befallen. Daher habe ich den Körper einer Neunzehnjährigen behalten.“ Ungläubig schüttelte Ryan den Kopf. „Aber, wie ist das möglich? Ein normaler Mensch wird nicht einmal einhundert Jahre alt!“ Lyia sah ihm ins Gesicht. „Du hast soeben deine eigene Frage beantwortet. Ein normaler Mensch wäre schon lange tot, aber ich, ich bin kein normaler Mensch, jedenfalls nicht mehr.“ „Worauf willst du hinaus?“, fragte er ungeduldig. „Was ich damit sagen will, ist, dass ich seit dem Fluch kein Mensch mehr bin.“ Diese Worte gaben Ryan den Rest. Nun verstand er absolut Nichts mehr. „Du meine Güte, Ryan! Ich bin ein 2454 Jahre alter Geist! Deshalb kannst du mich nicht berühren.“ „Aber warum kann ich dich dann sehen?“ Ihr Blick wurde traurig. „Weil es Teil des Fluches ist.“ Ryan verdrehte die Augen. „Äußerst hilfreich. Wie wäre es wenn du mal Klartext reden würdest, damit auch ich dein Fachsimpeln verstehen kann?“ „Ich habe dich nicht darum gebeten mich…uns Verfluchte besser zu verstehen. Das warst du allein. Du allein hast beschlossen mir zu folgen!“, schrie sie plötzlich, woraufhin Ryan sie bestürzt ansah. Schließlich begriff auch sie, dass sie zu laut geworden war. „Entschuldige. Ich wollte nicht schreien, es ist nur, dass ich es nicht besser erklären kann.“ Ryan senkte den Kopf. „Schon gut. Ich kann schließlich nicht alles an einem einzigen Tag verstehen. Mit der Zeit wird es schon kommen, bis ich alles über euch weiß und euch dadurch besser verstehen lerne.“ Keiner von Beiden sagte mehr ein Wort. Lyia bückte sich und hob ihren schwarzen Mantel wieder auf, den sie sich anschließend um die Schultern warf. Schweigend gingen sie nebeneinander weiter, bis sie den Wald hinter sich gelassen hatten. Die Sonne trat über ihnen ihre Laufbahn an und weckte das Dorf Vanadis, das direkt vor ihnen lag. Weit in den Himmel erstreckte sich die Kapelle, das Zentrum des jahrhundertealten Dorfes. Ein gedankenverlorener Blick huschte über Lyias Gesicht. „Ist irgendetwas?“, fragte Ryan besorgt, als sie wie angewurzelt stehen blieb und das Dorf anstarrte. Doch Lyia reagierte nicht. Ihr Blick blieb starr. Ryan begann mit seinen Armen vor ihren Augen herumzufuchteln und sie zu rufen, bis sie schließlich aus ihren Gedanken gerissen wurde und erschrocken zurück wich. „Lyia, alles okay?“ Sie nickte stumm. „Bist du dir sicher? Du bist so blass.“ „Nein, es ist alles in Ordnung.“ Sie setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. „Los, lass uns weitergehen.“, sagte sie und schlug den Weg weiter ein. Ryan war unsicher, doch fing er an ihr zu vertrauen. Sie würde es ihm schon sagen, wenn etwas nicht stimmen würde oder sie etwas beschäftigte. Er lächelte leicht und folgte ihr. Als er wieder neben ihr herlief blickte er ihr ins Gesicht. Sie erwiderte seinen Blick und lächelte, ein Zeichen dafür, dass es ihr gut ging, so dachte Ryan, doch hinter dieser Fassade verbarg sie nur ihre Trauer. Ich bin zurück, dachte Lyia. Der Albtraum lebt wieder auf.

Sanft prasselte der Regen auf Katos Gesicht, der erschöpft im Feld nahe dem Dorf Laine lag. Der Wind streifte ihm durch sein rotes Haar und ließ die Grashalme pfeifen. Ein Blitz leuchtete auf und sein Donnern folgte einige Sekunden darauf, woraus er schließen konnte, dass das Gewitter einige Kilometer entfernt tobte. „Kato!“ Ein Schrei ertönte. Kato öffnete seine Augen und setzte sich vorsichtig auf. Seine Glieder schmerzten und sein Blick war verschwommen. „Kato, alles okay?“ Vorsichtig stützten ihn zwei Hände. Kato legte den Kopf zurück und blickte in smaragdgrüne Augen. Er zwinkerte, woraufhin sein Blick klarer wurde und er schließlich merkte, dass er seinem Kameraden Screw entgegen blickte, dessen wild zerzaustes, ebenfalls grünes Haar im Wind wehte und Kato mit besorgtem Blick betrachtete. „Screw…?“ Seine Stimme zitterte. Nur mit großer Mühe schaffte er es weiter zu sprechen. „Was… ist pas…siert?“ Ein Lächeln umspielte Screws Gesicht. „Es ist alles in bester Ordnung. Komm. Wir müssen hier weg.“ Langsam half er ihm auf, womit er ziemlich große Schwierigkeiten hatte, da Katos Beine immer wieder wegknickten. Schließlich warf er Katos Arm um seine Schulter und hielt ihn aufrecht. Nur mit langsamen und kurzen Schritten bewegten sie sich vom Dorf weg, während der Himmel sie weiterhin begoss. Sie hatten die Person, die sie nun schon seit sieben Jahren suchten, noch immer nicht gefunden. Jedoch hatten sie einen Teil ihrer wichtigen Mission gefunden. Einen Teil, der ihnen schon seit langer Zeit das Leben zur Hölle machte – die dunkle Seite der Menschenseele. Sie sind der Erlösung ihrer Sünden einen weiteren Schritt näher gekommen, doch wie viele waren sie noch davon entfernt? Der Fluch schien sie nicht loszulassen. Er fesselte sie mit unsichtbaren Ketten.
Endlich erreichten sie eine Baumgruppe, unter der sie Unterschlupf fanden. Zwar war es gefährlich sich während eines Gewitters unter Bäumen aufzuhalten, doch für Menschen wie sie bestand keine Gefahr. Im Gegenteil, sie beteten sogar darum vom Blitz getroffen zu werden, damit ihr Leiden endlich ein Ende finden würde.
Langsam legte Screw Kato auf den vom Regen aufgeweichten Boden und stützte seinen Kopf. „Screw… was ist passiert?“ „Schhh… ruhig. Dein Körper macht das nicht mehr lange mit. Du zerfällst Kato. Du hättest mich die Dunkle Seele aufnehmen lassen sollen.“ Kato lächelte müde. „Dann habe ich es geschafft?“ Screw nickte, woraufhin Kato dankend die Augen schloss. Seine Kräfte schwanden. All die Dunklen Seelen, die er auf seiner Reise mit Screw in sich aufgenommen hatte, nagten an seiner leblosen Seele. Er atmete schwer. Screw wusste, dass er schon seit Monaten mit seinem Inneren kämpfte, jedoch weigerte sich Kato die Suche nach einem geliebten Menschen zu unterbrechen. Ihm stiegen Tränen in die Augen. „Kato… bitte lass uns zu dem Ort zurückkehren, an dem alles begann. Du hältst das nicht mehr lange durch.“ Doch Kato beruhigte ihn wieder. „Es hat keinen Sinn dorthin zurück zu kehren. Wir werden nur dann erlöst, wenn wir alle Dunklen Seelen gefunden haben. Zudem brauchen wir Lyia. Ohne sie werden wir nicht erlöst. Du weißt welche Aufgabe sie in unserem Kreis spielt.“ Kato wurde ernst, Screw hingegen wirkte noch besorgter. „Du bist bereit ihr das Leben zu nehmen, obwohl du sie liebst?“ „Ach Screw, bist du es denn nicht?“, entgegnete Kato während er seine Augen wieder öffnete. Screw schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin nicht im Stande dem Menschen das Leben zu nehmen, den ich über alles liebe.“ „Nicht einmal, wenn du dadurch erlöst wirst?“ Wieder schüttelte Screw den Kopf, doch diesmal energischer. „Nicht einmal wenn ich dadurch erlöst werde. Ich würde lieber in Zukunft den Fluch über mich ergehen lassen, als dass ich zusehe, wie sie stirbt.“ Kato lächelte leicht. Seine Kräfte kehrten wieder und er versuchte aufzustehen. Anschließend sah er auf Screw hinab, der sich zuvor neben ihn auf den Boden gehockt hatte, und reichte ihm die Hand. „Du bist ein Narr, Screw. Liebe fordert nun mal seine Opfer, ebenso wie Freiheit. Wenn man liebt und sich danach sehnt frei zu sein, dann muss man auch bereit sein auf alles zu verzichten. Um frei zu sein bedarf es in unserem Falle nur einer Sache – der Liebe. Im Leben muss man auf alles gefasst sein und Grenzen überschreiten können, auch wenn es andere Leben opfert.“ „Wenn das so ist, dann laufe ich lieber vor dem Leben davon.“ Endlich ergriff er seine Hand. „Eines Tages wirst auch du verstehen, dass Liebe nur eine Illusion von Gefühlen ist.“, sagte Kato nüchtern. „Liebe ist einfach nur geistige Zuneigung. Sonst nichts.“

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