Die Verfluchten - Eine Strafe des Himmels
von Christine Eisner

Kapitel
 

Seit sie Sinon erreicht hatten sind nun schon drei Tage vergangen, doch Lyia war noch immer nicht erwacht. Jeden Tag blieb Ryan bei ihr und betete, damit sie die Augen öffnete, doch seine Hoffnung wurde durch ihre weiter anhaltende Ohnmacht zunichte gemacht. Die ganze Zeit wachte er über sie und gönnte sich keine Pause, die er für die Besichtigung der Geisterstadt verwenden konnte. Seine Neugier war zwar wie zuvor groß, weil er sich in jener Stadt befand, die seit tausenden von Jahren untergegangen war, doch fühlte er sich für Lyia verantwortlich, da sie sich für ihn geopfert hatte. Hätte sie Katos Klinge nicht abgefangen, so wäre sie jetzt munter und freudestrahlend, doch sie blieb stumm und bewegungslos. Ein weiterer Grund um nicht von ihrer Seite zu weichen. Schon allein aus Dank fühlte er sich dazu verpflichtet bei ihr zu bleiben, bis sie die Augen öffnete. So lange war sie noch nie bewusstlos. Was ist nur los mit ihr?
„Sie wurde von einem anderen Verfluchten verletzt, daher dauert die Heilung der Wunden durch unser Blut länger als gewöhnlich. Außerdem ist der Fluch fast gebrochen.“, antwortete Screw als er zum Zimmer herein trat, in das sie Lyia nach der Ankunft gebracht hatten. Er reichte Ryan einige Trauben und setzte sich zu ihm nachdem er Lyias Puls ertastete. „Ihr Puls ist wiederhergestellt, doch das Bewusstsein fehlt immer noch. Die Wunde ist auch gut verheilt. Ich schätze, dass sie spätestens morgen erwacht.“, sprach er während seiner Untersuchung. „Bist du so etwas wie ein Arzt oder warum bist du dir dessen so sicher?“ Screw zwinkerte. „Damals in der SF war ich Chefarzt des Lazaretts.“ „Chefarzt?“, fragte Ryan ungläubig. „Aber wofür ein Lazarett?“ Screw kicherte. „Nun ja falls jemand krank wurde oder Verletzungen davon getragen hatte, musste ich mich um sie kümmern, weil wir durch den Schild von der Außenwelt abgeschirmt wurden. Es kamen jedoch nicht viele, weil alle während der Forschung vorsichtig waren. Aber trotzdem gab es hin und wieder Stammkunden.“ Ryan blickte ihn verdutzt an, womit er die Frage äußerte, um welche Stammkunden es sich handelte. „Eigentlich bin ich als Arzt der Schweigepflicht unterstellt, aber da es sich um Vorfälle von vor tausenden von Jahren handelt, kann ich eine Ausnahme machen. Die häufigsten Besuche in diesem Lazarett bekam ich von Kato, gefolgt von Lyia. Um ehrlich zu sein kamen sie jeden Tag um versorgt zu werden.“, erklärte er. „Wieso? Waren sie etwa so tollpatschig?“ Screw schüttelte vergnügt den Kopf. „Ich weiß nicht, ob Lyia es dir schon erzählt hat, aber wir waren keine normale Forschungseinheit. Hier in Sinon gab es zahlreiche Theoretiker und Philosophen, denen Sin angehört hat. Zudem ausgebildete Ärzte, die viel von ihrem Fach verstanden, angeführt von mir als Chefarzt und dann gab es noch unsere Elitetruppe. Ihr gehörten Kato und Lyia an, wobei Lyia die Kommandantin und Kato der Leutnant waren. Wir vier sind alle Meister unseres Faches, mit Ausnahme von Kato.“ Ryan hob als Zeichen für seine Ratlosigkeit die Hand, als wäre er Screws Schüler. „Ihr habt hier in Sinon eine Militäreinheit ausgebildet? Wofür denn das Militär?“ Screw stützte sein Kinn. „Das Militär wurde für die Sicherheit der SF-Mitglieder eingesetzt, denn du weißt ja, dass die Organisation verboten war und deshalb im Untergrund arbeiten musste. Tja und angeführt und ausgebildet wurde sie von Lyia. Das ist übrigens auch der Grund weshalb sie eine solche Kämpfernatur ist. Kato und sie sind die besten Kämpfer unseres Kreises. Aber weil Kato nicht hinnehmen wollte, dass das Militär von einer Frau und zudem seiner kleinen Schwester geführt wurde, versuchte er ihr den Rang als Kommandant streitig zu machen. Sie hatten ihre Stärke in Kämpfen gemessen, um zu bestimmen, wer der Führung des Militärs würdig war. Lyia ging immer als Sieger hervor und schleppte Kato mit unzähligen Blessuren hierher. Lyia hatte meist nur blaue Flecken und Kratzer. Dafür wurde sie von ihren Soldaten hoch verehrt. Sie war ein Vorbild für alle. Kämpferisch begabt, liebenswürdig, gütig… von vielen wurde sie als der Militärengel bezeichnet. Und das war sie auch. Sie ist es noch heute. Ihr erlagen nicht umsonst viele Männer, schließlich hat sie einen perfekten Körper, ist zielstrebig und optimistisch. Ihr Wesen ist einfach atemberaubend, wie ihre Schönheit.“ Ryan stimmte ihm nickend zu. „Ist das der Grund, weshalb du dich in sie verliebt hast?“, fragte er. Screw wurde verlegen. „Lyia war für mich anfangs nur Katos Schwester, aber mit der Zeit hatte ich sie besser kennen gelernt und mich somit in sie verliebt. Sie ist so warmherzig und kümmert sich rührend um andere Menschen, aber sie ist auch in der Lage sich zu wehren. Sie weiß genau was sie will und dieses Ziel verfolgt sie solange, bis sie es erreicht hat. Es ist ihre Persönlichkeit, die mit ihrer Schönheit harmoniert, verstehst du was ich meine? Man könnte meinen, dass sie nicht von dieser Welt ist. Um es kurz zu sagen: Es ist ihr ganzes Wesen, das mich fesselt. Aber für sie war ich immer nur der Arzt und der Freund ihres Bruders, deshalb kam es für sie überhaupt nicht in Frage eine Beziehung mit mir zu führen, weil sie der Meinung war, dass wir dadurch Kato verletzen würden. Dabei habe ich Kato selbst um Erlaubnis gebeten mich ihr zu nähern. Er war sogar sehr begeistert von dieser Idee. Als wir verflucht wurden dachte ich, dass ich vielleicht in absehbarer Zeit ihr Herz für mich gewinnen kann, da wir uns nur untereinander lieben konnten, aber sie hat sich trotz des Fluches für dich entschieden. Die Liebe zu dir und das langsame Voranschreiten des Heilungsprozesses sind Zeichen dafür, dass der Fluch schwindet. Sobald wir erlöst sind, hat meine Liebe zu ihr ohnehin keine Chance, vielleicht ist es sogar besser so, wenn sie mich von sich weist.“ Ryan hatte Mitleid mit ihm, da er das Einzige, wonach er sich gesehnt hatte nicht einmal in zweitausend Jahren erreicht hatte. Dabei wollte er nur ein wenig Zuneigung und Liebe. Ryan senkte den Blick und starrte die Trauben auf seinem Schoß an, die ihm Screw gereicht hatte. Er pflückte eine von ihnen und verzerrte sie. „Die sind ja richtig lecker.“, wollte er ablenken, was ihm tatsächlich gelang. „Nicht wahr? Sin hat sie hier gezüchtet. Glaub mir, du bekommst nirgends so gute Trauben wie hier, weil der Boden von Sinon sehr nährstoffreich ist. Wenn ich mich nicht irre ist diese Art von Traubenbusch außerhalb von Sinon sogar schon lange verwelkt. Wenn du möchtest kann ich sie dir mal zeigen. Sie sind in der Nähe des Friedhofs.“ „Ihr habt einen eigenen Friedhof?“, fragte Ryan entsetzt, aber Screw schüttete zu seiner Erleichterung leicht den Kopf. „Dieser Friedhof ist erst entstanden, als der Fluch begann. Wie du weißt, sind alle anderen Mitglieder elendig gestorben. Wir haben ihnen eine Ruhestätte gebaut, aber weil es an die fünftausend Kameraden waren, entwickelte sich schon bald ein Friedhof daraus. Heute ist es eine Gedenkstätte an sie, denn uns steht es nicht zu, zu vergessen.“ Ryan nickte verständnisvoll. „Ich verstehe, aber ich möchte doch lieber bei Lyia bleiben, weil ich es ihr verdanke, dass ich mein irdisches Leben noch habe. Das bin ich ihr schuldig.“ „Ist gut. Rufst du uns, wenn sie wach ist? Wir haben noch viel vorzubereiten, wegen dem Ritus, sonst würden wir ebenfalls hier sitzen.“ Ryan lächelte. „Natürlich, kein Problem.“ Als Dank klopfte ihm Screw auf die Schulter und verließ mit einem letzten Blick zu Lyia den Raum.

An Sinons Krallen hatten Kato und Sin schon auf Screw gewartet, der sich ihnen gemächlich näherte und schließlich vor ihnen stehen blieb. Mit einem Kopfschütteln vermittelte er ihnen, dass Lyia noch immer schliefe, worauf die anderen seufzten. „Ryan gibt uns Bescheid, sobald sie erwacht und das dürfte heute Nacht sein, denn ihre Wunde ist verheilt und der Puls ist ebenfalls vorhanden und stabil. Wenn ich mit meiner Vermutung Recht habe, dann sind wir spätestens morgen Nachmittag wieder normale Menschen.“, erläuterte er. Sin wandte sich von ihm ab und stellte sich unter die Lichtkugel, die ihre Strahlen in alle Richtungen warf und die schleichende Dunkelheit des Abends erleuchtete. „Ich kann es kaum glauben, 2454 Jahre Knechtschaft sind endlich vorbei.“ „Nicht ganz.“, wandte Screw ein. „Zuerst müssen wir Lyia dazu bringen mit uns das Ritual durchzuführen und ich glaube nicht, dass das so einfach wird. Ich würde sogar sagen, dass sie sich weigern wird, denn jetzt wo sie zu Ryan gefunden hat, glaube ich nicht, dass sie dieses Glück so schnell wegwerfen wird.“ „Sie wird!“, meinte Kato. „Ihr wird nichts anderes übrig bleiben. Glaubt mir, sie wird.“ „Sag mal Kato, bist du eigentlich bereit dafür? Ich meine immerhin ist sie deine Schwester und wenn sie morgen…“ Kato winkte Sins Besorgnis ab. „Ich habe nach so langer Knechtschaft verlernt zu fühlen. Ich will nur endlich erlöst werden, alles andere ist mir egal. Kein Gefühl wird mich davon abhalten können, denn Gefühle sind Illusionen. Was zählt ist die Realität.“ In seiner Stimme lag Zuversicht, doch trotzdem blickten sich Sin und Screw besorgt an. Sie hatten Angst eine falsche Entscheidung zu treffen, die sie anschließend bereuen könnten, doch wussten sie auch, dass es zum Besten aller sei. Für einen Rückzieher war es bereits zu spät.

Die Nacht brach herein und der Mond offenbarte seine wunderschöne Sichel. Die Luft war kühl und der Wind forderte die Blätter und Blüten zum Tanz auf. Das Rascheln, das dadurch entstand erzeugte einen beruhigenden Klang, durch den Ryan sanft geweckt wurde. Er blickte sich um und erinnerte sich schließlich, wo er war. Nachdem er jedoch bemerkte, dass Lyia verschwunden war, schreckte er auf. Er war eingeschlafen und hatte demnach nicht bemerkt, wann sie erwachte. Dabei hatte er Screw sein Wort gegeben ihm sofort Bescheid zu geben. Sofort lief er hinaus und suchte sie auf den dunklen Gassen von Sinon, die zum größten Teil von Gestrüpp bewachsen waren und somit kaum Durchgang boten. Nach langem Suchen traf er schließlich auf eine Lichtquelle, in der er Lyias Umrisse erkennen konnte. Erleichtert atmete er auf und wollte zu ihr treten, zögerte jedoch, als er Katos Stimme vernahm. „Du kannst nicht ewig davonrennen. Du musst es ihm sagen, sonst muss ich es tun.“ „Kato bitte versteh doch, ich will nicht mehr. Warum kannst du dich nicht für mich freuen? Ich liebe. Weißt du was das bedeutet? Der Fluch ist beinahe gebrochen. Im Grunde können wir schon jetzt einen Neuanfang starten, ohne dieses Ritual zu vollführen.“ Ryan wollte nicht lauschen, doch ein seltsames Gefühl beschlich ihn, das ihm sagte, dass er noch eine Weile zuhören sollte. Somit kniete er sich hinter einen Strauch und verschwand im Schatten. „Lyia merkst du denn nicht, dass du nicht nur uns damit bestrafst? Was ist mit Ryan? Willst du etwa, dass er all das durchmachen soll, was wir erdulden mussten? Begreifst du denn nicht, dass Unsterblichkeit ein Fluch und kein Segen ist?“ Lyia senkte den Kopf und antwortete sehr leise, sodass Ryan es kaum vernehmen konnte. „Ich möchte doch nur mit ihm zusammen sein. Warum ich? Wieso muss ich den Kurier der Dunklen Seelen spielen und dabei auch noch meinen Körper und Geist opfern?“ Kato trat auf sie zu und legte ihr die Arme auf die Schultern. „Wir sind Verfluchte. Unser Schicksal wurde uns nun mal so zugeteilt. Auch wenn es uns widerstrebt, wir müssen uns ihm beugen. Gabriel hatte uns verkündet, dass nur der Geist und Körper einer Frau die Sünden von uns nehmen kann, indem sie sich selbst opfert. Du bist die einzige Frau in unserem Kreis. Du bist unsere Hoffnung.“, beruhigte er sie, woraufhin sie zu weinen anfing und ihm in die Arme fiel. „Kato ich will nicht. Ich habe Angst. Das Einzige was ich will ist leben. Warum wird es mir verwehrt?“ Ryan konnte es nicht glauben. Sie hatte ihm die ganze Zeit vorenthalten, dass sie während der Zeremonie geopfert werden würde. „Denkst du etwa, dass es leicht für mich ist, meine eigene Schwester zu opfern? Glaubst du wirklich, dass ich so kaltherzig bin? Ich liebe dich Lyia, aber wer weiß, was passieren wird, wenn wir das Ritual nicht durchführen? Was wird dann aus der gesamten Menschheit, aus uns oder aus Ryan? Willst du etwa, dass ihm etwas zustößt?“ Bestürzt schüttelte sie den Kopf. „Lyia, wenn du es schon nicht für uns tust, dann wenigstens für Ryan. Schließlich hat er ein vernünftiges Leben verdient, nicht so wie wir. Verstehst du worauf ich hinaus will?“ Auf seine Frage hin nickte sie. Er küsste ihr die Stirn und blickte anschließend in ihre verweinten Augen. „Denk darüber nach, doch lass dir nicht zu viel Zeit.“ Sie nickte erneut stumm und sah ihm hinterher, der sich von ihr entfernte. Ryan war verwirrt. Eine Opferung für das Begleichen der Sünden? War es nicht Strafe genug so lange die Dunklen Seelen zu sammeln und dafür sogar gehasst zu werden? War dies nicht Opfer genug? Hatten sie nicht schon genug gelitten?
„Die Strafe wurde von Shin festgelegt, somit waren die Opfer, die wir bisher gebracht haben nur sehr klein.“ Ryan schreckte zusammen und erblickte Kato neben sich, der zu ihm herunterblickte. „Es ist Shins Wille, dem wir uns beugen müssen.“ „Was?! Einfach nur blind gehorchen? Seid ihr denn nicht skeptisch? Meint ihr etwa, dass eine Opfergabe dem Willen Shins entspricht?!“ Er sprang wütend aus dem Busch hervor, woraufhin ihn Lyia entdeckte. „Ryan?“, fragte sie verwundert, woraufhin er ihr die Situation erklären wollte. „I-ich wollte nicht lauschen. Bitte versteh das nicht falsch…ich…“ Beschämt senkte er den Blick. „Tut mir Leid.“ Lyia wandte sich von ihm ab. „Was hast du hören können?“ Ryan zögerte, doch wusste er, dass er sie nicht anlügen konnte, da sie die Wahrheit mit Hilfe des Gedankenlesens sowieso erfahren würde. „Genug um zu wissen, dass du mir die ganze Zeit etwas vorgemacht hast.“ Kato der die ganze Zeit geschwiegen hatte, realisierte den Ernst der Lage und entfernte sich von ihnen. Enttäuscht sah Ryan zu Boden. Sie hatte ihm die Wahrheit vorenthalten und hinters Licht geführt. Lyia fiel weinend auf die Knie. „Verzeih mir.“ Ryan sah sie verwundert an. „Ich konnte es dir nicht sagen. Immer warst du für mich da und sorgtest dich um mich. Ständig hattest du mich zum Lachen gebracht, doch ich…ich konnte nicht mehr tun, als dich zum Weinen zu bringen. Ich wollte dich nicht traurig machen. Ich ertrage es nicht dein trauriges Gesicht zu sehen. Ein Lächeln auf deinem Gesicht hatte auch mich immer glücklich gemacht, aber…hätte ich dir gesagt, dass ich geopfert werden würde, dann wäre dein Lächeln für immer verschwunden. Ich habe gewusst, dass ich dich aufgrund meines Schicksals nicht lieben durfte, aber ich war so glücklich und umging daher diese Warnung. Ich habe mich in dich verliebt und genau das war mein Fehler.“ Ryan war wie gelähmt. Warum musste es das Schicksal so hart mit ihm meinen? Kaum hatte er die Person, die er zu lieben gelernt hatte endlich gefunden, schon wurde sie ihm wieder entrissen. War dies wirklich Shins Wille? War er zu so etwas fähig? Hatte man ihm nicht erzählt, dass Shin ein liebender Gott sei? War dies alles eine Lüge? War er letztendlich wirklich nur ein Teufel, wie Ryan es annahm? „Lyia? Warum eine Opferung?“ Sie blickte gen Himmel, der von vielen Sternen geschmückt war. „Vor sieben Jahren haben wir Shin angezweifelt. Wir glaubten nach all den Jahren voller Schmerz nicht mehr an eine Erlösung, doch dann zeigte sich Gabriel vor Sin und erklärte, dass wir unserem Ziel sehr nahe waren. Er hatte uns neuen Mut gegeben, doch verkündete er auch mein Schicksal. Mein Leben müsse für die Erlösung der anderen aufgeopfert werden.“ „Aber warum du?“, wollte Ryan wissen. „In dem Ritual, das wir für die Lossprechung unserer Pein durchführen müssen, werden alle Dunklen Seelen auf eine reine Seele übertragen. Anschließend gibt sie sich Shin hin, sodass er die Macht erlangt, die gesamte Menschheit von dem Fluch zu befreien. Somit erlangen alle Menschen die Freiheit wieder und die Dunklen Seelen verschwinden auf immer. Doch eine vollkommen reine Seele besitzen nur Frauen, sodass dieser Prozess nur von einem weiblichen Wesen durchgeführt werden kann. Daher ist es meine Verpflichtung, weil ich die einzige Frau in dem Kreis der Verfluchten bin.“ Ryan dachte kurz nach und wieder stellten sich ihm Fragen über Fragen. „Es muss also eine Frau aus dem Kreis der Verfluchten sein. Etwa wegen den Dunklen Seelen, die man in sich aufnehmen muss?“ Lyia nickte. „Aber…was wäre, wenn keine Frau in dem Kreis der Verfluchten existieren würde? Was wäre dann mit dem Ritual?“ Lyia erhob sich und drehte sich zu ihm um. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Eine Erlösung wäre so nicht möglich. Die Menschheit würde weiterhin verdammt sein, bis zum Untergang Siras. Nur die Apokalypse könnte die Verfluchten erretten. Es sei denn Shin hätte eine Frau auserwählt, die meinem Schicksal folgen müsste.“ Ryan seufzte. „Seid ihr euch der Erlösung eurer Sünden durch eine Opferung wirklich sicher? Ich meine seid ihr sicher, dass dann alles gut werden wird?“ Lyia schüttelte leicht den Kopf. „Wieso dann das ganze?! Was, wenn du dich umsonst opferst?“ Sie lächelte leicht. „Es liegt allein in meiner Macht, die Anderen zu befreien. Sin, Kato und Screw haben schon so viel gelitten. Sie haben ein Recht auf ein normales Leben, als Sterbliche. Ebenso wie du. Es steht mir nicht zu sie ihrem Leid weiterhin zu überlassen und du solltest von all dem auch nicht betroffen sein, denn schließlich hast du mit dem Fluch nichts zu tun. Du bist unschuldig.“ „Heißt das etwa, dass du vor hast das Ritual durchzuführen?“ Erneut senkte sie den Blick. „Ich habe keine andere Wahl.“ Ryan trat auf sie zu und nahm sie ruckartig in den Arm. Tränen sickerten ihm die Wangen hinunter. „Bitte geh nicht. Ich will nicht, dass du geopfert wirst! Was soll ich ohne dich tun?“ Auch ihr strömten nun Tränen aus den Augen. „Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Ich hätte dir bereits bei unserer ersten Begegnung von meinem Schicksal erzählen sollen. Dann wäre all das nicht geschehen.“ Energisch schüttelte Ryan den Kopf und drückte sie noch fester an sich. „Was erzählst du denn da? Wäre all das nicht geschehen, dann hätte ich mich nicht in dich verliebt. Aber ich bin froh, dass ich es bin. Ich bin glücklich dir begegnet zu sein. Du hast mich den Glauben an den Gott Shin gelehrt. Und auch wenn ich ihn für alles, was er dir angetan hat verachte, so bin ich ihm dankbar, dass er mir dich geschickt hat. Du bist mein Lichtfunken in der Dunkelheit meines Herzens geworden. Und diesen Lichtfunken gebe ich nicht mehr her! Er mag zwar ein Gott sein, doch das gibt ihm noch lange nicht das Recht mit den Herzen seiner Gläubigen zu spielen! Ein Gott der so handelt ist nicht besser als der Teufel selbst.“ „Ryan ich verstehe deine Wut, doch vergiss nicht, dass wir es waren, die den Fluch überhaupt entstehen ließen. Wir gingen mit unserer Macht, die wir durch die Technologie und Forschung erlangten leichtfertig um. Wir erschufen mit ihr künstliches Leben, das wir für unsere Forschung jedoch wieder töteten. Durch Medikamente und Genmanipulationen entschieden wir über Leben oder Tod. Außerdem ließen wir den Planeten durch unsere Technologien sterben. Wir haben Shin hintergangen und eine Welt erschaffen, in der man keinen Gott braucht. Der Fluch war nur eine wohlverdiente Strafe, die uns zur Besinnung brachte. Und deshalb, verurteile ich ihn nicht für mein Schicksal, auch wenn ich manchmal an ihm zweifle, so vertraue ich ihm weiterhin. Sogar wenn er mein Leben verlangt.“ „Ich verstehe zwar nichts von all dem, aber wie ich sehe gehorchst auch du blind. Hast du schon mal daran gedacht, dass es vielleicht nicht Shin ist, der euch so leiden lässt?“ Verdutzt sah sie ihn an. „Wie meinst du das? Es gibt nur ein Wesen, das über so viel Macht besitzt und das ist Shin.“ „Und wenn es der Teufel war? Du selbst hast gesagt, dass es wegen dem Gleichgewichtsprinzip ein Gegenstück zu allem gibt. Demnach muss es auch einen Teufel geben. Vielleicht hat er euch verflucht?“, meinte er. Kopfschüttelnd löste sich Lyia von ihm. „Das kann nicht sein. Selbst wenn es ihn tatsächlich geben würde, so hat er nicht genug Macht, um so etwas zu vollbringen. Nein, das ist vollkommen ausgeschlossen.“ „Aber glaubst du denn, dass Shin zu so etwas fähig wäre? Ist er nicht ein liebender Gott? Warum bestraft er die Menschheit dann? Kannst du mir das verraten?“ Lyia fühlte sich bedrängt. Jetzt wo Ryan sie darauf ansprach, fand sie es ebenfalls sehr merkwürdig, doch ihr fiel keine plausible Erklärung ein, deshalb warf sie den Gedanken wieder ab. „Ich bin mir nicht sicher, aber eines weiß ich garantiert: Dass es eine gute Erklärung dafür gibt und die erfahren wir nur, wenn wir das Ritual durchführen.“ Ryan fasste sie an der Hand. „Heißt das etwa, dass dein Entschluss fest steht?“ Wasser sammelte sich in ihren Augen. Schließlich nickte sie. Ryan erstarrte. „Du willst dich opfern obwohl du nicht weißt, was dann geschieht?“ „Ich habe keine andere Wahl. Wenn ich meinen Kameraden, der restlichen Menschheit und dir die Freiheit wieder geben möchte, dann muss es sein.“ Traurig schloss er sie in seine Arme. „Wer hat denn gesagt, dass ich mich gefangen fühle? Ich will einfach nur mit dir zusammen sein, das ist mir Freiheit genug.“ Sie löste sich sofort wieder von ihm und blickte ihm in die blauen Augen, die sie klagend anblickten. „Ryan du verstehst nicht. Die gesamte Welt, darunter meine Freunde und mein Bruder, werden leiden, wenn ich nicht meiner Bestimmung nachgehe. Glaubst du, dass ich so leben kann? Dass ich sorgenlos mit dir meine Zukunft verbringen kann?“ Er wusste, dass es so nicht sein konnte. Er wusste, dass sie darunter leiden würde, doch die Wahrheit schmerzte ihn umso mehr. Plötzlich packte sie ihn am Arm und zog ihn mit sich. „Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“ Geistesabwesend folgte ihr Ryan durch die nächtlichen Straßen, bis sie am Rande des Dorfes Halt machten. Ryan blickte auf und erblickte ein weites Feld übersät mit Kreuzen vor sich. Der Friedhof, dachte er, woraufhin Lyia nickte und ihn traurig anblickte. „Dies ist die Ruhestätte, die wir unseren Kameraden gaben, als sie von dem Fluch hingerichtet wurden. Ihre Seelen wandern noch heute durch Sinon, da der Fluch besagt, dass niemandes Seele das Licht Shins erblicken würde. Das betrifft jedoch nicht nur die Seelen, die du hier vor dir siehst, sondern alle Menschenseelen auf Sira.“ Sein Blick wanderte über die vielen Grabstätten. „Und erlöst werden sie nur durch das Erlöschen des Fluches, nicht wahr?“, fügte er hinzu und blickte ihr dabei in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick und nickte. Des Weiteren herrschte Stille. Beide lauschten dem Wind, bis Lyia schließlich die Stille wieder unterbrach. „Ich spüre ihre Seelen auf mir. Sie flehen mich an und ich als ihre Kommandantin und höchste Person der Sicherheit hier in Sinon kann ihr Leiden nicht umgehen, auch wenn es mich mein eigenes Leben kostet. Viele von ihnen waren meine Freunde und haben unter meinem Kommando gedient. Nun ist es an der Zeit, dass ich ihnen diene.“ Ryan schloss die Augen und seufzte. „Ich verstehe.“ Erstaunt blickte sie ihn an. „Du hast dein Bestes gegeben, um sie, deinen Bruder und die anderen drei, aber auch die restliche Menschheit von dem Bann zu befreien. Du solltest dieses Ziel aufgrund einiger Gefühle nicht aufgeben. Sehr lange hast du die Dunklen Seelen eingesammelt und auch als du erfuhrest, dass du am Ende dafür sterben würdest, du hast weitergemacht. Deshalb solltest du wegen mir auch nicht aufgeben.“ „Aber…Ryan?“ Er winkte ab. „Bitte sag nichts. Es fällt mir ohnehin sehr schwer dich loszulassen, deshalb lass mich dich begleiten.“ Bestürzt riss sie die Augen auf und wollte widersprechen, doch schon hatte Ryan einen ihrer Sai gegriffen, den er sich sogleich in den Bauch stieß. „Ryan!“, schrie Lyia auf und handelte reflexartig auf eine Situation wie diese. Sie zog es aus seiner Bauchregion wieder heraus und schnitt sich selbst in die Handfläche, um anschließend ihr eigenes Blut herauszupressen und auf Ryans Wunde zu tropfen, die daraufhin sofort wieder heilte, sodass Ryan außer Lebensgefahr war. Keuchend saß dieser auf der Erde und wurde von Lyia gestützt. „Was sollte das?! Du hättest deine Lebenszeit beenden und somit nach dem Ritus sterben können!“ Ryan lächelte leicht. „Das war mein Ziel. Ich will kein Leben ohne dich und aus diesem Grund dachte ich, dass es besser wäre wenn…“ „Nein! Das wäre nicht besser. Das wäre umso schlimmer, weil ich dann sozusagen dein Mörder gewesen wäre. Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich hätte es mir niemals verzeihen können, verstehst du?“ Während ihrer letzten Worte brach sie in Tränen aus. Erschrocken lag er in ihren Armen und sah zu, wie sie ihre silbernen Tränen für ihn vergoss. Schließlich wischte er sie ihr aus dem Gesicht und entschuldigte sich. „Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen, verzeih mir.“ Ihre Tränen versiegten, doch ihr trauriger Blick hielt an. „Bitte tu mir den Gefallen und lebe für mich weiter.“ Ryan nickte. „Versprichst du es mir?“ Er streichelte ihre Wange. „Ja, ich verspreche es dir.“ Ein Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht, das ihm vermittelte, dass sie glücklich über seine Antwort war. Sie neigte sich über ihn und schenkte ihm einen Kuss, den Ryan gerne erwiderte.
„Liebe ist nur geistige Zuneigung, eine Illusion von Gefühlen. Du hattest Recht Kato. Du hattest Recht.“ Screw hatte das ganze Szenario hinter einer Mauer mitverfolgt und blickte Kato starr an, der ebenfalls an eine Mauer gelehnt gelauscht hatte. „Endlich hast auch du es eingesehen. Ich sagte dir ja, dass der Zeitpunkt deiner Vernunft kommen würde. Doch keine Sorge. Auch wenn sie ihn liebt, diese Liebe wird morgen ihr Ende finden. Auch er wird nicht in den Genuss kommen sie zu besitzen, demnach kannst du beruhigt sein.“, erwiderte Kato und sah in Screws bekümmertes Gesicht. „Ja.“, sagte dieser wieder nach einer kurzen Pause. „Wenn ich sie nicht besitzen kann, dann soll es niemand. Das ist zwar Lyia gegenüber unfair, aber mir fällt keine andere Lösung ein. Selbst wenn ich mich für sie freuen würde, so kann aus dieser Liebe nichts werden, denn ihr Schicksal ist bereits besiegelt.“ Kato bestätigte seinen Gedanken mit einem Nicken. „Komm, wir sollten ihr die letzten Stunden gönnen, denn immerhin stirbt sie morgen für uns. Auch wenn sie es leugnet, in erster Linie tut sie es für uns.“ Lautlos entfernten sie sich schließlich von ihnen, damit sie die verbleibende Zeit, die Lyia geblieben ist gemeinsam nutzen konnten.
„Sag mal Lyia, was mich schon die ganze Zeit interessiert, wie kommt es, dass du die Kommandantin der Militäreinheit warst?“ Sie lächelte. „Das liegt daran, weil meine Eltern mich seit meinem fünften Lebensjahr auf Kampfschulen schickten. Meine Eltern waren in meinem Heimatdorf sehr angesehene Leute, da sie das Dorf leiteten. Sie waren so etwas wie die regierenden Bürgermeister. Ich wuchs daher mit meinem Bruder in sehr strengen Verhältnissen auf. Dienstmädchen und Leibwächter folgten uns überall mit hin, wir wurden demnach sehr behütet. Meine Eltern wussten, dass es uns beiden missfiel, vor allem, weil wir dadurch nicht lernen konnten, was es heißt auf eigenen Beinen zu stehen. Eines Tages schließlich führte mich meine Mutter zu einer Kampfschule, weil sie ihre Meinung geändert hatte. ‚Wenn ich nicht an deiner Seite bin, so sollst du trotzdem stets in Sicherheit sein’, sagte sie. Ich weiß noch, wie sehr ich mich über die Entscheidung meiner Mutter gefreut habe. Ich gab stets mein Bestes und lernte sehr schnell die Selbstverteidigung. Mein Trainer nannte mich immer den Stern seiner Kampfschule, weil meine Begabung für den Rest der Schüler unerreichbar war. Einige Jahre später begann ich die Schwertkampfkunst und bald darauf den Umgang mit anderen Waffen unter anderem die Verwendung der Sai und Wurfsterne. Mein Bruder hatte mich immer beneidet, denn ihm war es nicht gestattet jegliche Art von Kampf zu lernen. Er wurde weiterhin von den Leibwächtern behütet. Er wurde zum Nachfolger meines Vaters ernannt und musste daher sehr viel lernen. Freizeit wurde ihm nicht gegönnt. Mit sechzehn wurde ich von meinen Eltern mit einem Jungen, der ebenfalls aus gutem Hause kam verlobt. Protestieren durfte ich nicht, selbst wenn er mir missfiel. Das ist auch der Grund, warum wir nach Sinon gingen. Keiner von uns Beiden hatte das Recht sich eine eigene Zukunft zu gestalten. Wir wollten frei entscheiden, deshalb fiel es uns nicht schwer unsere Eltern zu verlassen, denn wie ich dir schon erzählt habe, durften wir aufgrund des Schutzschildes um Sinon herum nicht mehr zurück. Wir beide wählten das Militär in Sinon und aufgrund meiner Qualifikationen im Kampf, wurde ich Kommandantin. Kato missfiel es, von seiner kleinen Schwester ausgebildet zu werden, deshalb trainierte er hart, um mich später immer wieder aufs Neue herauszufordern. Dem Gewinner wurde der Posten als Kommandant zugesprochen.“ Sie verfiel in Gelächter. „Du hattest immer gewonnen und Kato in die Krankenstation gebracht, nicht wahr?“, beendete Ryan ihre Erzählung. „Screw hatte es mir erzählt, als du bewusstlos warst.“, fügte er hinzu, als er ihren verwirrten Blick bemerkte. „Ja. Screw war der Chefarzt in der Krankenstation und zudem Katos bester Freund. Wir verstanden uns sehr gut, aber für ihn wurde aus Freundschaft Liebe. Ich konnte diese Liebe bis heute nicht erwidern. Aber das scheinst du ja schon zu wissen.“, meinte sie, da Ryan keine Miene verzog. „Eines weiß ich noch nicht. Wie seid ihr Sin begegnet?“, fragte Ryan. Lyia überlegte kurz, bevor sie antwortete. „Sin gehörte den Theoretikern und Philosophen an, doch war er nebenbei der erfolgreichste Forscher, denn er entwickelte die Klone als Schutzeinheit für uns. Sin war derjenige, dem ich mein Herz immer ausschüttete, weil ich mir viel von seinen Ratschlägen als Philosoph versprach. Man könnte meinen es war innige Freundschaft, denn für ihn wuchs ich mit der Zeit als seine kleine Schwester auf. Wir hatten eine sehr enge Beziehung zueinander. Kato und Screw lernten ihn erst kennen, als wir damit beauftragt wurden, die Klone zu testen.“ „Inwiefern testen?“, fragte Ryan ratlos. „Wir vier hielten die obersten Ränge der verschiedenen Gruppen in Sinon ein, deshalb war es unsere Aufgabe, den Prozess des Klonens als erste auszuprobieren. Man könnte meinen wir waren die ersten Versuchskaninchen. Erst nachdem bewiesen worden war, dass es tatsächlich funktionierte, wurden Klone der restlichen Mitglieder gezüchtet. Aber genau das war der größte Fehler. Wir erschufen Lebewesen in Reagenzgläsern und ohne Liebe. Menschen, die wir als Mittel zum Zweck benutzten.“ In ihrem Blick las Ryan Reue. „Was ist aus diesen Klonen geworden? Du hast doch gesagt, dass sie Computergesteuerte Wesen sind, dann müssten sie noch heute existieren oder etwa nicht?“ Lyia schüttelte den Kopf. „Es stimmt, dass sie Computergesteuert waren, aber dennoch waren sie echte Lebewesen.“ Ryan verstand nicht. „Stell dir das so vor: Ein Mensch wird geklont, indem man ein Gewebestück eines Menschen in eine Eizelle pflanzt, die vorher entkernt wurde. Daraus entwickelt sich ein identisch gleiches Individuum, der dem ursprünglichen Menschen entspricht. Da diese Klone jedoch frei handeln konnten, implantierten wir ihnen einen Mikrochip unter die Haut, da wir Klone brauchten, die ebenso handelten wie ihre Originale. In diesem Mikrochip waren Signalfelder eingebaut, die eine Verbindung zwischen Mensch und Klon ermöglichten. Somit steuerten wir unsere Klone unbewusst mit Hilfe unseres Bewusstseins. Meine Gedanken und mein Verhalten wurden somit über die Verbindung der Signalfelder im Mikrochip an meinen Klon übertragen, der schließlich ebenso handelte und dachte wie ich. Die Distanz war nebensächlich und die Signalfelder auf Lebenszeit gebaut, das heißt, dass sie durch nichts zerstört werden konnten. Zudem konnten die Signale durch andere Funkwellenübertragungen nicht aufgehalten oder gestört werden. Man könnte also sagen, egal wie weit weg und in welchem Umfeld der Klon sich befand, er handelte stets nach seinem Original.“ „Aber wieso existieren sie heute nicht mehr?“ Lyia schloss die Augen. „Nachdem der Fluch die meisten Mitglieder sterben ließ, starben auch die Klone, da sie sozusagen nur Schatten waren. Durch das Signal des Sterbens und der Schmerzen, erlitten die Klone dasselbe Schicksal. Alle Klone von etwa fünftausend Mitgliedern starben zur selben Zeit an denselben Symptomen. Die Außenwelt erkannte den Schwindel. Auch wussten sie dadurch, wer der Organisation angehörte.“ Ryan dachte nach. Er war fasziniert von der Vergangenheit, die die letzten zweitausend Jahre von niemandem zuvor gehört wurde. Er wurde Zeuge einer Erzählung, die die Erklärung der Verdammnis war, in der sie zurzeit lebten. Der Ursprung des Fluches wurde ihm enträtselt und mit jeder Erzählung mehr, lernte er die wahre Geschichte des Planeten Siras kennen. „Aber was geschah mit deinem Klon? Du wurdest doch unsterblich, demnach muss dein Klon noch heute leben, ebenso die von Kato, Screw und Sin.“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Wie wir wurden auch unsere Klone verflucht: Das blaue Blut, die Berührungsbarrieren und das ewige Leben. Ich hatte dir doch erzählt, dass ich damals aus Verzweiflung Selbstmord beging, unter anderem, weil ich nicht akzeptieren konnte, dass nur ich leben durfte. Mein Klon verzweifelte ebenfalls und schlug denselben Weg ein wie ich, doch wir kehrten als Geist wieder zurück. Da mein Klon sich ab diesem Zeitpunkt der Berührung meiner Eltern und anderer Menschen entzog, schöpften sie Verdacht, bis sie durch eine zufällige Berührung schließlich herausfanden, dass ich verflucht war und somit daraus schließen konnten, dass ich ebenfalls der Organisation angehörte. Kurze Zeit später verloren Screw und Kato ihre irdischen Leben, als sie versuchten die erste Dunkle Seele einzufangen. Ab diesem Zeitpunkt waren sie nur noch für mich antastbar und flogen daher ebenfalls als Mitglieder der SF auf. Bei Sin war es ähnlich, denn er starb wie ich auch aus Verzweiflung, allerdings nicht durch Selbstmord. Er starb auf natürlichem Wege an gebrochenem Herzen und Kummer, da er sich die Schuld für den Tod seines kleinen Bruders gab, der ebenfalls ein Mitglied der SF war. Wie dem auch sei, jedenfalls ist es den restlichen Menschen gelungen, trotz der Barriere unsere Klone zu fangen. Weiterhin glaubten sie, dass sie wir waren und folterten sie als Strafe für die Missachtung der Richtlinien. Schließlich wurden sie auch hingerichtet, doch sie kehrten als Marionetten immer wieder zurück. Auch wenn wir sie nur als Mittel zum Zweck benutzten, so waren sie trotz allem Menschen. Deshalb hatten wir nur eine Möglichkeit, um sie von den Qualen zu befreien, die eigentlich wir verantworten müssten. Wir mussten den Mikrochip aus ihren Körpern entfernen.“ „Aber wie habt ihr das angestellt?“, fragte Ryan gespannt. „Wir griffen uns die nötige Ausrüstung und verließen Sinon. In Farin, meinem Heimatdorf wurden sie gefangen gehalten. Wir offenbarten den Bewohnern und vor allem meinen Eltern, den Oberhäuptern, die Wahrheit und unsere wahre Identität. Entsetzen zeichnete sich auf jedem Gesicht, als sie erfuhren, dass wir Klone erschufen. Sie erlaubten uns die Entnahme der Mikrochips aus ihren Körpern sozusagen als Beweis. Wir versetzten die Klone in Narkose und entfernten den Mikrochip aus ihrem Nacken. Kurze Zeit später starben sie, ohne Notiz davon zu nehmen. Dies war ein weiterer Grund, weshalb man uns verachtet hat. Man warf uns vor mit Menschenleben zu spielen. Wir waren unmoralisch und teuflisch. Unsere Klone wurden auf dem Friedhof von Farin vergraben, doch ob die Gräber noch existieren weiß ich nicht, da ich seit diesem Tage nie wieder dort war.“ Farin – ein Dorf am Rande des Meeres und somit das einzige Dorf mit einem Hafen. Ryan erinnerte sich an die Erzählungen seiner Mutter über dieses Dorf. Schon als kleines Kind hatte er sich das Ziel gesetzt dieses Dorf aufzusuchen, um am Hafen hinaus ins weite Meer zu blicken. „Du hast bis zu deinem sechzehnten Lebensjahr in Farin gelebt, nicht wahr?“, fragte er vorsichtig, woraufhin Lyia nickte. „Würde es dir etwas ausmachen mir ein wenig über deine Kindheit dort zu erzählen?“ Ratlos sah sie ihn an, doch schon im nächsten Moment wechselte diese Ratlosigkeit in Entschlossenheit. „Nun ja, viel werde ich dir nicht erzählen können, da ich das Haus nur sehr selten verlassen durfte und außerdem in einer anderen Zeit lebte. Das Dorf hat sich sicher sehr gewandelt. Ich weiß noch, dass unser Haus nahe dem Meer gebaut war, sodass ich immer ins weite Meer hinausblicken konnte. Der Friedhof wurde auf einer Klippe errichtet, weil man meinte, dass die Seelen den Weg in ihren Frieden und ihre Freiheit so besser finden konnten. Der Hafen war sehr lebhaft und der größte Menschenanteil lebte vom Fischfang. Das Dorf hatte einen nahe gelegenen Wald, in dem ich mit Kato und meinen Eltern oft spazieren gegangen bin. Ich habe immer mit den Tieren gespielt und meine Mutter mahnte mich immer, dass ich eine Dame sei und mich daher auch so benehmen sollte. Es war ein ruhiges und idyllisches Dorf.“ All die wunderschönen Erinnerungen an ihre Kindheit kehrten zurück und ein Lächeln verweilte auf ihren Lippen. „Danke Ryan.“, meinte sie schließlich. Ryan sah sie verwundert an. Lächelnd blickte sie ihm ins Gesicht. „Danke, dass du mich an meine wunderschönen Zeiten erinnerst. Jetzt weiß ich, dass ich ein erfülltes Leben geführt habe. Nun habe ich keine Angst mehr vor dem, was morgen geschehen wird.“ Endlich verstand er und lächelte ebenfalls. „Lass uns zurückgehen. Morgen ist ein großer Tag und wir beide könnten ein wenig Schlaf vertragen.“ Ryan stimmte zu und folgte ihr den Weg zurück. Morgen würde nichts mehr so sein wie in den letzten paar Tagen. Diese Erkenntnis machte ihm am meisten Angst. Er hatte Angst, dass seine Zeit mit Lyia eines Tages in Vergessenheit geraten würde.

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