Die Verfluchten - Eine Strafe des Himmels
von Christine Eisner

Kapitel
 

Langsam öffnete Lyia ihre Augen. Sehnsüchtig hatte sie auf Ryan gewartet, doch ihre Müdigkeit hatte sie letztendlich überwältigt, sodass sie einschlief. Ihr Körper war schwach. Ryan hatte Recht mit der Vermutung, dass sie es nicht mehr lange durchhalten würde.
Sie warf einen Blick über den blauen Nachthimmel, in dem sich viele Sterne offenbarten. Das Feuer, das sie entzündet hatte bevor sie sich hinlegte war zum größten Teil erloschen. Nur noch die Glut spendete Wärme und Licht. Lyia rieb sich die Augen und sah um das Nachtlager herum in der Hoffnung sie würde Ryan schlafend im hohen Gras entdecken, doch er war noch immer nicht zurück. Wo war er nur? Er hatte ihr doch versprochen, dass es nicht lange dauern würde. War ihm vielleicht etwas zugestoßen? Ryan wo bist du? Sie stand auf und blickte zum Dorf, dessen Lampen entzündet waren, sodass sich ihren Augen ein Lichtspiel offenbarte. Ryan musste noch dort unten sein. Vermutlich versucht er mit allen Mitteln den Bürgermeister umzustimmen, damit er mit einem fröhlichen Gesichtausdruck zurückkehren konnte. Damit er ihr erneut ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Vieles hatte sich seit dieser kurzen Zeit, die Ryan bei ihr war geändert. Nach all den Jahren ihrer Existenz verspürte sie einen kleinen Schimmer der Hoffnung. Zur selben Zeit kam ihr in den Sinn, dass Ryan dieser Hoffnungsschimmer war und sie ohne ihn schon längst aufgegeben hätte.
Plötzlich überkam sie ein seltsames Gefühl, das sie erschaudern ließ. Ryan! Nein, das darf nicht sein. Ohne zu zögern lief sie den Hang zum Dorf hinunter. Ryan war in Gefahr, das spürte sie. Mit schnellen Schritten und weiten Sprüngen bahnte sie sich ihren Weg durch das Gestrüpp, bis sie schließlich ihr Ziel erreicht hatte. Das Dorf Vanadis. Jenes Dorf, von dem sie seit zwei Jahren mehr denn je gehasst wurde. Sie wollte es meiden, doch ihr blieb es nicht erspart ein weiteres Mal den Hass der Menschen auf sich zu lenken. Ryan war hier. Sie musste ihn finden bevor etwas Schlimmes geschah. Sie atmete tief ein und lief anschließend ins Dorf hinein. Auf den Straßen hielt sie nach Ryan Ausschau, doch er war nirgends zu finden. Schließlich begegnete sie einer kleiner Menschengruppe, die sie nach Ryan ausfragte, doch diese wiesen sie ab. „Der junge Herr hat sich von Euch abgewendet. Verlasst dieses Dorf auf der Stelle und lasst ihn zufrieden.“ „Das ist nicht wahr! Ihr lügt. Ryan würde mich niemals verraten. Was habt Ihr mit ihm gemacht?!“ „Wir haben ihn errettet. Nun geht.“ „Nein! Nicht ohne Ryan.“ Hinter sich vernahm sie plötzlich Schritte, sodass sie sich umwandte und Ryan ins Gesicht blickte. „Ryan! Wo warst du so lange? Du wolltest doch so schnell wie mög…“ Sie hielt inne. Erst jetzt bemerkte sie seinen kalten, gierigen Blick. „Du bist besessen. Das kann nicht sein. Ryan, kämpfe dagegen an!“ Doch Ryan antwortete nicht. Er hörte ihr nicht einmal zu, sondern fletschte die Zähne. Schließlich stürzte er sich auf sie und raubte das Schwert auf ihrem Rücken, womit er ausholte und ihr die Brust durchbohrte. Schmerzen befielen Lyias Körper und sie konnte nicht glauben, was soeben geschehen war. Sie blickte hinunter auf ihre Brust und erblickte das Schwert, befleckt von ihrem eigenen blauen Blut. Unglaubwürdig sah sie in Ryans saphirblaue Augen, die blutrünstig auf sie geheftet waren. Die Menschengruppe hatte sich vor Schreck aufgelöst und lief davon. Lyia legte ihre Hände auf die Klinge und zog sie aus ihrem Körper heraus. Unter Tränen flehte sie Ryan an wieder zu sich zu kommen. „Ryan, das bist nicht du. Wach auf. Ich bitte dich komm zu dir.“ Erneut holte er aus, doch diesmal wich Lyia aus, sodass die Klinge ihre Wange nur streifte und einen Kratzer hinterließ, aus dem wenige Sekunden später ein Blutstropfen sickerte. Entschlossen fasste sie einen Entschluss. „Verzeih, aber du lässt mir keine andere Wahl.“ Sie zog ihre Sai und stellte sich in Kampfposition. Ryan grinste vergnügt und eröffnete den Kampf, indem er ein drittes Mal ausholte. Lyia wehrte seinen Angriff ab, doch sank sie vor Schmerz in die Knie. Ihre Wunde machte ihr zu schaffen und sie wusste, dass sie nicht lange durchhalten würde. Sie musste ihre Pflicht so schnell wie möglich erfüllen. Sie stürzte sich auf Ryan, sodass ein Nahkampf entstand. Anmutig wehrte sie seine Schläge ab oder wich ihnen aus. Schnell steigerte sich Lyia in den Kampf hinein und schnitt Ryan die Bauchdecke ein. Dieser sank zu Boden und ließ das Schwert fallen. Geschockt wich Lyia zurück und schlug die Hände vor das Gesicht, nachdem ihre Sai klirrend zu Boden fielen. Was hatte sie nur getan? „Bitte verzeih. Das wollte ich nicht. Verzeih mir!“ Schluchzend näherte sie sich ihm, doch er scheuchte sie von sich. „Lass mich dir helfen. Bitte! Du verblutest sonst.“ Doch dieser wehrte sich, bis er erschöpft zusammenbrach. „Ryan!“ Völlig verängstigt lief sie zu ihm und stützte ihn. „Gib jetzt nicht auf. Wenn du mich jetzt verlässt, werde ich mir mein Leben lang nicht verzeihen können. Mach die Augen auf, bitte!“ Doch Ryan rührte sich nicht. Vorsichtig und mit zitternden Händen tastete sie nach seinem Puls. Er schlug nur noch sehr schwach. Lyia musste etwas unternehmen, sonst würde er sterben. Langsam legte sie ihn zu Boden und zückte ihre Wurfsterne, mit denen sie ihn auf den Boden nagelte. Anschließend griff sie nach dem Schwert, das er zuvor fallen ließ und schnitt sich die Handfläche ein. Ihr azurblaues Blut floss wie in Strömen über die gesamte Hand. Sie schloss die Augen und hielt die Handfläche über Ryans Wunde. Das Blut tropfte auf seine Verletzung, woraufhin sie wie durch ein Wunder verheilte. Ryans Gesicht nahm wieder Farbe an, woraus Lyia schließen konnte, dass er überleben würde. Sie röchelte. Blut umspielte ihre Mundwinkel. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. In nur wenigen Augenblicken würde sie in Ohnmacht fallen, was zur Folge hatte, dass Ryan sich wieder lösen und verschwinden könnte. Er würde unschuldige Menschen töten wie einst. Das musste sie um jeden Preis verhindern. Vorsichtig setzte sie sich auf ihn und beugte sich über ihn. „Ryan, wach auf. Kämpfe gegen die Dunkle Seele an. Du kannst es, ich weiß es. Komm schon, mach die Augen auf.“ Tatsächlich öffnete er die Augen, doch waren sie noch immer so kalt wie vorher. Die Dunkle Seele beherrschte seinen Körper und nur noch Lyia konnte sie ihm austreiben. Nun denn, so soll es sein. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn und schloss die Augen. „ Möge der böse Geist diesen Körper verlassen und das Leid verschwinden. Ich, die Gepeinigte von Shin, stelle meinen Körper zur Verfügung, auf das unsere Sünden vergeben werden. Appare!“ Sie presste ihre Stirn an seine und hockte sich anschließend vor Ryans Körper, der nun von einer Aura umschlossen wurde. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Verzeih mir. „Vergib mir meine Sünden.“, sprach sie schließlich. Schmerzensschreie ertönten und erneut wich ein schwarzer Dunst aus Ryans Körper. Dann herrschte Stille. Nun umring der Dunst Lyias Körper, den sie zur Verfügung gestellt hatte. Sie hob ihre Stirn, woraufhin sie dem Schatten abermals gewähren ließ und er sich schließlich mit ihr vereinigte. Lyias Schrei lockte die Einwohner des Dorfes an, die geschockt zurückwichen. Vor ihren Augen offenbarte sich ein Blutbad. Letztendlich brach auch Lyia auf dem Boden zusammen. Minuten vergingen. Niemand rührte sich, bis Ryan schließlich wieder erwachte. Sein Blick war benebelt, verschwommen. Er blinzelte und sah sich anschließend um. Sein Atem stockte, als er Lyia bewegungslos neben sich in einer blauen Blutlache liegen sah. Schnell wollte er sich aufstellen, um nach ihr zu sehen, doch die Wurfsterne hielten ihn zurück. Die vertraute Situation kehrte wieder. Er war erneut besessen gewesen, was bedeutete, dass Lyia gegen ihn gekämpft hatte. Er versuchte sich zu befreien, woraufhin seine ohnehin schon beschädigten Kleider in Fetzen gerissen wurden. Nur noch in Lumpen bekleidet beugte er sich über Lyia und stützte ihren Oberkörper, der vollkommen mit Blut bedeckt war. Ungläubig schaute er in ihr lebloses Gesicht und betrachtete die Stichwunde in ihrer Brust. Was habe ich getan? Tränen sammelten sich in seinen Augen, die kurz darauf in Strömen flossen. „Lyia, mach die Augen auf. Lyia bitte. Es tut mir alles so Leid, ich… ich wollte doch gar nicht… Lyia! Wach auf.“ Er nahm sie in den Arm und weinte bitterlich. Er hatte seine Hoffnung auf ein neues Leben eigenhändig abgeschlachtet. „Hattest du mir nicht gesagt, dass du ein Geist bist? Wieso um des Teufels Willen kann ich dich dann töten? Sagtest du nicht, du wärst für mich unantastbar? Warum halte ich dann nun deinen leblosen Körper in Armen? Du hast gelogen! Dabei fing mein neues Leben mit dir wunderbar an. Endlich fand ich einen Menschen, der mir zuhörte, dem ich alles anvertrauen konnte, ohne gleich verurteilt zu werden. Einen Menschen, dem ich vertrauen konnte und der immer für mich da war. Und außerdem einen Menschen, der mir in nur zwei Tagen den Kopf verdreht hatte. Du bist mir wichtig, du bist meine Familie. Du darfst mich jetzt nicht einfach verlassen! Bleib bei mir. Ich liebe dich, hörst du? Wach auf, bitte lass mich jetzt nicht im Stich.“ Doch sein Flehen wurde nicht erhört. Ihr Körper hing weiterhin schlaff herunter. Die Dorfbewohner waren verwirrt. Was genau war passiert? Und warum trauerte Ryan um das verfluchte Mädchen? War es falsch sich über ihren Tod zu freuen?
Plötzlich trat Allan zu Ryan und Lyias leblosen Körper. Ryan heftete seine verweinten Augen auf ihn. „Seid Ihr nun zufrieden? Ist Euer Rachedurst endlich gestillt?“, fauchte er ihn an. „Ja, ich gebe zu, dass mich der Anblick ihres toten Leibes glücklich macht, denn nun ist Ebonys Tod nicht ungestraft geblieben. Doch wenn ich Euch so sehe, so verzweifelt und hilflos, dann macht es mich traurig. Sie muss Euch viel bedeutet haben, so wie mir Ebony einst viel bedeutet hat. Ihr erinnert mich an mich selbst.“ „Ich bedaure Euren Verlust, doch habt Ihr einmal daran gedacht wie andere Menschen sich gefühlt hätten, wenn Ihr sie umgebracht hättet? Ist es gerecht, dass ich nun leiden muss, während Ihr Euch über die Vergeltung freut?“ Allan runzelte die Stirn. „Wart Ihr es nicht, der ihr die Brust durchstach? Ihr habt sie eigenhändig umgebracht, warum also die Tränen?“ Ryan schüttelte energisch den Kopf. „Ihr versteht nicht. Ich war besessen. Ich wurde gelenkt, somit habe ich sie nicht aus freien Stücken hingerichtet. Sie starb nur, weil sie sich mir in den Weg stellte, um Euch zu beschützen.“ „Was soll das bedeuten?“, warf Allan zurück. Ryan legte Lyias Kopf sanft auf den gepflasterten Steinboden und wischte ihr das nun eingetrocknete Blut um die Mundwinkel herum weg, das im getrockneten Zustand die Farbe schwarz angenommen hatte. Dann erhob er sich und blickte zu den Sternen. „Lyia hatte mir erzählt, dass es ihre Aufgabe sei die Sünden wieder rein zu waschen, die sie in ihrer Vergangenheit begangen hatte. Ich bin mir nicht sicher, aber ich vermute, dass sie dies nur kann, wenn sie die Menschen vor Gefahren beschützt und den besessenen Menschen hilft wieder die zu werden, die sie einmal waren. Wie und warum, das weiß ich nicht.“ „Soll das heißen, dass sie ungefährlich ist?“, fragte Allan skeptisch. Ryan schritt über den schwarzen Boden und hob die Sai auf, an denen sein Blut klebte. „Ja, das soll es. Sonst würden sie nicht versuchen uns zu helfen.“ Er deutete auf eine schmale Narbe, die seine Bauchdecke aufwies. „Und warum hat sie vor zwei Jahren Ebony umgebracht?!“ Diese Frage konnte selbst Ryan nicht beantworten, weil er selbst nicht verstand, warum Lyia es tat. „Es… es war ein Un…fall.“, antwortete eine schwache, vertraute Stimme. Ungläubig wandte sich Ryan um und sah, wie Lyia sich bemühte auf die Beine zu kommen. „Lyia… du lebst? Aber… wie ist das möglich?“ Auf wackeligen Beinen stand sie für einen Moment da und blickte Allan an. Schließlich sackte sie jedoch zusammen und fiel auf die Knie. „Ebony war besessen, nur deshalb bin ich vor zwei Jahren hier erschienen. Meine Aufgabe als Verfluchte besteht darin, die Dunklen Seelen der Menschen aufzunehmen. Nur wenn ich den Besessenen die Dunkle Seele austreibe, wird dieser wieder ein normaler Mensch werden, wie er vorher war. Wenn nicht, mordet die Person ohne selbst Notiz davon zu nehmen, weil das Bewusstsein des Menschen ausgeschaltet ist.“, erklärte sie, während Ryan, der wieder zu ihr getreten war, aufmerksam zuhörte. „Du meinst man wird zu einem Monster?“, fragte Allan. Lyia nickte. „Ebony hatte zwar nicht gemordet, aber dennoch verletzte sie ein Kind, um sich von ihrem Blut zu ernähren. Es hätte nicht lange gedauert bis die Dunkle Seele ihren ganzen Körper eingenommen hätte und sie hätte morden lassen. Um dies zu verhindern musste ich ihr den Schatten austreiben. Doch Ebony war aufgrund ihrer Krankheit zu schwach. Sie hatte den Kampf nicht gewonnen und starb. Ich allein bin für ihren Tod verantwortlich und trage dafür die volle Verantwortung. Ich kann die Sünde, die ich beging nicht ungeschehen machen, daher verachtet mich ruhig. Ihr habt allen Grund dazu, doch vergesst eines nicht: Nur wir Verfluchten sind imstande die Strafe Shins abzuwenden. Unsere Mission ist es, alle Dunklen Seelen zu vertreiben, doch wenn Ihr uns aufhaltet, können wir dieser Mission nicht nachgehen.“ Ein flehender Blick haschte über ihr Gesicht, bevor sie erneut das Bewusstsein verlor. Besorgt hielt Ryan ihren Körper in Armen. „So ist das also.“ „Ihr glaubt ihr doch nicht etwa?!“, stieß Allan hervor. Vorsichtig hob Ryan ihren Körper auf und blickte ein weiters Mal auf ihre Stichwunde. Ein entschlossener Gesichtsausdruck vermittelte Allan, dass er es tatsächlich tat. Er glaubte ihr. „Was wenn sie Euch nur täuscht?“, wollte Allan wissen. „Sie sagt die Wahrheit.“ „Aber…“ „Ich selbst war schon zwei Mal besessen.“, gestand Ryan und schüttelte Allans darauf folgende Frage ab. „Sie hat mich nun schon zum zweiten Mal errettet. Glaubt mir, sie will den Menschen nichts Böses. Wenn Ihr auch mir nicht glauben wollt, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als einen anderen Weg einzuschlagen. Zwar verlieren wir dadurch viel Zeit, aber Lyias Mission darf nicht zum Stocken kommen, denn solange es dort draußen Besessene gibt, sterben unzählige unschuldige Menschen.“ Eine leichte Verbeugung folgte. „Trotzdem danke ich Euch für Eure Offenheit.“ Er wandte sich ab und schritt mit Lyias ohnmächtigen Körper durch die Straßen des Dorfes hinaus auf das Feld, während die Dorfbewohner ihm ratlos hinterher sahen.
Außerhalb des schrecklichen Ortes legte Ryan Lyias angeschlagenen Körper sanft zu Boden und strich ihr weiches, rotes Haar aus dem Gesicht. Ihr Gesicht wirkte entspannt und doch leidend. „Alles nur wegen mir, weil ich dir diesen Kummer bereite. Verzeih mir.“ Eine Träne spiegelte sich in seinen Augen. Was konnte er nur tun, damit sie die Last nicht allein tragen musste? Die Mission, der Hass der Menschen und diese Einsamkeit ihres Herzens. Was kann ich nur tun? Hilflos und verzweifelt presste er die Augen zu und schluchzte, wobei eine seiner Tränen auf Lyias Wange tropfte.
Eine sanfte Hand strich ihm durchs blaue, zottelige Haar. „Sei einfach nur für mich da. Das reicht mir vollkommen.“ Es war Lyias beruhigende Stimme. „Wie geht es dir?“, fragte Ryan besorgt. Sie lächelte leicht. „Es wird schon, keine Sorge. Du weißt doch, ich bin ein unsterblicher Geist. Ein solcher Kratzer wird daran nichts ändern.“ Ryan überfielen viele Fragen, doch er durfte sie nicht belasten. Zuerst musste sie genesen, dann konnte er Antworten auf seine Fragen verlangen. „Dich beschäftigt etwas nicht wahr?“ Ryan schüttelte den Kopf und setzte ein Lächeln auf. „Wie kommst du darauf? Es ist alles in Ordnung.“ Enttäuscht wandte sich Lyia ab. Warum nur belog er sie? Vertraute er ihr nicht? „Warum?“, fragte sie schließlich, woraufhin Ryan die Stirn runzelte. „Warum was?“ „Wieso belügst du mich?!“, platzte sie heraus. Sie richtete ihr vor Enttäuschung wütendes Gesicht auf ihn und wartete auf seine Erklärung. Ryan entgegnete nichts. Er hatte ihre Frage noch nicht richtig realisiert, schon warf sie ihm weitere hinterher. „Ich weiß doch, dass dich etwas beschäftigt, wieso also sagst du es mir nicht? Vertraust du mir nicht?“ Langsam bildeten sich Tränen in ihren Augen, woraufhin Ryan reagierte. Bedacht zog er sie an sich und hielt sie im Arm. „Wie kommst du nur darauf, dass ich dir nicht vertrauen würde? Ich mache mir Sorgen um dich. Du bist verletzt, daher möchte ich dich mit meinen Fragen nicht unter Druck setzen. Die Antworten können warten, deine Gesundheit nicht. Außerdem könnte ich dich dasselbe fragen.“ Ihr Gesicht in Händen blickte er ihr in die rubinroten Augen. „Wieso hast du mir nichts von der Sache mit Ebony erzählt?“ Ihre Tränen flossen in Strömen. „Ich wollte dich nicht verlieren…Ich dachte wenn du erfährst, dass ich eine Mörderin bin, gibst du dich mit mir nicht mehr ab. Seit ich verflucht bin, hatte sich niemand in meine Nähe getraut. Alle mieden und hassten mich, aber dann kamst du. Schließt dich mir an und verspürst keinerlei Hass wenn du mich ansiehst. Seit langem verspürte ich wieder Hoffnung auf ein normales Leben. Ich dachte, dass ich dich abschrecken würde, deshalb habe ich es dir verschwiegen, es tut mir so Leid. Ich wollte es dir ja sagen, aber ich schaffte es nicht. Verzeih mir.“ „Schon gut, ich verzeihe dir. Schließlich hattest du deine Gründe, wie ich. Somit sind wir quitt. In Ordnung?“ Ein Lächeln bildete sich in seinem Gesicht. Dankend fiel sie ihm in die Arme und ihre Tränen versickerten. „Eines interessiert mich jedoch.“, fing Ryan an. „Wie kommt es, dass ich dich, einen Geist plötzlich berühren kann?“ Kurze Zeit herrschte Stille, dann fuhr Lyia ihm über die Bauchdecke. „Ist dir diese Narbe schon aufgefallen?“ Ryan nickte. „Ich habe dich im Kampf verletzt. Ich schnitt dir den Bauch zu tief ein, sodass du verblutet wärst, wenn ich dir nicht geholfen hätte.“ „Und was genau hast du getan?“ Sie setzte sich auf und löste den Mantel, woraufhin Ryans Einschnitt in ihren Brustkorb sichtbar wurde. Langsam öffnete sie den Reißverschluss ihres Militäranzugs. Dort, wo vor kurzem noch eine tiefe Fleischwunde war, erstreckte sich nun nur noch eine schmale Narbe. „Habe ich dir diese Wunde zugefügt?“, wollte Ryan wissen. Wie er erwartet hatte nickte Lyia. „Es war dein Körper, aber nicht dein Geist. Ich weiß, dass du mir niemals etwas antun würdest.“ Erfreut über ihre Antwort atmete er auf. „Wie du weißt, bin ich unsterblich. Damit ich selbst die schlimmsten Wunden überlebe, besitzt mein Blut die Heilkunst. Wir sterben zwar, aber unser Blut regeneriert unseren Körper, sodass wir weiterleben. Dies ist der Grund, weshalb du bei unserer ersten Begegnung meinen Puls nicht spüren konntest. Denn im Grunde war ich tot. Für uns ist dieser Zustand des Sterbens nur ein kurzer Schlaf. Während wir schlafen, schließt unser Blut alle Wunden. Anschließend erwachen wir, als wäre nichts gewesen.“ Verwirrt sah er sie an. „Ich kann dir nicht ganz folgen.“ Sie lächelte, als ob sie es erwartet hätte. Dann nahm sie Ryans Hand und legte sie auf ihren Brustkorb. „Was spürst du?“, fragte sie. Ryan lief rot an. Das willst du nicht wissen, dachte er, woraufhin Lyia wieder zu lachen anfing. „Das meinte ich nicht. Konzentriere dich.“ Konzentrieren? Wie stellte sie sich das vor? Seine Handfläche ruhte auf ihrer Brust. Welcher erwachsene Mann würde nicht verrückt werden? Doch dann fiel ihm auf, was Lyia meinte. Ihr Herzschlag fehlte. Entsetzt blickte er sie an. „Ja so ist es. Mein Herz hat zu schlagen aufgehört, als mich der Fluch befiel. Im Gegenzug bekam ich ewiges Leben.“ „Aber was hat das mit mir zu tun?“, unterbrach er sie. „Mein Blut hat dich zwar gerettet, aber gleichzeitig auch bestraft.“ Ryan verstand nicht. Schnell zog Lyia den Dolch aus ihrem Stiefel und schnitt ihre Handfläche ein. Dann schnitt sie auch Ryans Handfläche ein, wobei er vor Schmerz zusammenzuckte. Das Blut, das aus ihren Wunden strömte war blau. „Dieses blaue Blut, ist das Blut der Verfluchten. Es unterscheidet uns von anderen Menschen, da es, wie ich dir bereits erklärt habe, die Macht des Heilens besitzt.“ „Soll das etwa heißen, dass ich…wie du…?“, Ryan kostete es viel Mühe seinen Gedanken auszusprechen. Lyia nickte. „Du bist durch mein Blut, das dich gerettet hat, ebenfalls verflucht worden. Allerdings nur in der Hinsicht, dass du nun, wie ich unsterblich bist.“ „Heißt das, dass ich jetzt ein Geist bin? Bin ich für andere Menschen unantastbar?“ Zu Ryans Erleichterung schüttelte sie den Kopf. „Deine irdische Lebenszeit ist noch nicht abgelaufen, daher bist du noch lebendig und somit für andere berührbar. Es sei denn du stirbst.“ Ryan verlor den Faden. Hatte sie vorhin nicht noch behauptet, dass das Blut sie heile und sie daher unsterblich wären? „Nun denk doch mal nach. Ich sagte, dass unser Blut uns heilt und wir nach dem Tod zwar wieder erwachen, aber in deinem Falle wäre es so, dass du dein irdisches Leben verlierst und genau wie ich als Geist wieder erwachst. Im Sinne von unsterblich meine ich somit deinen Geist. Der Körper ist vergänglich, aber da unser Geist eine Hülle braucht, um uns überhaupt sichtbar zu machen, regeneriert unser Blut unseren Körper.“, ergänzte Lyia, als sie bemerkte, das Ryan ihr nicht folgen konnte. Ryan ging ein Licht auf. Endlich verstand er, woraufhin sie hinaus wollte. „Aber wieso kann ich dich trotzdem berühren, obwohl meine Lebenszeit noch nicht abgelaufen ist und ich daher immer noch ein Mensch bin?“, fragte er erneut. „Das blaue Blut, es verbindet uns. Du musst dir das so vorstellen: Das blaue Blut, welches nun in deinen Adern fließt, ist ursprünglich das Blut unseres Geistes. Und da dein Geist deinen Körper als unvergängliche Hülle braucht, wechselte dein Blut die Farbe in blau.“ Langsam aber sicher, wurde Ryans Blick ernster. „Und was bedeutet das genau?“ Lyia senkte den Kopf. „Dein Geist wird erst wieder frei sein, wenn wir Verfluchten unsere Mission erfüllt haben. Du bist diesem Schicksal schutzlos ausgeliefert, ebenso wie ich.“ Ryan erhob und entfernte sich von ihr. Lyia wusste, dass dies ein harter Schlag für einen Menschen war. Sie selbst hatte genauso reagiert. Sie konnte verstehen, warum Ryan sich nun von ihr distanzierte. Sie hatte ihn seiner Freiheit beraubt und abhängig von ihren Fähigkeiten gemacht. „Ryan…!Ich…“ Doch Ryan winkte ab. „Ich möchte gern einen Augenblick allein sein.“ Lyia nickte. Sie musste seine Entscheidung akzeptieren. Auch wird sie zur Akzeptanz gezwungen sein, wenn er sich entschied sich von ihr zu trennen. Er hatte zumindest alle Gründe dazu, doch wenn es eines gab, was sie von ihm gelernt hatte, dann ist es ihm zu vertrauen.
Nachdenklich schlenderte Ryan durch das Dickicht. Unsterblich. Ist das nun gut oder schlecht? Soll ich mich freuen und ihr danken, oder soll ich sie dafür verachten? Was soll ich nur tun? Ryan war ratlos. Einerseits freute er sich unsterblich zu sein, da er nun für immer mit Lyia zusammen sein konnte, andererseits hieße das für ihn, dass er mit ansehen musste, wie all seine geliebten Menschen starben. Doch war das wirklich so wichtig? Hatte er überhaupt noch Menschen, die er liebte? Ganz davon abgesehen, gab es noch Menschen, die ihn liebten? Hatten seine geliebten Menschen sich vielleicht sogar schon von ihm abgewandt, da er einem verfluchten Mädchen folgte? Wenn er sich entscheiden würde Lyia zu verlassen, lohnte es sich für ihn zurück in sein Heimatdorf zu kehren? Würde er dort herzlich aufgenommen werden, oder würden sie ihn verstoßen? Doch die Frage, die ihm am Meisten Kopfzerbrechen bereitete, war, ob er Lyia, die er zu lieben gelernt hatte, überhaupt verlassen konnte. War es wirklich so schlimm, was sie tat? Sagte sie nicht, dass er gestorben wäre, wenn sie ihm nicht geholfen hätte? Ja das hat sie. Sie hat mir mein Leben gerettet. Ich kann sie dafür doch nicht verachten, außerdem liebe ich sie doch. Er fällte seine Entscheidung schnell. Er konnte einfach nicht mehr ohne sie, doch wie stand er zu ihr? Empfand sie genauso? Es gab nur eine Möglichkeit es raus zu finden, doch dafür benötigte er viel Geduld. Die Zeit würde kommen, er durfte nur nicht aufgeben.

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