Die Verfluchten - Eine Strafe des Himmels
von Christine Eisner

Kapitel
 

Stillschweigend liefen Kato und Screw über Sinons Straßen. Auf Screws Wunsch hin kehrten sie zurück zu dem Ort, an dem alles seinen Ursprung hatte. Gezielt gingen sie zum Zentrum der Stadt, wo sie Sin auffinden würden, der vor sieben Jahren in der Stadt zurückblieb, um auf Lyia zu warten. Doch in all den Jahren, die sie ihre Kameraden verließ, kehrte sie nie wieder zurück.
Plötzlich spürten sie eine Erschütterung und blieben stehen. Ein weißer Lichtstrahl erhellte über ihnen den Horizont. „Was ist das?“, fragte Screw verblüfft. „Ich weiß nicht, aber es kommt eindeutig aus dem Zentrum.“ Kaum hatte Kato seinen Satz vollendet, so lief er auch schon los. Nach wenigen hundert Schritten erreichten sie Sinons Krallensäulen. Sin kniete vor dem hellen Strahl und erhob sich, als er ihre Schritte vernahm. Lächelnd und mit Tränen in den Augen wandte er sich zu ihnen um. „Es ist vorbei. Unsere Mission ist erfüllt.“ Fassungslos standen sie sich gegenüber und sanken zu Boden. „Vorbei…unser Leid hat ein Ende.“ Screw fing an zu weinen. Freudentränen liefen ihnen über die Wangen, doch Kato saß abwesend auf dem jahrtausende altem Pflasterboden. Lyia, du hast es geschafft. „Doch eines fehlt uns noch, um unser ursprüngliches Leben wieder zu erlangen.“, meinte Sin schließlich. „Was soll das heißen? Haben wir denn nicht alle Dunklen Seelen in uns aufgenommen? Was fehlt denn noch?“ „Lyia.“, sagte Kato und beantwortete Screws Frage. Er erhob sich und zog seinen Dolch, womit er seine Handfläche einschnitt. Aus seiner Wunde tropfte blaues Blut, das Blut der Verfluchten. „Ohne Lyia werden wir nicht erlöst.“ Sin nickte. „Wir müssen sie finden und wenn nötig mit Gewalt hierher bringen.“ „Heißt das…, dass wir…dass sie…“, Screw vollendete seinen Satz nicht, doch das brauchte er auch nicht, denn Kato und Sin wussten, was er sagen wollte. Kato klopfte ihm auf die Schulter. „Ja, das heißt es. Die Zeit ist gekommen. Sie muss ihre Pflicht erfüllen.“ Still sickerte Screw eine Träne aus dem Auge, doch auch er wusste, dass es nicht anders ging. Sie waren der Erlösung zum Greifen nahe. „Weißt du, wo wir sie auffinden können?“, fragte Kato an Sin gewandt. Dieser überlegte kurz, bevor er antwortete. „Nun die letzte Dunkle Seele wurde nicht weit weg von hier absorbiert. Ich vermute, dass sie sich nordöstlich von hier befindet, doch ich kann für nichts garantieren.“ Kato nickte und brach wieder auf. „Wir müssen es wagen. Sin, du bleibst notfalls noch mal hier zurück. Wer weiß, vielleicht ist sie sogar schon auf dem Weg hierher.“ Sin nickte. „Ich begleite dich.“, sagte Screw und erhob sich, um zu Kato zu treten. Dann machten sie sich wieder auf den Weg, um Lyia zu suchen, denn nur mit ihrer Hilfe würden sie ihr lang ersehntes normales Leben wieder erlangen. Somit war sie für die drei von nun noch höherer Wichtigkeit, als sie es ohnehin schon war.

Immer noch schläfrig öffnete Lyia die Augen und drehte ihren Kopf auf dem bequem gepolsterten Kissen. Dabei bemerkte sie Ryan, der an ihrer Seite auf dem Boden kniete und schlafend ihre Hand hielt. Bei diesem Anblick lächelte sie leicht. Mittlerweile war es für sie Routine geworden, dass Ryan neben ihr lag, wenn sie erwachte. Wäre dies nicht der Fall, so wäre etwas nicht in Ordnung. Er hatte einen Platz in ihrem Herzen eingenommen und lebte mit ihr tagein, tagaus. Ja, er wuchs zu etwas sehr Besonderem für sie heran.
„Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht.“, sagte Azzuras Mutter, die soeben mit einer Tasse Tee zur Tür herein kam. „Ihr müsst ihm sehr viel bedeuten.“ „Ja, er bedeutet mir auch sehr viel.“, gab sie zurück. Die Frau runzelte die Stirn. „So? Dann seid Ihr bestimmt seine Freundin.“ Lyia schüttelte den Kopf. „Nein, das bin ich nicht. Er liebt mich zwar, aber ich kann seine Liebe nicht erwidern.“ Sie nahm den Tee dankend, aber auch vorsichtig entgegen, den die Frau ihr reichte. „Ihr meint, weil Ihr verflucht seid?“ Lyia traute ihren Ohren nicht. Sie weiß es… „Ihr wisst, dass ich…? Aber warum… warum seid Ihr… ich meine…habt Ihr denn keine Angst vor mir? Ich bin schließlich eine Verfluchte…“ Lyia verstand die Welt nicht mehr. Die Frau kicherte leise. „Macht Euch darüber keine Gedanken. Ryan hat uns alles erklärt.“ Doch Lyia verstand noch immer nicht. „Warum helft Ihr uns? Wieso gebt Ihr uns eine Unterkunft und versorgt uns, obwohl Ihr wisst, dass ich verflucht bin? Eine Erklärung von Ryan kann nicht alles gewesen sein. Weshalb glaubt Ihr uns?“
„Ihr habt Azzura gerettet. Ohne Euch wäre sie heute vielleicht nicht mehr.“ Der Ehemann der Frau trat ein und trug Azzura, die im Gegensatz zum Vortag einen stärkeren Eindruck machte, zum Zimmer herein. „Reicht Euch dies als Erklärung nicht?“ Er durchquerte das Zimmer und setzte Azzura schließlich auf dem Sessel ab. „Guten Morgen Miss. Geht es Euch heute besser?“, fragte sie an Lyia gewandt. Sie nickte nur. Das ist ein Traum. Wieso haben sie keine Angst vor mir? „Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?“, erkundigte sich Lyia bei der Kleinen, doch diese strahlte nur. „Dank Euch geht es mir wieder besser. Zwar bin ich noch leicht erkältet, aber das ist nicht mehr so schlimm. Dank Eurer Hilfe kann ich nun wieder meiner Mutter helfen. Vielen Dank.“, antwortete sie schließlich. Ihre Eltern nickten und bedankten sich ebenfalls. Danke – wie lange habe ich darauf gewartet? Ein einziges Wort und doch höre ich es zum ersten Mal. Nicht einmal Ryan hatte dieses Wort mir gegenüber erwähnt. Letztendlich brach sie in Freudentränen aus. Sie konnte es einfach nicht glauben. Sie wurde von anderen Menschen akzeptiert.
Durch Lyias schluchzen wachte Ryan auf und sah sie bestürzt an. „Was ist los? Was hast du?“, fragte er, doch Lyia fiel ihm stillschweigend um den Hals. Verwirrt nahm er sie in den Arm und blickte zu den Restlichen, aber auch sie wussten nicht was mit ihr war. „Schhh ist ja gut. Beruhige dich.“, meinte er und streichelte ihr durch das Haar. „Was ist los?“, fragte er erneut und diesmal sah sie Ryan ins Gesicht. „Ach Ryan ich bin so froh. Noch nie wurde ich von anderen Menschen akzeptiert. Immer wurde ich gehasst und verjagt, doch seitdem du bei mir bist, hat sich alles geändert. Durch dich erlange ich ein normales Leben wieder, ich bin ja so froh, dass ich dir begegnet bin.“ Endlich verstand er. „Das steht dir auch zu.“, meinte er und küsste ihr die Stirn. Lyia wehrte sich nicht, denn plötzlich überrannte sie ein seltsames Gefühl. Ein Gefühl, dass sie noch nie gefühlt hatte und sie stellte sich nur eine einzige Frage: Ist dies ein Gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Nachdem Ryan und Lyia mit der Familie gespeist und sie anschließend ein Bad genommen hatten, wurde Ryan mit frischen Kleidern ausgestattet und Lyias Militäranzug geflickt. Zusätzlich bekamen sie Proviant und Mäntel mit auf ihre Reise. Erholt standen sie danach vor der Haustüre und bedankten sich für ihre Gastfreundschaft, doch diese winkten wieder ab und meinten, dass es das Mindeste war, was sie hätten tun können. „Gebt auf euch Acht. Ich wünsche euch weiterhin alles Gute, auf das der Fluch bald von dir ablässt Lyia.“, äußerte sich die Frau. Lyia bedankte sich ein weiteres Mal und verbeugte sich. Sie verabschiedete sich von Azzura und schlug anschließend den Weg ein. Ryan wollte ihr folgen, doch der Mann hielt ihn ein letztes Mal auf. „Ryan ein guter Rat von mir: Gib nicht auf. Denn wenn sie Trauer und Freude empfinden kann, dann besitzt sie sehr wohl Gefühle. Vielleicht hat sie einfach nur nie gelernt, was Liebe ist.“ Ryan dachte über seine Worte nach und stellte fest, dass er Recht hatte. Er nickte. „Danke, ich werde es mir zu Herzen nehmen.“ Dann trat er zu Lyia, die die Worte über Gedankenübertragung vernahm und ins Denken verfiel. Er hat Recht, dachte sie, doch ließ sich nichts anmerken. Sie winkten zum Abschied und wandten sich ihrem Weg wieder zu. Ihnen entgegen kamen zwei Männer, gekleidet in weiße Kutten, die Ryan im Vorübergehen grüßte. Diese grüßten zurück und erkundigten sich bei Azzuras Eltern, wer sie waren. „Das sind Ryan und Lyia. Sie hatten über die Nacht eine Unterkunft gesucht und da sie unsere Tochter von einer Dunklen Seele befreiten, boten wir ihnen ein Zimmer in unserem Haus an.“, gab der Mann zurück. „Ihr habt einer Verfluchten Unterkunft gegeben?!“, fragte einer der Männer entsetzt, als diesem Lyias Militäranzug auffiel. „Seid Ihr die Heiler?“, erkundigte sich die Frau, woraufhin diese nickten. „Nun dann kommt Ihr sicher weit herum in Sira. Bitte verkündet allen Menschen auf Sira, dass die Verfluchten herzensgute Menschen sind und zu Unrecht gehasst werden. Lyia ist ein wundervoller Mensch, das sollten alle erfahren.“
Vor dem Dorf blieb Lyia plötzlich stehen und blickte zurück. Eine Träne sickerte ihr über die Wange. „Was hast du?“, wollte Ryan wissen. Mit feuchten Augen blickte sie ihn an. „Nichts. Ich bin nur froh, das ist alles.“ Schließlich lächelte sie und ging weiter. „Was war das für ein Dorf?“, fragte sie nachdenklich. „Ich meine wie heißt es?“ Ryan dachte kurz nach und schließlich erinnerte er sich. „Zipora, das meinte zumindest Azzuras Vater.“, gab er zurück. Lyia lächelte. Mögen die Bewohner von Zipora gesegnet sein.
Wieder durchquerten sie Felder und Abhänge, bis sie erneut Rast machten. Lyia hatte die ganze Zeit über geschwiegen und Ryan wollte sie zu nichts drängen, daher sagte auch er nichts, doch nun musste er unbedingt erfahren, was mit ihr los war. „Du bist so still, hast du etwas, was dich bedrückt?“ Verwundert über seine Frage sagte sie nichts. „Ich meine, du bist doch sonst nicht so geistesabwesend.“ „Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich habe das Gefühl, als hätte sich mein ganzes Leben in der vergangenen Nacht um hundertachtzig Grad gedreht. Es ist plötzlich alles so fremd. Sie haben mir gedankt und behauptet, dass ich ein guter Mensch bin. Dass ich zu Unrecht verflucht bin, das alles ist so neu für mich.“ Allmählich verstand er. Sie bekam nach 2454 Jahren wieder Anerkennung. Das musste sie erst einmal verarbeiten, doch stellten sich ihm wieder unzählige Fragen. „Meinst du, dass du trotzdem in der Lage bist mir meine Fragen zu beantworten?“, fragte er vorsichtig. „Wieso sollte ich es nicht sein?“ Ryan kratzte sich am Hinterkopf. „Nun ja, vielleicht brauchst du erst einmal ein bisschen Zeit für dich selbst. Schließlich machst du in letzter Zeit viel durch und…“ „Ach quatsch!“, unterbrach sie ihn. „Ich habe schon ganz andere Dinge verarbeiten müssen. Also, was für Fragen hast du? Nein, warte! Lass mich raten. Es geht um das Ritual, nicht wahr?“ Ryan nickte verblüfft. „Nun, wo fange ich an. Wie du sicher gemerkt und gesehen hast, müssen die Verfluchten ein bestimmtes Ritual durchführen, um die Dunkle Seele aus dem Körper der besessenen Person herauszulocken. Dazu müssen wir unseren Körper zur Verfügung stellen.“ Ryan hob die Hand als Zeichen dafür, dass er eine Frage hatte. „Ja Ryan?“ „Wenn ihr euren Körper aber zur Verfügung stellt und die Dunkle Seele dann in euch fährt, werdet ihr dadurch nicht selbst besessen?“ Lyia lächelte. „Gut aufgepasst, aber nein, keine Sorge. Wir sind Verfluchte. Somit ist es unsere Aufgabe die Dunklen Seelen zu sammeln und sie in unserem Körper, oder besser gesagt in unserem Geist, zu versiegeln. Doch natürlich kann es passieren, dass auch wir besessen werden können. Das passiert jedoch nur, wenn unser Geist zu viele Dunkle Seelen festhält. Diese können die Kontrolle über uns gewinnen, weil sie an unserem Geist nagen, verstehst du?“ Ryan schüttelte den Kopf, woraufhin Lyia in Gelächter verfiel. „Das dachte ich mir schon. Also es ist so: Auch Dunkle Seelen sind Lebewesen, demnach benötigen auch sie Nahrung, allerdings ernähren sie sich von dem Geist der Menschen. Wenn also viele Dunkle Seelen an unserem Geist nagen, kann es passieren, dass sie unseren Geist übernehmen und die Kontrolle über uns gewinnen. Wir werden besessen.“ „Aber spürt ihr das auch? Ich meine ihr müsst doch merken, ob ihr die Kontrolle verliert, oder etwa nicht?“ Lyia dachte nach, doch sie konnte seine Frage nicht beantworten. Sie schwieg, woraufhin Ryan sie erneut befragte. „Ja.“, sprach plötzlich eine Stimme. Beide wandten sich der Stimme zu. Lyia stockte der Atem. Sie erhob sich und trat ein paar Schritte zurück. Ryan musterte die zwei Fremden, von denen er annahm, dass es Lyias Kameraden waren, da sie die gleiche Uniform trugen, allerdings in der Farbe blau. „Ja wir spüren, wie wir die Kontrolle über unseren Körper verlieren. Wir werden von Schmerzen befallen, die sich über unseren gesamten Körper ausbreiten, doch wer einen starken Willen besitzt, kann die Dunklen Seelen in sich bezwingen.“, erklärte der Vordere. Er hatte rote Haare, die wild abstanden und war etwas größer als Ryan. Auch er hatte auf seiner Schulter das Emblem der Geheimorganisation mit den Initialen SF und trug sämtliche Waffen mit sich herum. Darunter befanden sich Katare (=Unterarmklingen), die außergewöhnlich verziert waren. Seltsame Symbole waren in den Stahl hineingraviert worden, wie auch die Initialen von ‚Siras Future’. Der Griff war golden und wie Ryan vermutete, waren diese Katare eine Einzelanfertigung.
Der Zweite von ihnen trug dieselbe Kleidung, doch besaß er einen Bogen, den er auf seinem Rücken trug und eine Armbrust, die er an seinem Gürtel befestigt hatte. Seine Augen waren grün, wie sein Haar, das wild zerzaust war und mit dem Wind leicht mitwippte.
„Was wollt ihr?“, fauchte Lyia plötzlich. „Begrüßt man etwa so nach sieben langen Jahren die eigenen Kameraden?“, gab der Rothaarige zurück. „Was wollt ihr Kato!?“ Er stemmte die Arme in die Hüfte. „Dich holen Lyia.“, antwortete er. Plötzlich zog Lyia ihre Sai. „Und warum?!“ Der Grünhaarige trat vor. „Weil es vorbei ist. Du hast die letzte Dunkle Seele absorbiert. Der Fluch ist fast gebrochen.“ Lyias Blick wurde leer. Vorbei…? Der Fluch…gebrochen? Heißt das etwa…, dass ich Ryan verlassen muss? Kato trat vor und nahm Lyia in den Arm. „Du weißt, dass ich dich liebe und das wird auch immer so bleiben. Ich bitte dich Lyia: Komm mit uns und erfülle deine Pflicht.“ Er küsste sie auf die Stirn, was Ryan sehr verwunderte. In seinen Augen spiegelte sich Eifersucht, deshalb ging er auf Kato zu und trennte ihn von Lyia. Entschlossen stellte sich Ryan ihm gegenüber, doch dieser sah ihn geschockt an, ebenso wie der Grünhaarige. „Er kann uns berühren?! Lyia…du hast doch nicht etwa…“ Sie sank zu Boden. „Ich…ich hatte keine andere Wahl. Er wäre sonst gestorben.“ „Schon gut.“, meinte Kato, doch sein Kamerad protestierte. „Das tut nichts mehr zur Sache Screw. Der Fluch ist ohnehin gebrochen, es sei denn er hat sein irdisches Leben bereits verloren.“ Ryan schüttelte den Kopf. „Um so besser. Keine Sorge du erhältst dein normales Leben wieder. Ich bin übrigens Kato.“ Er reichte Ryan die Hand, die er nur zögernd annahm. „Ryan.“, stellte er sich ebenfalls vor. „Also Ryan, danke, dass du auf Lyia aufgepasst hast, aber nun heißt es Abschied nehmen.“ Bestürzt sah Ryan zu Kato und anschließend zu Lyia, doch diese wandte den Blick von ihm ab. „Was soll das heißen? Lyia was meint er mit Abschied?“ Sie brach in Tränen aus. „Er hat Recht. Es wäre besser, wenn wir ab jetzt getrennte Wege gehen würden.“ Ryan kniete sich zu ihr runter und nahm ihr Gesicht in seine Hände, sodass sie gezwungen war ihm in die Augen zu sehen. „Wieso sagst du so etwas? Gibt es irgendwas, worüber ich noch nicht über euch Verfluchten Bescheid weiß? Sag mir die Wahrheit!“ In seiner Stimme staute sich Verzweiflung und Wut. Lyia konnte es ihm nicht sagen, stattdessen rannen ihr weitere Tränen über die Wangen. Schließlich trennte Kato sie wieder voneinander. „Lyia ich muss mit dir reden, allein.“ Ryan jedoch wollte sie nicht los lassen, daher musste Screw ebenfalls eingreifen. „Lyia sag mir, was hier vor sich geht! Was wollen sie von dir?!“ Nach langem Ringen mit Screw sank er schließlich zu Boden. „Was wollt ihr von ihr?“ Screw blickte ihn verwundert an. „Hat sie dir das denn nicht gesagt? Sie ist eine Verfluchte. Ihre Aufgabe besteht darin die Sünden wieder rein zu waschen. Dieses Ziel hat sie erreicht, doch der Fluch wird erst von uns genommen, wenn Lyia ihre Pflicht erfüllt. Deshalb brauchen wir sie.“ Schon kurz nach seiner Antwort bemerkte er, dass seine eigentliche Frage war, welche Pflicht sie erfüllen muss. „Es ist ihre Pflicht Shin die Dunklen Seelen zu bringen. Das schafft sie jedoch nur, wenn wir ein bestimmtes Ritual durchführen, in dem Lyia…“ Screw stockte. Nicht einmal er vermochte zu sagen, was mit ihr geschehen würde. „Screw, hörst du mich?“ Per Telepathie vernahm er plötzlich Lyias Stimme. Er blickte zu ihr hinüber und nickte. „Screw ich bitte dich, sag es ihm nicht.“ „Aber irgendwann musst du es ihm sagen.“ Langsam entwickelte sich ein Gespräch durch ihre Gedanken. „Ich weiß. Doch der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Bitte sag es ihm noch nicht.“, bettelte Lyia ihn an. Screw nickte leicht. „Du hast dich sehr verändert in diesen sieben Jahren, aber wie du willst.“ „Screw, so heißt du doch?“, meldete sich Ryans traurige Stimme wieder zu Wort. „Du hast deinen Satz nicht zu Ende gebracht. Was ist mit dem Ritual? Was geschieht dann mit Lyia?“, wollte er wissen, woraufhin Screw sich wieder an ihn wandte. „Sie wird starke Schmerzen leiden, weil wir alle Dunklen Seelen auf sie übertragen müssen.“, antwortete er. „Aber ist das nicht gefährlich?“ Screw nickte wieder. „Wir vertrauen auf sie. Wenn jemand einen starken Willen hat, dann sie.“ Ryan stimmte ihm zu, fragte jedoch, warum er Abschied von ihr nehmen musste. „Du bist kein Verfluchter, demnach kannst du die Ruinen von Sinon nicht betreten, das vermuten wir zumindest. Nicht umsonst ist diese Stadt in Vergessenheit geraten. Sie ist für normale Sterbliche nicht zu sehen.“
Nachdem Kato Lyia weit genug von Ryan gebracht hatte, ließ er sie endlich los. „Was sollte das Lyia? Wieso hast du Screw gesagt, dass er ihm nicht die Wahrheit sagen soll? Antworte!“ Sie wandte den Blick von ihm ab. „Weil ich es nicht ertrage Ryan traurig zu sehen. Er hat mich dauernd zum Lachen gebracht und ich bringe ihn nur zum Weinen, das will ich nicht.“ Kato packte sie unsanft an den Schultern. „Du wirst ihn aber früher oder später zum Weinen bringen müssen, oder hast du schon vergessen, was uns Sin vor sieben Jahren erzählt hat? Du musst es ihm sagen.“ „Nein!“ Sie löste sich von ihm. „Ich will das nicht! Ich will nicht länger eine Marionette sein. Ich habe mein Leben bereits gefunden, mit Ryan! Ich will nicht mehr!“ Katos Blick wurde ernst. „Heißt das, dass du uns, deine Kameraden im Stich lässt? Wegen ihm? Lyia ich glaube du begreifst den Ernst der Lage nicht. Du bist verflucht! Eine Gepeinigte von Shin, wie wir und somit unsterblich.“ „Glaubst du das weiß ich nicht? Aber versteh doch, er ist mir wichtig. Ich will ihn nicht verlassen. Mit seiner Hilfe schaffen wir es ein normales Leben zu führen. Er hat Menschen davon überzeugen können, dass wir gute Menschen sind, dass wir zu Unrecht verflucht wurden.“ Kato holte aus und brachte sie mit einer Ohrfeige zum Schweigen. „Hör dich doch nur mal reden. Du benutzt ihn! Hast du ihn deshalb an dein Schicksal gebunden? Damit du mit ihm leben kannst?“ Lyia fing zu weinen an. „Das ist nicht wahr. Ich habe ihm nur helfen wollen. Er hat sich so oft für mich eingesetzt, da konnte ich ihn nicht einfach sterben lassen. Er ist mir als Einziger aus freien Stücken gefolgt. Er wollte mehr über uns Verfluchte herausfinden, deshalb habe ich ihn mitgenommen. Er liebt mich Kato.“ Ihm liefen Tränen über die Wangen. „Glaubst du etwa, dass wir es nicht tun? Screw hat es dir schon vor Ewigkeiten gebeichtet und ich liebe dich auch, das weißt du doch. Bedeuten wir dir etwa gar nichts?“ Sie fiel ihm in die Arme und schluchzte. „Natürlich bedeutet ihr mir viel, ich liebe euch, aber ihr seht in mir nur das Mittel zum Zweck. Ich habe es vor sieben Jahren gespürt Kato, ihr wollt meinen Tod. Deshalb habe ich euch verlassen. In den ganzen sieben Jahren habe ich versucht mich mit meinem Schicksal abzufinden, bis es mir tatsächlich gelungen war. Ich hatte nur noch das Ziel alle Seelen einzufangen, für euch, aber dann bin ich Ryan begegnet. Er veränderte mein gesamtes Leben und nun will ich das alles nicht mehr. Versteh doch Kato, ich möchte leben, für Ryan und mit Ryan.“ Kato löste sich von ihr. „Nun wenn das so ist…dann habe ich keine andere Wahl.“ Schnell zog er einen seiner Katare und lief auf Ryan los. „Kato nein!“ Ryan drehte sich nach dem Schrei um und erblickte Kato, der auf ihn zuraste. Er holte mit seinem Katar aus und stieß zu. Langsam floss blaues Blut über die Klinge und tropfte zu Boden. Entsetzt blickte Kato in Lyias Gesicht. Ryan stand hinter ihr und konnte es kaum fassen. Lyia hatte sich wie ein Schild vor ihn gestellt und fing die Klinge mit ihrem eigenen Körper ab. „Warum?“, fragte Kato, während ihm eine Träne aus dem Auge sickerte. „Warum hast du das getan?“ Doch sie lächelte nur leicht und fiel zu Boden, wo Ryan sie auffing. Sein Blick war vollkommen entsetzt. Screw hatte wie Ryan nicht alles realisieren können und stand zu seiner Rechten. „Lyia…sag doch was…“, bettelte Ryan schließlich. Kato zog die Klinge zurück und kniete sich zu ihr runter. „Du Dummchen! Warum hast du das gemacht?!“ Sie röchelte. „Ka..to…bitte ver…zeih, a..ber ich, i-ich lie..be ihn. Du…darfst ihm ni..chts an..tun. I-ich bit..te dich.“ Anschließend schloss sie die Augen und starb in Ryans Armen. „Nein, Lyia! Tu mir das nicht an. Komm zurück!“ Screw stützte Kato, der fassungslos vor ihrer Leiche kniete. „Keine Sorge.“, meinte Screw schließlich zu Ryan. „Sie wacht bald wieder auf. Schließlich ist sie verflucht.“ Er trug Kato von den beiden fort und setzte ihn ein Stück weiter wieder ab. „Sie will nicht mit uns kommen.“, sagte Kato schließlich. Screw lächelte. „Also Kato wirklich. Du brauchst dich doch vor mir nicht zu rechtfertigen. Ich weiß, dass du Ryan erwischen wolltest, aber vergiss nicht: Er besitzt noch sein irdisches Leben. Wir müssen sie anders dazu umstimmen mit uns zu kommen. Mit Gewalt erreichst du nichts, vor allem nicht bei Lyia. Das müsstest du, als ihr Bruder eigentlich wissen. Wir müssen ihren Wunsch akzeptieren, oder aber wir nehmen Ryan mit.“ Er warf einen Blick zu Ryan, der Lyia in seinen Armen wog. „Ich würde gern einen Moment allein sein.“, meldete sich Kato wieder. Screw nickte verständnisvoll und entfernte sich von ihm.
Bei Ryan wieder angekommen schüttelte er den Kopf. „Es wird schon einen Moment dauern, bis sie erwacht.“ Ryan bedachte Screw mit einem verachteten Blick. „Ihr seid widerwärtig. Glaubt ihr nur weil ihr unsterblich seid, könnt ihr euch gegenseitig abschlachten? Und dann nicht einmal eine Miene verziehen. Als wäre alles in bester Ordnung. Auch wenn sie unsterblich ist, so stirbt sie trotzdem. Wer in diesem Moment nichts fühlt ist kaltherzig.“ Ihm rannen Tränen über die Wangen und Screw fing an zu verstehen. Deshalb liebte sie Ryan und nicht ihn. Er behandelt sie trotz ihrer Unsterblichkeit wie einen normalen Menschen. Er sah in ihr ein Lebewesen, während Screw, Kato und Sin sie wie einen Gegenstand behandelten. „Sag mal Ryan, wie lange kennst du Lyia eigentlich schon?“, fragte Screw neugierig, während er sich zu ihm und Lyia setzte. Ryan sah ihn verwirrt an. „Nur ein paar Tage.“, antwortete dieser knapp. Screw lächelte. „Na dann, gratuliere. Wir haben es nicht geschafft ihr Herz in 2454 Jahren für uns zu gewinnen und du schaffst es in nur ein paar Tagen. Du musst für sie jemand Besonderes sein.“ Ryan dachte über seine Worte nach, dann erinnerte er sich wieder. Sie liebte ihn, das hatte sie selbst gesagt. Fassungslos durchdachte er diesen Gedanken. Der Fluch musste tatsächlich gebrochen sein, denn wie sie ihm erklärt hatte, verfügten Verfluchte über keine Gefühle, es sei denn anderen Kameraden gegenüber, aber sie liebte ihn, einen Menschen seiner Zeit, der durch Lyia an das Schicksal der Verfluchten gebunden wurde.
Schließlich kehrte Kato zu ihnen zurück und streifte durch Lyias Haar. Ihm sickerte eine Träne aus dem Auge, die auf ihre Wange tropfte, als er sich über sie beugte und ihr einen Kuss auf die Stirn heftete. „Bitte verzeih, das wollte ich nicht.“, sprach er und hob sie anschließend vom Boden auf. „Screw wir gehen weiter.“ Dieser sprang sofort auf. „Aber was wird aus ihm?“, fragte er und deutete auf Ryan. Kato drehte sich zu Ryan um. „Wir nehmen ihn mit. Da er nun an unser Schicksal gebunden ist und kein normaler Sterblicher mehr ist, wird er Sinon sehen und betreten können. Außerdem werden wir ohne ihn nicht weit kommen.“ Er sah zu Lyia hinab, die in seinen Armen ruhte. Dann gingen sie los, allen voran Kato mit Lyia. „Screw? Darf ich dich was fragen?“, flüsterte Ryan, worauf Screw ihm einen zustimmenden Blick zuwarf. „In welcher Beziehung steht Kato zu Lyia? Lyia hatte mir nämlich erzählt, dass sie ihm sehr nahe stand.“ Screw konnte sich das Lachen nicht verkneifen, also prustete er los. Nachdem er sich beruhigt hatte klopfte er ihm auf die Schulter. „Keine Sorge, zwischen denen ist nichts wovor du dich fürchten brauchst. Die zwei sind nämlich Geschwister.“ Entsetzt sah Ryan Screw an. „Geschwister?“ Screw nickte. „Aber einen guten Rat gebe ich dir trotzdem: Vor ihm brauchst du zwar nichts zu befürchten, aber vor mir würde ich mich in Acht nehmen, wenn ich du wäre. Ich werbe nämlich schon seit tausenden von Jahren um sie.“

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