Die Verfluchten - Eine Strafe des Himmels
von Christine Eisner

Kapitel
 

Glücklich lief Ryan mit ausgestreckten Armen einem großen und reich verzierten Haus entgegen. „Ein Gasthaus! Sieh mal Lyia ein Gasthaus! Dort gibt es kuscheligweiche Betten und köstliche Speisen. Außerdem soll es dort einen wunderbaren Garten mit Heißen Quellen geben!“ Doch Lyia interessierte das wenig. Sie war mit den Gedanken ganz wo anders. Sie dachte an die Ereignisse, die vor zwei Jahren dieses Dorf heimgesucht hatten. All die hasserfüllten Blicke, die sich in ihr eingebrannt hatten, die Zerstörung, die ihr Auftauchen angerichtet hatte und ihre Sünde, die alles andere in den Schatten stellte.
„Lyia? Was hast du?“ Schlagartig holte Ryan sie zurück in die Gegenwart. „Ni-nichts. Schon vorbei.“ „Du siehst erschöpft aus. Vielleicht sollten wir hier Rast machen, damit du dich hinlegen kannst?“ Doch Lyia schüttelte den Kopf. „Es geht schon. Bitte lass uns weitergehen.“ „Aber du brauchst Ruhe. Du bist blass und ich kämpfe schon seit Stunden mit dem Gedanken, du könntest das Bewusstsein verlieren. Ich mache mir Sorgen um dich! Du weißt, dass ich dir dann nicht helfen kann.“ Ein Strom der Rührung überkam Lyia, aber sie konnte… durfte nicht bleiben. Sie mussten weiter und diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nicht hier.“ Ryan runzelte die Stirn. „Aber warum nicht? Hier gibt es ein erstklassiges Gasthaus.“ „Bitte lass uns weitergehen. I-ich möchte hier nicht bleiben.“ In ihren Augen spiegelte sich eine Träne. Bestürzt versuchte er sie wieder zu beruhigen. „In Ordnung. Du wirst schon deine Gründe haben. Los gehen wir.“ Dankend schritt Lyia durch die Straßen des Dorfes. Sie sah sich nicht um, sondern vergrub ihr Gesicht noch tiefer in dem Schatten ihrer Kapuze. Ryan vermutete, dass sie dieses Dorf bereits kannte. Lyia steigerte ihr Tempo, um all die schrecklichen Erinnerungen hinter sich zu lassen, doch schon im nächsten Moment stellte sich ihr Jemand in den Weg.
„Sagt, was habt Ihr in Vanadis verloren, elender Sünder?“ Lyia biss die Zähne zusammen. Sie kannte diese Stimme und es gab nichts, was sie dazu bringen würde sie je zu vergessen. Sie richtete ihre Augen auf ihren Gegenüber und hoffte, dass er die Geschichte, die sich vor zwei Jahren ereignet hatte, nicht aufblühen ließe. Ryan durfte nicht erfahren was geschehen war. Er war ihre einzige Chance auf ein sorgloses, nicht verhasstes Leben. Sie wollte ihn nicht verlieren. „Ich verweile nicht lange. Bitte lasst mich passieren.“ Lyia machte eine Verbeugung und Ryan hörte ihr aufmerksam zu, denn ihm war die Angst in ihrer Stimme nicht entgangen. Wovor fürchtete sie sich nur? „Das kann ich nicht zulassen. Ich habe nicht vergessen, was vor zwei Jahren geschehen war. Euer Auftreten ist hier unerwünscht.“ „Hey! Was heißt hier unerwünscht?!“, mischte sich Ryan ein. „Wir wollen doch nur weiter.“ „Sage mir junger Mann, weißt du wer, oder was ein Verfluchter ist?“ „Natürlich weiß ich das!“ „Und weißt du auch, dass du in Begleitung eines solchen bist?“ „Ryan, nicht!“, flüsterte Lyia und drängte ihn wieder hinter sich, doch Ryan wollte nicht in Schutz genommen werden. Lyia war es, die in Schutz genommen werden musste. „Lyia mag eine Verfluchte sein, doch letztendlich bleibt sie ein Mensch. Ihr habt keinen Grund so über sie zu richten!“ „Soll das etwa heißen, dass du dich ihrer bewusst angeschlossen hast?“ Ryan nickte entschlossen. „So bedaure ich deine Seele.“ „Bedauern? Nein. Meine Seele darf sich glücklich schätzen ihr begegnet zu sein. Denn ich unterstütze sie. Ich helfe ihr, ihrem Schicksal zu entfliehen.“ „Und dafür wirfst du dein eigenes Leben fort? Für ein bisschen Unterstützung?“ „Ich bitte Euch, lasst uns passieren!“, meldete sich Lyia wieder zu Wort. „Damit Ihr weiterhin Sünden begehen könnt?!“ „Wir waschen sie rein! Ihr hingegen unternehmt nichts in Eurer ‚ach so schrecklichen Lebenslage’! Habt Ihr schon einmal daran gedacht Eure Sünden selbst rein zu waschen? Auch nur einen winzigen Gedanken daran verloren, selbst etwas für die Erlösung der Sünden zu tun?“ „Ich habe die Sünden nicht begangen.“ „Aber Eure Vorväter! Und Lyia muss es für Euch ausbaden!“ „Es ist die Strafe Shins, die den Sündern auferlegt wurde.“ Ein höhnisches Lächeln folgte. „Wir alle sind Sünder. Kein Mensch ist vollkommen, noch wird er es je sein. Merkt Euch das.“, sagte Ryan mit gelassener Stimme, doch Lyia hat seine Wut bemerkt. „Ryan bitte! Lass uns gehen.“ Er blickte in ihre Augen und erblickte eine starke Sehnsucht nach einem anderen Ort. Er gab sich vorzeitig geschlagen und machte kehrt. „Ich komme wieder.“, versicherte er. Lyia folgte ihm stillschweigend durch die Gassen, die sich mit neugierigen Menschen gefüllt haben.
Außerhalb des Dorfes ließen sie sich am Rande des Waldes nieder. Ryan, der noch vor Wut kochte, schmetterte seine Faust gegen einen Baumstamm. „Was fällt diesem Kerl bloß ein uns aufzuhalten?! Wer war das überhaupt?“ Lyia senkte den Blick gen Boden. „Er… er ist sozusagen der Bürgermeister des Dorfes. Er sorgt für die Sicherheit der Bürger. Kein Wunder, dass er uns nicht durchgelassen hat.“ „Aber wir sind doch nicht gefährlich!“, entgegnete Ryan. Lyia schwieg. Sie wollte es ihm nicht sagen. Viel zu groß war ihre Angst ihn zu verlieren. Langsam perlte ihr eine Träne über die Wangen. „Lyia!?“ Sie erschrak. „Lyia, wieso weinst du? Ist alles okay?“ „Ich… Ryan ich…“ Sie brach in Tränen aus. Es tat so weh. Sie wollte ihn nicht belügen, aber auch nicht verlieren. Was sollte sie bloß tun? Ryan kniete sich zu ihr nieder. „Schon gut, weine nicht. Ich werde noch einmal rüber gehen und ihn fragen. Mach dir keine Sorgen. Ich lasse nicht zu, dass deine Mission wegen ihm zum Stocken kommt. Warte hier.“ Nicht in der Lage etwas zu sagen blickte sie ihm nach. Schließlich fasste sie sich wieder und rannte ihm hinterher. „Ryan!“ Dieser wandte sich um. „Ryan ich… ich…“ Ryan fing herzhaft zu lächeln an. „Keine Sorge ich bleibe nicht lang. Ich bin gleich zurück.“ Wieder sah sie ihm voll Reue hinterher. Bitte verzeih mir. Erneut rannen ihr Tränen über das Gesicht. Bitte verzeih mir Ryan.

Was hat sie bloß? Sie war doch sonst nicht so. Mit schnellen Schritten durchquerte Ryan die Felder des Dorfes. Irgendetwas muss sich vor zwei Jahren ereignet haben. Aber was? Ratlos blieb er vor dem Tor stehen. „Ich muss es wissen.“, sprach er zu sich selbst. Auch wenn er Lyia nur kurze Zeit kannte, er wusste, dass sie besorgt war. Doch weshalb sagte sie es ihm nicht? Traute sie ihm noch immer nicht? Wovor fürchtete sie sich? Eine Menge Fragen, die er selbst nicht beantworten konnte, doch er hoffte die Antworten hier zu finden.
„Du bist schon wieder zurück?“ Ryan richtete seine Augen voraus und stand einer Gruppe von Bewohnern gegenüber, allen voran der Bürgermeister, wie er von Lyia erfahren hatte. „Ja. Ich kann nicht einfach aufgeben. Lyia ist verzweifelt und ich ertrage es nicht sie so traurig zu sehen.“ „Traurig? Was du nicht sagst. Ein solches Monstrum wie sie besitzt keinerlei Gefühle.“ „Sie ist kein Monstrum! Ihr seht in ihr nur eine Verfluchte, doch für mich ist sie ganz einfach nur Lyia. Mag sein, dass sie die Verantwortung für unsere Strafe trägt, doch sie tut ihr Bestes.“ Entschlossenheit lag in seiner Stimme. „Du kennst sie sehr gut.“ „Nein, nicht so gut wie ich es gerne täte.“ Der Bürgermeister machte ein nachdenkliches Gesicht. „Begleite mich zu meinem Haus.“ „Aber Herr Bürgermeister…! Er ist ein Anhänger der Sünder.“, protestierte ein Mann aus der Menge. „Keine Sorge, ich weiß, dass er gegen unsere kirchlichen Gesetze handelt. Bitte folge mir mein Junge.“ Er machte kehrt und bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge, die ihm respektvoll den Weg frei machte. Ryan war unsicher, doch wenn er Lyia helfen wollte, musste er tun, was der Bürgermeister ihm sagte. Entschlossen folgte er dem alten Mann. Angsterfüllte Blicke, die einen Hauch von Zorn widerspiegelten, folgten ihm. Etwas musste sie verängstigt haben, sodass sie jeden fürchteten, der ihnen fremd war. Hatte Lyia vielleicht etwas damit zu tun?
Sie folgten einem steingepflasterten Weg, der sie zu einem kleinen Haus führte. Es wirkte leer und anders als das Gasthaus ärmlich und schlicht. „Tritt herein. Es ist lange her, dass ich fremde Menschen in mein Haus eingeladen habe.“ „Lebt Ihr hier ganz allein?“ Der Alte nickte. „Seit jenem grausamen Tag lebe ich hier zurückgezogen in Einsamkeit. Doch keine Sorge, alle sind sehr freundlich und unterstützen mich. Setz dich.“ Ryan gehorchte. Er setzte sich auf einen hölzernen Stuhl und blickte sich um. Der gesamte Raum war in Dunkelheit gehüllt, bis auf ein paar Kerzen, die auf der gegenüberliegenden Kommode einen Funken warmen Lichts in das Dunkel warfen. Dahinter erblickte Ryan ein Gemälde, das sehr prunkvoll verziert war. Ein herzhaft lächelndes Mädchen war darauf abgebildet, das einen Strauß Blumen in Händen hielt, die Tochter des Bürgermeisters, wie Ryan vermutete. „Das ist Ebony, meine Tochter.“, erklärte der Bürgermeister. „Sie ist wunderschön.“, gab Ryan zu. „Ja das war sie.“ Er warf einen traurigen Blick auf das Mädchen mit den langen blonden Locken. „Sie liebte Blumen über alles.“, fügte der alte hinzu. Ryan war sofort von ihr angetan. Ihr Wesen spiegelte die Eleganz einer Göttin wider, doch dem Blick des Bürgermeisters nach zu urteilen, konnte selbst eine Göttin dem Tod nicht entfliehen. „Sie war ein liebenswerter Mensch, der sich für alle im Dorf einsetzte. Immer fröhlich und hilfsbereit, obwohl sie aufgrund ihrer Krankheit sehr schwach war. Sie hatte Schwindsucht, doch auch wenn sie wusste, dass sie sterben würde, verzog sie keine Miene. Sie lebte jeden Augenblick, als ob es ihr letzter wäre. Sie war sozusagen der Sonnenschein unseres Dorfes. Sie verstand es mit Menschen umzugehen. Kein Wunder, dass sie so beliebt war. Sie glich einem Engel. Doch dann…“ „Die Krankheit?“, fragte Ryan vorsichtig, doch der Bürgermeister schüttelte den Kopf. Seine Traurigkeit wechselte in Zorn. „Dieses Mädchen!“ „Lyia?“, fragte Ryan verwirrt. „Aber wieso? Was hat Lyia denn mit ihrer Tochter zu tun?“ „Das Mädchen, das du in Schutz nimmst hat meine Tochter auf dem Gewissen.“ Geschockt starrte Ryan den Alten an. „Lyia?! D-das kann nicht sein! Lyia würde so etwas niemals tun!“ Mit voller Wucht sprang er vom Stuhl auf, sodass der Stuhl nach hinten umkippte und laut auf dem Boden aufschlug. „Sie war neunzehn, als es geschah.“, begann der Bürgermeister. „An jenem Tag gab sie ihre Verlobung mit Allan, dem Sohn meines besten Freundes bekannt. Erfreut über diese Nachricht feierte das gesamte Dorf ihre Verlobung. Sie war sehr glücklich und ich war froh darüber, dass sie ihre Lebensfreude nicht verlor, obwohl ihre Lebenszeit immer knapper wurde. Allerdings benahm sie sich gegen Mitternacht seltsam.“ „Seltsam? Was meint Ihr?“, fragte Ryan neugierig. „Sie sprach kein Wort mehr und wenn sie Jemand ansprach warf sie ihm teuflische Blicke zu. Sie verletzte sogar ein kleines Mädchen, dessen Blut sie dann trank.“ „Sie trank das Blut des kleinen Mädchens?!“ Der alte Mann nickte verblüfft. „Was geschah danach?“ „Nun, das verfluchte Mädchen tauchte auf. Mit gezogener Waffe stellte sie sich meiner Tochter gegenüber. Allan wollte sie in Schutz nehmen, doch sie nagelte ihn an die Wand, sodass er sich nicht mehr rühren konnte. Wir wollten ihm zu Hilfe eilen, doch sie drohte ihn umzubringen, sobald wir uns auch nur gerührt hätten. Da meine Tochter sehr schwach war und sich kaum zur Wehr setzen konnte, wurde auch sie festgenagelt. Dann geschah alles ganz schnell. Das verfluchte Mädchen vollzog irgendein Ritual, woraufhin ein Schwarzer Schatten Ebonys Körper verließ. Sie litt starke Schmerzen. Noch heute kann ich ihren Schmerzensschrei hören. Es war furchtbar. Kurz nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte, schrie das verfluchte Mädchen auf. Soweit ich gesehen habe, vereinigte sie sich mit dem Schatten. Schließlich fiel auch sie in Ohnmacht.“ Ryan hörte aufmerksam zu. „Und was geschah dann?“ Der Bürgermeister atmete tief durch. All die schlimmen Erinnerungen kehrten zurück. „Wir befreiten Allan und liefen zu Ebony. Sie war so schwach, dass sie nur schwer sprechen konnte, nachdem sie wieder erwachte.“ Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Einige Minuten später starb sie in meinen Armen.“ Ryan senkte den Blick. Warum? Lyia warum? „Tut mir Leid.“ Er schritt zur Tür und öffnete sie. Ein schwacher Sonnenstrahl schien ihm ins Gesicht. „Was wirst du nun tun Junge?“, fragte der Alte plötzlich. „Ich weiß es nicht.“, antwortete Ryan schnell. „Doch glaubt mir, Lyia wollte Ebony niemals bewusst töten.“ „Was meinst du?“, wollte der alte Mann daraufhin wissen. „Ebony war besessen. Das erklärt, warum sie so seltsam wurde.“ „Besessen?“ „Ich kann Ihnen auch nicht mehr sagen. Das ist alles, was ich weiß.“ Völlig durcheinander verließ Ryan das Haus. Was sollte er glauben? Hatte Lyia ihn belogen? Warum hast du nichts gesagt? Nachdenklich streifte er durch die Straßen. Die Sonne ging bereits wieder unter und kündigte den Abend an. Auf dem Marktplatz blieb er stehen und betrachtete das vor ihm stehende Monument. Eine Säule, die aus wunderschönem weißen Marmor geschlagen war erstreckte sich in den Himmel. Auf ihr erkannte Ryan reichliche Verzierungen, sowie eine Inschrift aus Gold. „Ebony, die blühende Schönheit und Göttin aller Herzen. Ihre Seele ruhe in Frieden bis in alle Ewigkeit.“ Ebony, warum musste ein Mensch wie du nur sterben? Wunderschöne Blumen aller Art umringen das Denkmal. Plötzlich fielen Ryan die Worte des alten Bürgermeisters wieder ein. ‚Sie liebte Blumen über alles’. Ryan lächelte traurig. „Kanntet Ihr Ebony?“ Ryan wandte sich um und blickte einem jungen Mann ins Gesicht, der einen Strauß Blumen in Händen hielt. Langsam schüttelte Ryan den Kopf. „Sie war ein wundervolles Geschöpf. Liebenswürdig und aufgeschlossen. Sie setzte sich für andere Menschen ein wo es nur ging. Dabei war sie es, die Hilfe benötigt hatte.“, sprach der Unbekannte, während er auf das Denkmal zuschritt und die Blumen niederlegte. „Sie liebte Blumen. Deshalb bringe ich ihr jeden Tag die Schönsten, die ich finden kann.“ „Seid Ihr Allan?“ Der junge Mann wandte sich Ryan zu und musterte ihn. „Ja. Und Ihr seid?“ Ryan räusperte sich. „Mein Name ist Ryan. Ich bin heute Morgen angereist und habe die Tragödie von Ebony gehört.“ Allan erhob sich. „Eine Tragödie fürwahr. Daran ist allein dieses teuflische Mädchen schuld. Sie hat mir damals Ebony entrissen. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht nach Rache sehne.“, seine Augen loderten wie die Flammen des Feuers. „Dieses Mädchen, wie sah es aus?“, fragte Ryan vorsichtig. „Es hatte rote Haare und trug einen schwarzen Umhang. Sie warf mit Sternen um sich und hatte ein Schwert, mit dem sie sich Ebony gegenüber stellte. Sie war ein Dämon.“ „Nein.“, Ryan schüttelte den Kopf. „Sie ist eine Verfluchte. Eine Verfluchte, die nur versucht den Fehler, den sie begangen hat wieder gut zu machen. Glaubt mir Lyia würde niemals jemanden gezielt umbringen.“ Allan konnte seinen Ohren nicht trauen. „Ihr kennst sie?“ Ryan nickte. „Ich begleite sie. Wir wurden heute Morgen vom Bürgermeister aufgehalten. Nur deshalb sind wir noch hier.“ „Sie ist hier?! Wo?“ „Nicht hier. Sie ertrug den Hass der Dorfbewohner nicht länger.“ Traurigkeit lag in seiner Stimme. „Sie ist vollkommen entkräftet und weiß weder ein noch aus. Die Arme…“ Allans Augen funkelten zornig. „Die Arme? Die Arme?! Sie ist ein teuflisches Wesen! Mit so etwas darf man kein Mitleid haben.“ Ryans Beschützerinstinkt meldete sich wieder. „Lyia ist kein teuflisches Wesen! Sie ist ein Mensch, der es verdient hat in Ruhe zu leben. Ein bisschen Annerkennung wäre das Mindeste, was wir ihr schulden. Sie gibt alles, nur um uns und sich selbst zu helfen. Sie ist ein Segen!“ „So? War es dann auch ein Segen, dass meine Ebony von ihr umgebracht wurde? Sie ist alles andere als ein Segen. Sie ist egoistisch und versucht nur sich zu helfen. An uns verschwendet sie keinen Gedanken! Und wenn Ihr sie freiwillig begleitet und all ihre Sünden ignoriert, dann seid Ihr nicht besser als sie!“ Ryan senkte den Kopf. „Ich ignoriere ihre Sünden nicht. Ich will nur die Wahrheit erfahren. Ob sie wirklich ein schlechter Mensch ist, ob sie nur für sich lebt und unser Schicksal außer Acht lässt und ob sie zu Recht verflucht wurde. Ich war stark davon überzeugt, dass alles, was man mir über die Verfluchten erzählt hatte nichts als eine Lüge war. Doch mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher. Ich weiß gar nichts mehr.“ Langsam schritt Allan auf Ryan zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Trennt Euch von ihr. Sie benutzt Euch als Werkzeug für ihre Taten. Sie braucht Euch, damit sie nicht von ihren schlimmen Vergehen aufgehalten wird, denn nur dafür lebt sie.“ Ryan dachte nach. Für einige Minuten herrschte Stille. Dann hob er sein Gesicht und blickte Allan in die Augen. „Ihr habt Recht. Es ist besser wenn ich mich von ihr trenne.“, sagte er schließlich. Langsam sickerte ihm eine Träne aus den Augen, die Allan jedoch schnell wegwischte. „Weint nicht. Sie ist Eure Tränen nicht wert.“ Wieder nickte Ryan, doch konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. Sein Entschluss stand fest. Er würde Lyia nie wieder sehen.

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