Die Verfluchten - Eine Strafe des Himmels
von Christine Eisner

Kapitel
 

Früh am Morgen schon spazierte Ryan über die leeren Gassen Sinons und zitterte vor dem kommenden Tag. Lyia würde ihrer Bestimmung nachgehen und ihren Tod finden, damit ihre Kameraden, die restliche Menschheit, aber auch er selbst die Freiheit erlangen würden. Er wollte sie nicht verlieren, auch wenn es hieße, dass sie in ihrer Knechtschaft weiterleben müsste. Er wusste, dass dieser Gedanke egoistisch war, doch versuchte er nur das zu beschützen, was mittlerweile zu seinem Leben wurde. Die Angst vor einer einsamen Zukunft sammelte sich in ihm. Ratlosigkeit, Verzweiflung, aber auch Wut las man aus seinem Gesicht heraus. Wütend war er vor allem auf Shin, der es soweit kommen ließ. Hätte er vor 2454 Jahren nicht die Menschheit verflucht und Lyia in seine Knechtschaft gestellt, so müsste sie nicht sterben. Andererseits wäre er ihr dadurch nie begegnet. Doch genau dies war der Zentralpunkt seines Dilemmas. Er wusste nicht, ob er weinen und Shin mit Flüchen beschimpfen, oder ob er sich für Lyia freuen und Shin dafür preisen sollte. Aber egal für was er sich entscheiden würde, er würde sich selbst belügen. Freuen konnte er sich nicht, weil er seine geliebte Person verlieren würde, doch hassen konnte er ebenfalls nicht, denn im Laufe der Tage entwickelte Ryan ein anderes Gottesbild. Durch Lyia hatte er begriffen, dass Shin ein liebender Gott ist, denn er war es, der sie zusammengeführt hatte, daran glaubte er ganz fest. Doch warum entriss er sie ihm wieder, wo sie sich doch erst seit ungefähr einer Woche kannten? Gab es womöglich eine weitere hohe Macht, die den Fluch verantwortete? Wenn ja, warum hatte Shin in all den Jahren nichts unternommen, um sie von dem Fluch wieder zu befreien? Lag es nicht in seiner Macht? Waren die Mächte des anderen Wesens größer? Fragen über Fragen, doch keine Antwort weit und breit. Was sollte Ryan glauben? Sollte er sich Shin beugen und seinen Willen akzeptieren oder sollte er ihn wieder anzweifeln? Sogar nach Stunden blieben seine Fragen unbeantwortet und er bezweifelte, dass er sie je beantworten könnte, denn Kato, Sin, Screw und Lyia bereiteten sich sicherlich schon auf die Zeremonie vor. Bald würde Lyia nicht mehr sein. Allmählich kehrte seine ursprüngliche Denkweise zurück. Shin konnte kein liebender Gott sein, wenn er zu solchen Taten fähig war. Ein liebender Gott schenkt Leben, doch Ryans Ansicht nach säte er Tod. Die Gottheit war seiner Meinung nach nur eine Hülle, die Shins wahres Wesen versteckte, nämlich das teuflische. Teuflisch! Das ist es. Blitzartig schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Das Gleichgewichtsprinzip. Gott und Teufel, könnte es tatsächlich sein? Ryan sammelte seine Gedanken, denn die Zeit wurde knapp. ‚Mit einem habt Ihr Unrecht. Es kann kein Teufel existieren, wenn es keinen Gott gibt.’ ‚Und warum nicht?’ ‚Weil das Prinzip des Gleichgewichts auf Sira herrscht. Nichts kann ohne ein Gegenstück, ein Gegenteil, wenn Ihr so wollt, existieren. Ein Mensch kann nur geboren werden, wenn sich zwei Gegensätze vereinigen – Mann und Frau. Licht kann nur Erleuchtung bringen, wenn die Finsternis existiert. Enttäuschung kann einen liebenden Menschen zum Hass bewegen. Unglück kann das Glück beeinflussen und das Leben kann durch den Tod abgebrochen werden. Demnach kann Eure Theorie nicht wahr sein.’ Sein Gespräch mit Lyia irrte in seinem Kopf umher, als er sie zum ersten Mal getroffen hatte. ‚ Nichts kann ohne ein Gegenstück, ein Gegenteil, wenn Ihr so wollt, existieren.’ Sie hat es selbst gesagt, dachte er. Schnell fasste er einen Entschluss und rannte zurück zum Zentrum, wo das Ritual abgehalten werden sollte. Jetzt wo er endlich des Rätsels Lösung gefunden hatte, rannte ihm die Zeit davon. Er musste sich beeilen, denn vielleicht würde es ihm sogar gelingen Lyias Leben zu retten.
Voller Sorge stand Lyia im Lazarett und blickte aus dem Fenster hinaus. Ryan war plötzlich verschwunden, ohne auch nur ein Wort davon zu sagen. Hatte er sie verlassen, weil er es nicht ertragen könnte sie sterben zu sehen? Warum aber hatte er sich nicht bei ihr verabschiedet? Hatte er ihr nur etwas vorgemacht, um sie auf Geheiß seines Bruders auszuspionieren? Entsetzt über ihre eigenen Gedanken schüttelte sie den Kopf. „Jetzt geht eindeutig deine Phantasie mit dir durch.“, sagte sie zu sich selbst. Hinter ihr trat Kato hervor. „Lyia, es wird Zeit.“ Ohne ihn anzusehen nickte sie. Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie würde sterben ohne Ryan ein letztes Mal gesehen zu haben. Plötzlich fing sie wieder an zu zweifeln. Ihre Angst stieg erneut in ihr auf, doch sie wusste, dass es bereits zu spät war. Sie wischte sich über die Augen und drehte sich entschlossen zu Kato um. „Was ist mit deinem Militäranzug?“, fragte dieser fürsorglich, denn er wusste, dass sie die Dunklen Seelen nur mit ihm unter Kontrolle halten konnte, denn er war für sie sozusagen ein Bannkreis. Wäre er bei dem Ritual beschädigt, könnte es schlimme Folgen mit sich tragen. Katos schlimmste Befürchtung wäre es, wenn Lyia nicht in der Lage wäre die Dunklen Seelen zu kontrollieren, sodass sie Besitz von ihr ergreifen könnten, um sie anschließend zu leiten. Da Lyia in ihrer Runde die Kampfstärkste war, hieße dies, dass Kato, Sin und Screw nicht in der Lage wären sie zu besiegen. Selbst wenn sie ihre Kräfte vereint nutzen würden, gegen Lyia hätten sie keine Chance. Die Gefahr wäre also groß, dass der Fluch niemals von ihnen genommen werden würde, wenn es zu einem solchen Unfall kommen sollte. Zudem würde Lyia unzählige Menschen töten. Für sie das Schlimmste überhaupt, da es gegen ihren Willen geschehen würde. „Keine Angst.“, sagte Lyia schließlich. „Ich schaffe das schon. Verlasst euch auf mich.“ Lächelnd trat Kato zu ihr und wuschelte ihr durchs Haar. Ein letztes Mal sah sie aus dem Fenster und verließ mit Kato schließlich den Raum.
An den Krallensäulen hatten Sin und Screw schon auf sie gewartet. Beiden standen Tränen in den Augen, doch Lyia beruhigte sie mit einer letzten Umarmung. „Macht euch keine Vorwürfe. Ich weiß, dass es Shins Wille ist und deshalb bin ich zufrieden.“ Screw konnte ihr nichts entgegnen, denn seine vorzeitige Trauer nahm seine gesamten Gefühle ein. Er war nicht in der Lage etwas zu sagen, sondern weinte bitterlich. Für Lyia ein deutliches Zeichen seiner Gefühle. Er liebte sie weit mehr als sie angenommen hatte. Bald darauf strömten auch ihr Tränen über die Wangen. Sie fiel Screw in die Arme und entschuldigte sich für seine unerwiderten Gefühle. „Gefühle kann man nicht befehlen.“, antwortete er. Mit einem sanften Lächeln vermittelte er ihr, dass er Verständnis zeigte. Anschließend nahm sie ihren Bruder in die Arme. „Ich danke dir Schwesterherz. Du bist eindeutig die wahre Kommandantin von uns beiden.“ Wieder flossen traurige Tränen. Auch wenn es Zeiten gab in denen sie sich beide in den Haaren hatten, so war er trotz allem ihr Bruder, der sie ständig unterstützt und ihr neue Hoffnung gegeben hatte. Still näherte sich Sin, der sie von Kato löste und selbst in den Arm nahm. Noch nie hatte Sin sie umarmt, deshalb riss sie vor Verwunderung ihre Augen auf. „Es schmerzt mich, dass du so vieles für uns tust, wir dir aber nichts entgegenbringen können.“ Lyia drückte ihn fest an sich. „Das ist nicht wahr. Ihr habt so vieles für mich getan. Ihr habt mir Hilfe und Hoffnung gegeben und wart meine Familie. Mehr kann ich von euch nicht verlangen, außer, dass ihr euer Leben erfolgreich lebt und mich in euren Herzen mit euch tragt. Gründet ein erfolgreiches Leben, wofür es sich zum Sterben lohnt.“ Mit großen Augen sah er sie an. Langsam bildete sich auch ihm ein Lächeln auf dem Gesicht. „Das werde ich, bei meiner Ehre, das werde ich.“ Er küsste sie auf die Stirn und schloss sie noch einmal in seine Arme, bevor sie ihre Plätze für das durchzuführende Ritual einnahmen.
In der Mitte, wo sich die Krallenspitzen trafen, hockte sich Lyia unter die Lichtkugel auf ein Knie und faltete ihre Hände zum Gebet, um die Dunklen Seelen von ihren Kameraden aufnehmen zu können. Die anderen Drei hockten sich ebenfalls auf ein Knie, allerdings nahm jeder von ihnen an den drei Krallensäulen Platz, womit sie einen Kreis um Lyia bildeten. „Allmächtiger Shin, nach 2454 Jahren beugen wir uns deiner Macht und erkennen dich als den Herrn von Sira. Du, der über Himmel und Erde, Feuer und Wasser herrscht besitzt die Macht über Leben und Tod. Nur du allein verfügst über diese göttliche Macht. Nie wieder soll ein Mensch deiner Macht trotzen, somit bitten wir dich Shin: Erkenne unsere Opfer als Buße für unsere Sünden und lasse ein letztes Mal deine Gnade über deinen Dienern walten.“, sprachen sie alle wie aus einem Munde. Ryan wo bist du? Nun in den letzten Minuten stieg ihre Anspannung. Sie wollte sich von ihm verabschieden und ihm ein letztes Mal ihre Gefühle mitteilen, doch wenn sie ihr folgendes Gebet vollenden würde, würden die Dunklen Seelen auf sie übergreifen und Shin würde sich ihrer Seele als Entschädigung für ihr Vergehen annehmen. Nach langer Pause begann Lyia schließlich ihre Ansprache. „Ich Ilyiarah Ilavia, deine Untergebene und gleichzeitig gepeinigte Sklavin, beuge mich deinem Willen und erwarte meinen Tod, durch deine Hand. Meine Seele soll allein dir, meinem Schöpfer gebühren. Drum richte mich mit deiner Macht, doch vergib der Menschheit ihre Fehler.“ Lyia öffnete die Augen und sah sich nach Ryan um, doch als sie erkannte, dass er nirgends zu sehen war, vollendete sie ihr Gebet. Lebe wohl, Ryan. „Apparet!“ Sie erhob sich und streckte ihr Gesicht zur Lichtkugel, deren Strahlen die Erde mit dem Himmel verbanden. Schnell baute sich eine Lichtsäule auf, die Lyia von den anderen trennte. „Möge der böse Geist diese Körper verlassen und das Leid verschwinden. Ich, die Gepeinigte von Shin, stelle meinen Körper zur Verfügung, auf dass unsere Sünden vergeben werden. Appare!“, hörte man sie aus dem Innern der Säule rufen. Aus den Körpern von Kato, Screw und Sin stiegen dunkle Schatten auf. Alle drei litten Schmerzen, doch im Gegensatz zu den Schmerzen, die Lyia erleiden musste waren ihre Schmerzen nicht annähernd vergleichbar.
Mit schnellen Schritten lief Ryan auf den Lichtstrahl zu. „Lyia!“, schrie er, um sie von ihrem Vorhaben aufzuhalten. An Katos Säule angekommen, rang er nach Atem. „Kato ihr müsst sofort aufhören. Ihr begeht einen großen Fehler.“ Wütend blickte Kato ihn an. „Hör zu Ryan, ich kann verstehen, dass es sehr schwer für dich ist von ihr abzulassen, aber hast du schon mal an uns gedacht? Wie wir all die Jahre leiden mussten, wie Lyia leiden musste? Sieh es ein Ryan, es ist zu spät!“ „Du verstehst nicht Kato! Ihr opfert Lyia soeben dem Teufel und nicht Shin. Ihr wurdet hereingelegt!“ „Solange ich meine Freiheit gewinne, ist mir jeder Weg und jedes Opfer recht.“ Screw und Sin sahen Kato und Ryan verwundert an. Die Entfernung war zu groß, als dass sie etwas verstehen konnten. Schnell begriff Ryan, dass er weder mit Kato, noch mit den anderen Beiden reden konnte. Es gab nur einen Menschen, der ihm vertraute und das war Lyia. Er wandte sich von Kato ab und schritt auf die Lichtsäule zu. „Nicht!“, riefen Sin und Screw wie aus einem Munde. Vor dem Lichtstrahl blieb er stehen. „Lyia! Tu es nicht. Ich weiß es jetzt! Nicht Shin hat euch verflucht, sondern der Teufel! Ich bin mir ganz sicher. Denk an das Prinzip des Gleichgewichts auf Sira. Niemals würde Shin eine solche Tat von euch fordern.“ Lyia, die von den anderen zwar abgeschirmt, aber trotzdem ihre Stimmen vernahm, hielt inne. Ryan! Er ist gekommen. Aber was meint er mit ‚Nicht Shin hat euch verflucht, sondern der Teufel!’ Kann es sein? Existiert vielleicht tatsächlich ein Teufel? Ihr plötzliches Zögern hatte Konsequenzen. Kurz darauf schrie sie vor Schmerzen auf. Sie spürte die Last der Dunklen Seelen, die versuchten Besitz von ihr zu ergreifen. „Lyia!“, schrie Ryan außerhalb der Säule, als er ihren Schrei vernahm. „Sie schafft es nicht!“, rief Screw panisch. „Wenn Lyia die Dunklen Seelen nicht kontrollieren kann, dann ist es das Aus für sie und ganz Sira!“, meinte Sin. Kato sah starr auf die Lichtsäule, in der Lyia verschwand und Ryans Gesichtsausdruck vermittelte seine Sorge. „Lyia, hörst du mich? Hör zu Lyia, du musst dagegen ankämpfen. Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Gib nicht auf, ich bin bei dir. Gemeinsam schaffen wir es, hörst du?!“ Lyia versuchte sich zu konzentrieren, doch auch durch ihre Anstrengung, war sie nicht in der Lage die Dunklen Seelen zu kontrollieren. Ihre Schmerzen wurden immer stärker und somit auch ihre klagenden Schreie. Ryan sank vor Verzweiflung auf die Knie. Sie litt sehr starke Schmerzen, doch er konnte ihr nicht helfen. Er fühlte sich hilflos und leer. Wütend auf seine eigene Ohnmacht schlug er die Faust auf den von Moos bewachsenen Boden und vergoss Tränen der Hilflosigkeit. Gibt es denn nichts, was ich tun kann, um ihre Schmerzen zu lindern? Ist sie ihrem Schicksal hoffnungslos ausgeliefert? Ich will sie nicht verlieren, Shin ich flehe dich an, tu doch etwas. „Shin!!“
Eine zweite Lichtsäule teilte den Himmel und vier Engel stiegen herab. Ryan traute seinen Augen nicht, ebenso wie die anderen drei. Vor ihren Augen waren die vier Erzengel erschienen: Michael, jener Engel, der Satan aus dem Himmelsreich verbannte und der Wächter über das Feuer; Gabriel, der Engel der Verkündung und Wächter über das Wasser, dessen Zeichen eine Lilie war; Raphael, Engel der Heilung durch seine Macht über die Winde und Uriel, der Engel der Ordnung und Wächter über die Erde. Fassungslos klappte Ryan der Kiefer herunter. „Die vier Erzengel?! Aber warum?“, rief Screw verwundert. Michael, der erste Erzengel nickte. „Dank Ryan wurde uns endlich ermöglicht auf die Erde herabzusteigen.“, sprach er. „Ihr alle wurdet von Oni (=chinesisch:Teufel) hintergangen. Der Fluch der euch traf war das Werk des Teufels.“ In den Gesichtern von den jungen Männern war deutlich zu erkennen, dass sie nicht verstanden, wovon Gabriel, der zweite Engel redete. Raphael seufzte und griff die Vergangenheit wieder auf. „Vor 2454 Jahren, als der Fluch über euch ausgesprochen wurde, hatte Oni Shin überlistet und sprach euer Schicksal im Namen Gottes aus. Ihr wurdet also, wie Ryan bereits sagte, von Oni verflucht, nicht von Shin.“ „Aber hatte nicht Gabriel uns diese Nachricht verkündet?“, fragte Kato verwirrt. Gabriel schüttelte den Kopf. „Oni hatte einen seiner Diener in meiner Gestalt herabgelassen.“ „Heißt das etwa, dass wir all die Jahre für Oni gearbeitet hatten?“, sagte Screw entsetzt. Alle vier Engel nickten. Ryan trat einen Schritt auf sie zu. „Aber warum hat Shin nichts unternommen, um diesen Fluch wieder zu lösen?“ Schließlich meldete sich Uriel zu Wort. „Seine Macht war nicht groß genug. Lasst es mich euch erklären. Durch die Forschung der Organisation SF hatten die Menschen ihren Gott in der Technik gefunden. Shin erlangt seine Macht durch die Gebete der Menschen, aber da viele Menschen zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung aufgehört hatten zu beten, verlor er seine Macht. Somit konnte Oni Shin überlisten und die Menschheit im Namen von Shin verfluchen.“ „Aber hatte Michael den Teufel nicht aus dem Himmelsreich verbannt? Wie kann es sein, dass es den Teufel noch immer gibt?“, wollte Sin schließlich wissen. „Es stimmt zwar, dass ich den Teufel aus dem Himmelsreich verbannt hatte, aber er baute sich sein Reich in der Unterwelt wieder auf. Zudem könnte man sagen, dass seine Macht neu geboren wurde.“, meinte Michael. „Oni hatte seine große Macht nur durch einen Gefallenen Engel erlangt, der in seine Dienste trat.“, fügte Raphael hinzu. Ryan drehte sich schlagartig zur Lichtsäule um, in der Lyias Schreie verstummten. „Dann ist der falsche Gabriel Niemand anders als der Gefallene Engel?“ „So ist es.“, sagten die vier Engel gleichzeitig, womit sie Ryans Vermutung bestätigten.
Schlagartig durchzuckten Blitze die Lichtsäule, die allmählich eine pechschwarze Farbe annahm. „Ihr habt meine wahre Gestalt also endlich durchschaut.“, sprach eine kalte Stimme. Langsam schritt eine Person aus der Lichtsäule, die Lyia auf seinen Armen trug. Sein langes Engelsgewand war schwarz, wie seine Flügel und sein Blick war Furcht einflößend. „Semjasa (=Oberster der Gefalenen Engel)!“, rief Michael und zückte sein Flammenschwert. „Lyia!“, riefen die Restlichen. „Was hast du mit ihr gemacht?“, fragte Michael mit einem Hauch von Wut in seiner Stimme. „Oh macht euch keine Sorgen um sie. Ich habe sie nur in das Reich der Träume geschickt.“ „Lass sie sofort los!“, schrie Kato, doch Semjasa neigte gelassen den Kopf. „Tut mir Leid, aber diesem Wunsch kann ich nicht nachgehen, denn sie ist für Oni von höchster Bedeutung. Sie hat ihre Pflicht erfüllt, nun soll sie von ihrem Leid erlöst werden.“ „Erlöst werden? Dass ich nicht lache. Was hat Oni mit ihr vor? Antworte!“ Semjasa sah zu Lyias schlafenden Körper herunter. „Nun gut Michael, ich werde es dir verraten. Vor langer Zeit hatte Oni die Menschheit verflucht und diesen vier Menschen die Aufgabe zugeteilt, für Oni zu arbeiten. Die restlichen Mitglieder der Organisation SF löschte er aus, denn er wollte nur die Besten. Die anderen standen ihm im Weg, denn aus irgendeinem Grund fingen sie wieder an zu Shin zu beten. Somit gewann Shin an Macht und mein Meister verlor sie. Aus diesem Grund löschte er diese Organisation aus, bis auf vier Menschen, die er in seine Dienste stellte. Sie sammelten die Dunklen Seelen, die wahre Macht von Oni wieder ein, um sie ihm anschließend wieder zu überbringen. Allerdings kostete es ihn viel Macht, um sie mit den nötigen Kräften auszustatten, deshalb sorgte er dafür, dass jedes ausgesprochene Wort aus Hass, ihm neue Kräfte verleiht. Dieses Mädchen trägt Onis wahre Macht in sich, deshalb wird sie sich mit ihm vereinigen müssen, damit mein Meister Shin besiegen und die Weltherrschaft an sich reißen kann.“ Ein höhnisches Lachen folgte. „Das lassen wir nicht zu!“, sagte Uriel. „Das Leid darf diese Welt niemals überfallen!“, meinte Gabriel. Samjasas Augen wurden zu Schlitzen. „Was wisst ihr schon von Leid? Lange ist es her, dass Shin Oni, seine eigene Schöpfung verbannt hatte. Nun ist es an der Zeit, dass sein Schöpfer verbannt werden muss.“ „Schöpfer?“, fragte Ryan verwirrt. „Vor langer Zeit hatte Shin Luzifer, den ersten Engel erschaffen. Da dieser jedoch nach eigener Macht geizte, verbannte ihn Shin. Daraufhin brach ein Himmelskrieg aus. Ein drittel der Engel wählte Luzifers Seite und kämpfte gegen Michael, der die verbliebenen Engel anführte. Michael gewann den Kampf, somit wurde Luzifer aus dem Reich verbannt. Seit diesem Tage kannte man Luzifer nur noch als den Teufel Oni, oder den ersten Gefallenen Engel.“, erklärte Raphael. „Dann ist Semjasa der oberste Gefallene Engel nach Oni?“, meldete sich Sin zu Wort. Raphael nickte. „Bei meiner Ehre, das werde ich zu verhindern wissen.“ Michael forderte Semjasa heraus, der entschlossen nickte. Hinter ihm erschienen zwei weitere Gefallene Engel, die Lyias Körper entgegennahmen. „Achtet auf des Teufels Braut, während ich mich um Michael kümmere.“ Diese nickten. „Glaube nicht, dass Michael alleine kämpft. Auch wir werden kämpfen.“, versicherte Uriel und rief die Mächte der Erde auf. Kurz darauf erzitterte der Boden unter ihnen. Die Engel stiegen in die Luft, um der gewaltigen Gefahr auszuweichen, doch Sin, Screw, Ryan und Kato waren ihr schutzlos ausgeliefert, sodass die vier Erzengel sie in Sicherheit bringen mussten. „Uriel, mit der Kraft der Erde gefährden wir die Anderen. Überlass alles uns und pass auf diese Vier auf.“, meinte Michael. Uriel wollte widersprechen, doch letztendlich hatte er Recht, deshalb nickte er. „Raphael, Gabriel, ihr kümmert euch um die anderen Zwei, während ich gegen Semjasa antrete.“ Beide nickten und flogen fort. „Michael, wir wollen auch helfen. Was sollen wir tun?“, bat Ryan. „Du hast schon weit mehr getan, als Shin von dir verlangt hat. Kümmert euch um Lyia. Sie darf Oni nicht in die Hände fallen.“, antwortete dieser und verschwand ebenfalls. Verblüfft sah er Michael hinterher. „Was soll das heißen ‚er hat schon weit mehr getan, als Shin von ihm verlangt hat’?“, erkundigte sich Screw bei Uriel. Dieser lächelte leicht. „Ryan ist nicht zufällig euch Verfluchten über den Weg gelaufen. Shin hat seine ganzen Hoffnungen in Ryan gesetzt und seine schützende Hand über ihm gelöst. Oni fiel darauf herein und pflanzte ihm eine Dunkle Seele ein, woraufhin er Lyia begegnete. Sein Ziel war es, dass Ryan die Wahrheit über den Fluch erfahren und die Menschheit davon überzeugen würde, dass euch keine Schuld an dem Fluch trifft.“ „Aber warum gerade ich?“, fragte Ryan erstaunt. „Du wurdest von Shin auserwählt, da du der Einzige auf ganz Sira warst, der den Geschichten über die Verfluchten nicht glaubte und zudem an Shin zweifelte. Shin wusste, dass nur du dieser Aufgabe gewachsen warst und deshalb griff er in dein Schicksal ein, damit du der Wahrheit nachgehen konntest. Shins Hoffnungen wurden erfüllt. Du hast die Wahrheit entdeckt und durch deinen Glauben an Shin das Schlimmste verhindert. Durch deine Bekennung ist es Shin gelungen uns Erzengel auszusenden, damit wir an eurer Seite kämpfen und das Böse für immer vernichten können.“ „Aber warum wurde ich ein zweites Mal besessen? Gehörte das ebenfalls zu Shins Plan?“ Uriel verneinte Ryans Frage. „Zu diesem Zeitpunkt scheinst du sehr verwirrt gewesen zu sein, sodass dein Wille schwächer wurde. Deshalb konnte Onis Dunkle Seele ein zweites Mal von dir Besitz ergreifen.“ Ryan verstand und erinnerte sich an sein damaliges Dilemma. Es war die Geschichte über Ebonys Schicksal, die ihn verwirrt hatte und an Lyia zweifeln ließ.
„Lyia!“, schrieen Screw und Kato plötzlich, die Ryan somit aus seinen Gedanken zurückholten. Er blickte auf und sah, wie Lyia in die Tiefe stürzte, als einer der Gefallenen Engel sie fallen ließ, um Raphaels Attacke auszuweichen. Uriel reagierte schnell und stieg in die Lüfte, wo er Lyia sanft auffing und zurück zur Erde brachte. Er legte sie in Ryans Arme, der sie besorgt ansah. „Lyia, hörst du mich? Mach die Augen auf…Lyia!“ Uriel legte ihr die Hand auf die Stirn. „Ihr Bewusstsein wird durch die Dunklen Seelen unterdrückt. Ich versuche sie davon zu befreien.“ Die Jungen stimmten ihm mit einem Nicken zu. Daraufhin schloss er die Augen und konzentrierte sich. Allmählich zog er eine schwarze Lichtkugel aus ihrem Körper – Onis wahre Macht. Deutlich erkannte man die Anspannung in Uriels Gesicht. Lyias Gesicht jedoch entspannte sich, bis sie schließlich ihre Augen öffnete. „Lyia!“, riefen alle wie aus einem Munde. Erleichterung war deutlich aus ihren Augen ablesbar. „Wa-Was ist passiert?“, fragte sie. Allen liefen Freudentränen über die Wangen. „Es ist alles in bester Ordnung.“, meinte Ryan. „Der Fluch ist endlich vorbei.“, ergänzte Sin. Sie setzte sich auf und sah in die Runde. Schließlich warf sie sich Ryan um den Hals, der sie sanft anlächelte. „Ryan! Ich hatte solche Angst. Ich hatte Angst ich würde dich nie wieder sehen.“ Er erwiderte ihre Umarmung, indem er sie fest an sich drückte. „Ich bin ja da. Hab keine Angst so schnell gebe ich dich nicht auf.“ In ihren Augen sammelten sich Tränen der Freude. Sie schloss die Augen und verweilte auf seiner Schulter. Als sie die Augen wieder öffnete entdeckte sie den Kampf zwischen Michael und Semjasa. Erschrocken fuhr sie hoch. „Keine Sorge. Michael wird den Gefallenen Engel schon richten. Anschließend erhalten wir unsere Freiheit wieder.“, erklärte Screw. „Gefallener…Engel?“ „Ja, es sind jene Engel die Oni, dem Teufel dienen und von Shin aus dem Himmelsreich verbannt wurden. In Wahrheit ist Oni der Übertäter, der uns verflucht hatte und uns für ihn arbeiten ließ. Hinzu kommt, dass Oni, der erste Engel war, den Shin erschuf. Aber da er Shin hinterging verbannte er Oni und somit wurde er zum ersten Gefallenen Engel.“, meinte Kato stolz. Lyias Blick verfinsterte sich. „Hört sofort damit auf.“, befahl sie Uriel, doch dieser resignierte. „Es ist Shins Wille, dass wir das Böse für immer vernichten.“ Sie blickte zurück auf das Schlachtfeld. Semjasa zeigte Schwäche und fiel erschöpft zu Boden. Michael richtete sein Schwert gegen ihn und holte aus. „Nein!“, schrie Lyia und rannte auf die Beiden zu. Nachdem Michael ihre Stimme vernahm hielt er inne. „Halt! Das dürft Ihr nicht!“ Erschöpft und nach Atem ringend stellte sie sich vor Semjasa, der sie erstaunt anblickte. „Geh aus dem Weg.“, sagte Michael, doch Lyia schüttelte den Kopf. „Nur über meine Leiche.“ Michael senkte das Schwert. „Was bezweckst du damit?“ „Ich hindere Euch an einer Tat, die einem Engel nicht zuspricht. Engel sind Diener des Herrn. Sie verkünden das Wort Gottes und spenden den Menschen Hoffnung. Wieso richtet dann ein Engel sein Schwert gegen Jemanden?“ „Um das Böse auf ewig zu vernichten.“, antwortete Michael gelassen. „War dieser Engel nicht einer von Euch?“ Michael nickte. „Er war einst ein Diener Shins, so wie ich jetzt einer bin, doch durch seine Untreue zu Shin wurde er verbannt.“ „Definiert seine Untreue.“, forderte sie. „Wir hintergingen ihn.“, gab Semjasa als Antwort. „Wir versuchten einen Teil seiner Macht für uns zu erlangen, deshalb wurden wir verbannt, genau wie Oni.“ Lyia wandte sich ihm zu. „Wir begingen ein großes Verbrechen, deshalb wurden wir zu Gefallenen Engeln.“ Lyia schüttelte den Kopf. „Euer Herz war schwarz, so wie Eure Federn es heute sind. Ihr habt Euch nach Wärme und etwas Anerkennung gesehnt. Euch wurde die Liebe, die Euch zustand von Shin verwehrt. Aus Verzweiflung und Sehnsucht nach ein wenig Liebe habt Ihr Euch dazu entschlossen Eurem Vorbild, nämlich Shin nachzueifern. Schließlich hattet auch Ihr, wie Shin an Macht durch Gebete gewonnen, doch genau dies hatte Shin missfallen, sodass er Euch aus seinem Reich verbannte. Eure Wut war groß und aus dieser Wut entstand schnell Hass. Oni teilte Euer Schicksal und deshalb nahmt Ihr Euch ihm an, habe ich Recht?“ Sie kniete sich vor ihn und umarmte ihn. „Ich weiß, wie Ihr Euch fühlt, denn ich habe dasselbe durchmachen müssen. Ich war allein und spürte den Hass der Menschen. Auch ich hatte mich nach Liebe gesehnt, aber letztendlich habe ich sie gefunden, denn ich vertraute dem Herrn. Auch Ihr hättet sie gefunden, wenn Ihr Shin weiterhin vertraut hättet. Denn vergesst nicht, der Herr ist Barmherzig. Er versucht nur Euch den wahren Weg im Leben zu lehren.“ Semjasa perlte eine Träne aus dem Auge, die Michael verwunderte. „Erzengel Michael, ich frage Euch: Kann die Sehnsucht nach Liebe Sünde sein?“ Sie löste sich von Semjasa und blickte Michael durchdringend an. Ratlos sah er sie an, doch schließlich schloss er die Augen und nickte lächelnd. „Du hast Recht. Shin sagte uns zwar, dass wir das Böse auf immer vernichten sollen, aber das Böse besiegt man nicht mit Bösem, sondern mit Liebe.“ Er öffnete die Augen und streckte Semjasa die Hand entgegen. Dieser blicke ihn verwundert an. „Lass uns gehen Semjasa, der Herr wartet auf uns.“ Zögernd blickte er zu Lyia, doch als sie ihm zunickte ergriff er Michaels Hand. Kaum hatte er sie ergriffen, wurde er von einem Leuchten erfasst. Seine pechschwarzen Federn nahmen ihre ursprünglich weiße Farbe an und auch sein schwarzes Gewand wechselte in weiß. Semjasa blickte an sich herunter und vergoss Tränen der Freude. „Ich bin wieder ein Diener Shins.“ Sein Herz leuchtete auf. Auch die anderen Diener Onis wurden von Shin akzeptiert und sahen sich fassungslos an. „Was wird aus Oni?“, fragte Lyia besorgt. „Keine Sorge. Shin hat sich auch ihm wieder angenommen.“, antworteten Raphael und Gabriel, die zu ihnen traten. Auch Uriel und die anderen suchten die Gemeinschaft auf. Die schwarze Lichtkugel in Uriels Hand leuchtete hell und löste sich allmählich auf. „Die gestohlenen Kräfte von Shin kehren zu seinem Besitzer zurück. Wir danken euch, vor allem dir Lyia. Ohne dich wäre der Konflikt zwischen Himmel und Unterwelt nie beseitigt worden.“, sagten die vier Erzengel. Semjasa kniete sich vor sie und küsste ihr den Handrücken. „Ich danke dir für dein Vertrauen. Wenn du nicht gewesen wärest, dann wäre mein Herz eines Tages aus Trauer gestorben.“ Lyia lief rot an und sah verlegen in die Runde. Eifersüchtig zog Ryan sie von ihm zurück, woraufhin alle in Gelächter verfielen. Plötzlich leuchteten die Körper von Lyia, Kato, Screw und Sin auf. Überrascht sahen sie die Engel an. „Es ist an der Zeit zu gehen.“, meinte Gabriel, was ihre Gesichter in Entsetzen versetzte. „Aber der Fluch wurde doch gebrochen. Warum…?“ „Der Fluch wurde gebrochen und eure Seelen sind nun frei. Ihr könnt nun in Frieden ruhen.“ „Ryan!“, rief Lyia angsterfüllt, als sie begann sich aufzulösen. „Können wir denn nichts dagegen unternehmen?“, erkundigte sich Ryan bei Michael, doch dieser schüttelte den Kopf. „Nur der Fluch erhielt ihre Seelen und Körper noch am Leben. Jetzt wo der Fluch nicht mehr existiert, lösen sich auch ihre Körper samt Seelen auf.“ „Ich will nicht. Ryan!“ Lyia brach in Tränen aus. Ryan schloss sie in seine Arme, doch auch er konnte ihr Verschwinden nicht aufhalten. Aufmunternd klopfte ihnen Gabriel auf die Schultern. „Mach dir keine Sorgen Ryan. Lyias reine Seele wir wiedergeboren, ebenso, wie die von Screw, Kato und Sin. Folge ihrem Ursprung und du wirst sie finden.“ „Ihrem Ursprung? Aber wie?“ „Das musst du allein herausfinden.“ Unsicher sah er in Lyias besorgtes Gesicht. Ihrem Ursprung. Entschlossen blickte er in ihr Gesicht. „Ich werde herausfinden, was mit dem Ursprung gemeint ist. Keine Sorge, solange unsere Liebe besteht werde ich dich finden, das verspreche ich dir.“ Etwas skeptisch sah sie ihm in die blauen Augen, doch schließlich merkte sie, dass sie ihm vertrauen musste. „Ich werde warten. Egal wie lange es auch dauern mag, ich werde warten.“ Plötzlich wurden Ryan und Lyia von einem Luftstrom erfasst, der um sie kreiste. „Möge der Wind das Bindeglied eurer Liebe sein.“, sprach Raphael. „Denke immer daran Ryan: Liebe ist nichts Materielles. Sie ist wie der Wind. Man kann ihn nicht greifen, aber trotzdem spürt man ihn. So ist es auch mit der Liebe. Solange der Wind existiert, solange existiert auch eure Liebe.“ Ryan nickte. „Nun denn, lebe wohl Ryan.“, verabschiedete sich Michael. Ryan küsste Lyia ein letztes Mal, bis sie sich schließlich vollkommen in kleine Lichter aufgelöst hatte. „Lebt wohl.“, sprach er, nachdem er wieder die Augen öffnete und seinen Blick gen Himmel wandte. Um ihn herum stiegen zahlreiche Lichter auf. Die Seelen der toten Mitglieder, dachte er. Mögen sie alle in Frieden ruhen.

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