Die Verfluchten - Eine Strafe des Himmels
von Christine Eisner

Kapitel
 

Zwei Jahre später


Still lag das Meer am Hafen von Farin, als die Sonne ihre Laufbahn darüber antrat. Sanft wehte eine kleine Brise, die die Seemöwen auf ihrem Weg durch die Lüfte begleitete. Stillschweigend und auf die See hinausschauend stand Ryan am Rande des Stegs und sah zum Himmel hinauf. „Ryan! Ryan!“, ertönte eine vertraute Stimme hinter ihm. Ryan wandte sich um und erblickte seinen jüngeren Bruder Divine, der auf ihn zulief. „Ryan! Endlich habe ich dich gefunden! Du weißt ja gar nicht, wie lange ich nach dir gesucht habe.“ „Divine? Was machst du denn hier?“ „Na hör mal!“, protestierte dieser. „Begrüßt man so etwa seinen eigenen Bruder, den man seit zwei Jahren nicht gesehen hat?“ „Entschuldige. Es ist nur eine so große Überraschung dich wieder zu sehen.“, erwiderte dieser daraufhin. „Du bist selbst dran schuld, wenn du so plötzlich verschwindest. Ich habe gehört, dass du Priester hier im Tempel von Farin bist, stimmt das?“ Ryan nickte. „Aber wie kommt es zu dieser Sinneswandlung? Du hattest doch nie viel von Religion und Glauben gehalten. Wie kommt es, dass du den Glauben plötzlich selbst verkündest?“ Ryan lächelte und zog vier Engelsfedern mit jeweils einer anderen Farbe hervor. „Ich bin den vier Erzengeln persönlich begegnet.“ Divine konnte es nicht fassen. Ryan hielt tatsächlich die vier Engelsfedern von Michael, Raphael, Gabriel und Uriel in Händen. „Darf ich?“ Ryan nickte und reichte ihm die vier Federn. Vorsichtig nahm er Michaels rote, Gabriels blaue, Raphaels grüne und Uriels silbrig-weiße Feder entgegen. „Woher hast du sie? Ich meine wo bist du ihnen begegnet?“ „Vor zwei Jahren in Sinon, als der Fluch endlich gebrochen wurde.“ Erneut konnte Divine es nicht fassen. „Dann stimmt es also, was man so hört? Die Verfluchten haben wirklich gegen den Fluch gekämpft und uns erlöst?“ Ryan nickte. „Ich schlug den Weg als Priester ein, um den Menschen die wahre Geschichte zu erzählen.“ „Aber warum hier in Farin? Warum nicht in Vanadis?“, fragte er verwirrt. Ryan sah wieder hinaus aufs Meer. „Weil ich Lyias Ursprung gefolgt bin.“ Nun verstand Divine rein gar nichts mehr. „Lyia ist vor zwei Jahren mit dem Fluch gestorben. Gabriel hatte mir gesagt, dass sie wiedergeboren werden würde. Das Einzige, was ich tun musste, um sie wieder zu finden, war, ihrem Ursprung zu folgen. Und ihr Ursprung war hier in Farin.“ Langsam verstand sein Bruder. „Und? Hast du sie wieder gefunden?“ Langsam schüttelte Ryan den Kopf. „Noch nicht.“ „Aber was macht dich so sicher, dass du sie jemals wieder sehen wirst?“ Vorsichtig riss Ryan die roten Blüten der Rosen ab, die er mitgebracht hatte und streckte die Handfläche, in der die Blüten verweilten hinaus aufs Meer. Ein Windstoß erfasste sie und trug sie mit sich. „Der Wind.“, antwortete Ryan knapp. Wieder verstand Divine den Zusammenhang nicht. Ryan, der seine Ratlosigkeit gespürt hatte, ergriff wieder das Wort. „Liebe ist nichts Materielles. Ich spüre ihre Liebe und das allein ist genug.“ „Ich verstehe nicht. Wie kannst du ihre Liebe spüren, wenn sie nicht einmal in deiner Nähe ist?“ „Nur weil sie nicht in meiner Nähe ist, heißt das noch lange nicht, dass wir uns nicht lieben. Ich spüre ihre Liebe und das ist genug. Ihre Nähe ist nicht erforderlich. Sie lebt in meinem Herzen weiter und solange es den Wind gibt, gibt es ihre Liebe zu mir. Weißt du unsere Liebe macht nicht einmal vor dem Tod halt. Sie währt für ewig.“ „Ist das der Grund, weshalb du hier bist und zum Meer hinausschaust?“ Ryan sah seinem Bruder in die Augen. „Ja, denn nur hier spüre ich ihre Liebe am Intensivsten.“ Divine schwieg, was Ryan vermittelte, dass er noch immer nicht verstand. „Wenn sie aber nicht mehr ist, wie kannst du ihre Liebe spüren?“, fragte er erneut. Ryan lächelte, denn er hatte vermutet, dass Divine ihn das fragen würde. „Das sagte ich bereits. Liebe ist nichts Materielles. Du kannst sie nicht greifen, du kannst sie nur spüren. Liebe ist ein unsichtbares Gefühl, so, wie der Wind ein unsichtbares Element ist. Du kannst nicht nach ihm greifen, aber du kannst ihn spüren. Lyias Liebe ist wie der Wind. Der Wind, der mich mein Leben lang leiten wird.“

Ende

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