Die Verfluchten - Eine Strafe des Himmels
von Christine Eisner

Kapitel
 

Stunden verstrichen und die Nacht wurde wieder zum Tag. Langsam öffnete Lyia ihre Augen. Der Sonnenschein blendete sie, doch die Wärme blieb ihr fern. Es ist noch nicht vorbei. Mein Dasein als Sünderin nimmt weiterhin ihren Lauf. Traurig lag sie im grünen Gras. Ich will doch nur frei sein. Habe ich nicht genug gebüßt? Waren meine Opfer, die ich in all den Jahren aufgebracht habe nur kleine Fische? Sie dachte an die letzten 2454 Jahre. Lange Zeit hatte sie Shin gedient, doch er ließ sie nicht los. War das, was sie getan hatten so schlimm? Wieso musste es nur dazu kommen? Hatten sie überhaupt eine Möglichkeit ihrem Schicksal zu entfliehen? „Ich will doch nur frei sein.“ Tränen liefen ihr über die Wangen.
Sanft streichelte sie eine Hand. „Hey, ich bin doch da. Du bist nicht allein. Weine nicht.“ Es war Ryans sanfte Stimme. Lyia öffnete die Augen. Sie war froh ihn zu sehen, doch durfte sie das? „Ryan? Ich dachte…“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist alles gut. Ich bleibe bei dir.“ Sie setzte sich auf und sah ihn mit feuchten Augen an. „Aber ich habe dich an mein Schicksal gebunden. Wieso verzeihst du mir?“ Er strich ihr die Tränen aus dem Gesicht. „Weil du mir mein Leben gerettet hast. Du hast es nur gut gemeint, wie kann ich dir da böse sein?“ Erfreut über seine Antwort warf sie sich ihm um den Hals und schluchzte. Ryan ließ sie gewähren und hielt sie in seinen Armen, bis sie sich wieder beruhigt hatte. „Lyia, sag mal wäre es falsch von mir, wenn ich dir sage, dass du mir viel bedeutest?“ Sie löste sich von ihm und sah ihn perplex an. „Also weißt du, ich…“ „Schon gut, ich weiß was du mir sagen willst.“, unterbrach sie ihn. „Ich weiß es schon lange, aber ich habe gehofft, dass du diesen Gedanken abwerfen würdest.“ Langsam erhob sie sich und kehrte ihm den Rücken zu. „Tut mir Leid, ich empfinde dir gegenüber keine Liebe, noch werde ich es einem Anderen gegenüber können.“ „Du wusstest… Aber woher?“ Lächelnd drehte sie sich zu ihm um. „Ich bin eine Verfluchte. Ich besitze Fähigkeiten, die unglaublich klingen und auch unglaubwürdig erscheinen.“ Ryan runzelte die Stirn. „Ich kann Gedanken lesen. Alle Gedanken, die um mich kreisen, drängen sich mir ein. Im Umkreis von hundert Metern, nehme ich Gedanken und Worte ganz deutlich wahr. Deshalb konnte ich die Worte deines Bruders klar hören, während du nichts von alldem mitbekamst.“ „Was hatte er denn gesagt?“, fragte Ryan. Lyia atmete tief ein. „Dass Menschen wie ich Unheil bringen und du es eigentlich wissen müsstest.“ Er erhob sich und trat zu ihr. „Das hat er gesagt?“ Lyia nickte. „Und im Grunde hat er auch Recht. Die Sache mit Ebony ist ein eindeutiger Beweis dafür.“ „Es war ein Unfall! Du konntest nichts dafür!“ „Ich hätte es wissen müssen! Außerdem, wenn ich vor 2454 Jahren nicht die Sünden beging, wäre das alles nicht passiert! Dann wäre Ebony noch am Leben und ich nicht der Knechtschaft ausgesetzt. Du hast ja keine Ahnung, was ich schon alles durchmachen musste. Ebenso wenig verstehst du die Situation, in der ich stecke. Was weißt du schon?!“ Sie brach zusammen und weinte bittre Tränen. „Du hast Recht. Im Grunde weiß ich gar nichts über dich und deine Situation, noch weiß ich, welche Sünden du in deiner Vergangenheit begangen hast. Aber soviel weiß ich: Du bist nicht die Einzige, die die Schuld für das trägt, was geschehen ist. Ebenso wenig trägst du die Schuld für Ebonys Tod, denn du wolltest ihr nur helfen, so wie du mir geholfen hast. Es war ein Unfall, verstehst du? Und außerdem weiß ich, dass du hübsch, klug und hilfsbereit bist. Sieh es ein, du bist ein liebenswerter Mensch und alles andere als eine Sünderin. Es sei denn es ist Sünde so vollkommen zu sein.“ Er kniete sich zu ihr nieder und streichelte ihr Gesicht. „Aber alle verachten mich und haben Angst vor mir.“, sagte Lyia verwirrt. „Und ich liebe dich, weil ich dir glaube und vertraue. Solange du bei mir bist, können mir die Anderen gestohlen bleiben.“ Sanft führte er ihren Kopf, bis ihre Lippen die seinen berührten. Lyia fügte sich ihm und überließ ihm jegliche Freiheiten, doch war es richtig, was sie tat? War es nicht selbstsüchtig von ihr? Schließlich wurde sie vernünftig und drückte ihn von sich. „Nein! Ich kann nicht.“ Verwirrt sah er sie an. „Nein? Aber wieso denn nicht?“ Hastig erhob sie sich und steckte ihre Waffen ein, die sie vor dem Schlafengehen abgelegt hatte. „Es ist falsch, wir dürfen nicht – ich darf nicht.“ „Ich verstehe nicht. Was ist falsch daran, wenn wir uns lieben? Nun sag schon.“ Sie blickte ihn scharf an. „Du meinst wohl eher, wenn du liebst! Ich liebe dich nicht und selbst wenn ich es wollen würde, könnte ich es nicht. Ich bin verflucht und habe eine Aufgabe zu erfüllen.“ Ryan sprang auf. „Aber davon halte ich dich doch gar nicht ab. Sag mir die Wahrheit.“ „Es ist die Wahrheit! Der Fluch gestattet mir nicht zu lieben. Ich würde dich nur ausnutzen und verletzen. Die einzigen Menschen, die ich lieben könnte sind die Meinesgleichen. Tut mir Leid, ich kann deine Liebe nicht erwidern.“ Ryan senkte den Kopf. „Kannst du nicht, oder willst du nicht?“ In seiner Stimme lag Traurigkeit, die Lyia nicht entgangen war. Trotzdem durfte sie jetzt nicht die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren. Sie wusste welches Schicksal sie erleiden würde. Wenn sie sich ihm jetzt hingäbe, dann würde sie ihn nur verletzen und das wollte sie verhindern. „Wie bereits gesagt, auch wenn ich es mir auf sehnlichste wünschen würde, ich kann nicht.“ Ryan verstand, was sie damit ausdrücken wollte. Sie empfand Gefühle für ihn, vielleicht war es nicht Liebe, aber mit Sicherheit Zuneigung und Sympathie. Bis zur Liebe also nicht mehr weit. „Gut. Lass uns weitergehen.“, sagte er schließlich. Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und ging voraus. Keine Sorge Lyia. Ich breche diesen Fluch, damit du glücklich werden kannst. Verlass dich auf mich. So schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Lyia blickte ihm nach. Sie hatte ihn verletzt, obwohl sie es zu verhindern versucht hatte. Verzeih, aber es ist das Beste für uns Beide. Meine Gefühle sind falsch, denn mein Herz hat verlernt zu lieben. Außerdem würde mein Schicksal uns wieder voneinander trennen. Ich möchte dich nicht leiden sehen. Shin, gib mir die Kraft ihn beschützen zu können, denn er hat es verdient glücklich zu sein. Sie vollendete ihren Gedanken und ging Ryan schließlich nach.

Sanft wehte der Wind durch Sinon, jene Stadt, die vor tausenden von Jahren einst der zentrale Ort ganz Siras war. Die prunkvolle Stadt ging unter und mit ihr alle Anhänger der Geheimorganisation SF. Alle bis auf vier wurden von dem Zorn Shins ausgerottet. Die Überlebenden wurden mit einem Fluch belegt, der bis heute noch nicht gebrochen wurde. Diese Stadt diente als Symbol der Gotteslästerung, da hier Shin hintergangen wurde. Mit der Zeit war die Geisterstadt in Vergessenheit geraten, doch die vier Verfluchten blieben in aller Munde. Sie waren die Sünder und der Ursprung allen Übels.
In der zarten Morgenbrise erwachte die uralte Stadt, deren Spuren zum größten Teil verwischt und mit Pflanzen überdeckt waren. Vor noch 2454 Jahren war dies die Geburtsstätte allen Fortschritts. Eine gigantische Stadt, die durch Technik alles in den Schatten stellte. Sie war das Zentrum der Macht, mit der die Menschen Shin trotzten und hintergangen. Mittelpunkt der Stadt waren drei Säulen, die wie Krallen aus der Erde ragten. Sie bildeten ein Dreieck und in ihrer Mitte schlossen sie eine Lichtkugel ein, die auf dessen Spitzen ruhte. Unter der Kugel im Zentrum der drei Säulen kniete ein Mann und betete. Sein Haar war pechschwarz, wie seine Seele. Sein Herz hatte vor tausenden von Jahren aus Verzweiflung aufgehört zu schlagen, doch der Fluch hielt ihn weiterhin am Leben. Sin war wie seine Kameraden eine leblose Hülle, ein Geist, eine Marionette. Seine Existenz bestand nur noch darin Shin zu dienen.
Langsam erhob er sich und öffnete seine hellen gelben Augen, die er auf die Lichtkugel über sich richtete. „Nicht mehr lange. Das Ende ist nah. Bald werden wir erlöst sein.“, sprach er zu sich selbst. Er wandte sich ab und streifte durch die Straßen der leeren Stadt. All die Erinnerungen kehrten wieder. Erinnerungen an Zeiten, die er genossen hatte. Zusammen mit Lyia, Kato und Screw diente er der Geheimorganisation SF. Sie waren die Elite, die Besten der Besten. Mit jedem neuen Tag verbesserten sie die Welt. Mit Freude und Erfolg arbeiteten sie für eine bessere Zukunft, doch alles was sie erreichten war der Sturz der eigenen Welt ins Verderben. Sie trotzten Shin mit ihrer Macht und lenkten seinen Zorn auf die Menschheit. Sin erinnerte sich an jenen Tag. Der Himmel hatte sich am Nachmittag rasch verdunkelt. Nur ein einziger Lichtfunken durchbrach die Wolkendecke und mit ihm stieg ein Bote des Himmels herab. Der Engel nannte sich Gabriel und war einer der vier Erzengel. Er hatte die Apokalypse der Geheimorganisation verkündet und sprach über alle Mitglieder einen Fluch im Namen Shins aus. Daraufhin bot sich Sin ein schrecklicher Anblick. Alle um ihn herum brachen zusammen und krümmten sich vor Schmerzen. Ihre Augen bluteten und ihre Organe wurden von innen zerfressen. All seine Freunde starben einen schrecklichen Tod, den er nicht verhindern konnte. Mit Tränen in den Augen lief er dem Engel entgegen und flehte um Erbarmen, doch dieser winkte ab. ‚Ihr habt den Herrn durch Habgier nach Macht hintergangen. Ihr habt ihm getrotzt und seine Richtlinien nicht befolgt. Der Fluch ist eine gerechte Strafe, die nur durch die Reinwaschung der Sünden aufgehoben werden kann.’ Seine Worte haben sich Sin eingebrannt und verfolgten ihn bis in seine Träume. Noch heute vernahm er die Schmerzensschreie seiner Kameraden und Freunde, die elendig starben. Sogar sein Bruder wurde nicht verschont, obwohl dieser nur dem Beispiel seines großen Bruders folgen wollte. Hätte Sin ihm nicht gestattet in die Organisation einzutreten, dann wäre er an jenem Tag nicht gestorben. Immer wieder fragte sich Sin, warum nicht er an seiner Stelle gestorben war. Sein kleiner Bruder war erst vierzehn Jahre alt gewesen und hatte somit das wahre Leben nicht erreicht. Er hatte sein ganzes Leben noch vor sich, doch Sin war Schuld, dass er es nicht mehr erleben konnte. An diesem Tag starb sein Herz aus Verzweiflung, doch der Fluch ließ ihn als Geist und Marionette wieder erwachen. Ähnlich erging es Lyia, Kato und Screw. Vom gesamten Volk verachtet und ausgeschlossen verzweifelten sie an ihrer Einsamkeit. Kato und Screw verloren ihr irdisches Leben auf ihrer ersten Mission. Den Besessenen im Kampf unterlegen, starben diese an all den Verletzungen, die sie erlitten. Lyia hatte schon nach wenigen Wochen der Verfluchung die Nerven verloren und beging Selbstmord. Doch auch sie wurde vom Fluch nicht verschont. Sie kehrte wie die anderen als Geist zurück. 2454 Jahre lang dienten sie Shin mit ihrem Körper. Endlich war ihre Erlösung zum Greifen nahe. Sie durften jetzt nicht aufgeben, sonst waren all die Opfer, die sie gebracht haben umsonst. Doch würde Lyia ihr Schicksal akzeptieren? Würde sie zurückkehren und mit ihnen das Ritual, durch welches sie erlöst würden, durchführen? „Wieso Lyia? Wieso hast du uns verlassen?“

„Lyia? Darf ich dich was fragen?“ Nach stundenlangem stillem Marschieren wandte sich Ryan schließlich wieder Lyia zu und sprach mit ihr. Verblüfft sah sie in sein sorgloses Gesicht. Stundenlang sprach er nicht mit ihr und Lyia vermutete, dass er aus Verletzung nicht mit ihr sprach, doch es hatte den Anschein, als hätte ihm ihre Abweisung nichts ausgemacht. Langsam nickte sie. „Du hast gemeint, dass es mehr von euch Verfluchten gibt, richtig?“ Wieder nickte sie. „Warum streifst du dann ganz allein durch die Gegend, obwohl du in ihrer Gegenwart sein kannst?“ Lyia überlegte kurz. „Anfangs war ich in ihrer Begleitung, doch vor sieben Jahren ereignete sich etwas, was mich zutiefst verletzte. Deshalb verließ ich sie und habe sie seitdem auch nicht mehr gesehen.“ „Und wie viele waren es noch mal?“, fragte er erneut, da er sich nicht mehr erinnern konnte. Lyia senkte den Blick. „Nur vier.“ Entsetzt blickte Ryan sie an. „Nur vier? Aber der Legende nach waren doch etwa fünftausend in der Organisation vertreten! Was ist aus ihnen geschehen?“ „Sie starben. Alle bis auf vier, mich eingeschlossen, erlitten einen schrecklichen Tod.“ Ihr sickerten Tränen aus den Augen. „Der Fluch ließ sie elendig verenden! Und wir mussten zusehen. Um uns herum starben Freunde, Kameraden und Familienmitglieder! Nicht einmal Kinder blieben verschont, dabei waren sie doch noch so jung! Warum bin nicht ich an jenem Tag gestorben? Warum nicht ich?“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und sank auf die Knie. Ryan lief sofort zu ihr und nahm sie in den Arm. Langsam erinnerte er sich wieder. Verständnisvoll strich er ihr durch das seidige, schulterlange, rote Haar. „Es ist okay, weine ruhig. Aber glaube nicht, dass es unfair war, dass Kinder starben.“ Wütend blickte sie ihm ins Gesicht. „War es etwa fair, dass Kinder, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten, starben und ich verschont blieb?!“, fauchte sie zurück. Ryan lächelte leicht und nickte. „Stell dir vor du wärst an jenem Tag gestorben und die Kinder hätten das Schicksal, wie du jetzt, durchs Land zu wandern und zu leiden.“ Ihr Blick wurde sanfter. „Du hast Recht, entschuldige.“ Langsam löste sie sich von ihm und erhob sich. „Im Gegensatz zu unserem Schicksal, hatten sie Glück und wurden vom Fluch erlöst, wenn auch auf grausame Weise.“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und hielt anschließend Ryan die Hand entgegen. Dieser griff nach ihr und ließ sich auf die Beine helfen. Anschließend setzten sie ihre Reise gen Norden fort. Ryan hatte noch so viele Fragen, doch er wollte Lyia nicht noch mehr verletzen, deshalb behielt er sie für sich. „Ryan. Hast du denn vergessen, dass ich Gedanken lesen kann? Wenn du Fragen hast, dann stell sie mir ruhig.“ „Aber ich wollte dich nicht an die schlimmen Zeiten erinnern, schließlich hast du viel durchgemacht und…“ „Sei nicht blöd. Teilweise bin ich froh, dass du mir so viele Fragen stellst, denn so gerate ich nicht in Vergessenheit. Es steht mir nicht zu, zu vergessen, weißt du.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Nun frag schon, schließlich willst du von uns lernen, oder etwa nicht?“ Ryan nickte. „Also ich habe an deinem Militäranzug zwar erkannt, dass du der Geheimorganisation SF angehört hast, aber wer oder was war diese Organisation überhaupt? Ich meine, was war ihre Aufgabe und warum war sie geheim, obwohl jeder wusste, dass es diese Organisation gab?“ Lyia machte nicht Halt, sondern marschierte weiter. „Die Organisation ‚Siras Future’ diente der Menschheit. Wie der Name bereits sagt, arbeitete sie der Zukunft unseres Planeten Sira entgegen, das heißt, dass sie versucht hat durch Technologie die Welt zu verbessern. Tja und geheim war die Organisation wirklich nicht, aber ihre Mitglieder wurden geheim gehalten.“ „Aber warum?“, entgegnete Ryan. Lyia lächelte. „Dein Bruder glaubt an Shin, richtig?“ Ryan nickte. „Nun, woran hält er sich, wenn er gläubig ist?“ Verblüfft über die Frage dachte er kurz nach. „Na er hält sich an Shins Richtlinien, denn wenn nicht, wird man bestraft, weil es als Gesetz geachtet wird.“ Er dachte über seine Worte nach, bis es ihm schließlich wie Schuppen von den Augen fiel. „Du meinst…“ „Genau. Diese Richtlinien gab es schon früher, aber da sie unsere Neugier nach neuen Dingen einschränkten, wurde die Organisation von wissbegierigen Menschen geheim gehalten. Der Fortschritt, den wir durch Technologie erreichten, wurde jedoch überall bekannt. Viele wurden wegen Ketzerei gehängt, daher entwickelte die Organisation eine Schutzmaßnahme für alle Mitglieder. Unsere Identität wurde manipuliert.“ Ryan hörte ihr aufmerksam zu, doch verstand er nicht viel von dem, was sie ihm zu erklären versuchte. „Die Identität manipulieren? Geht das?“, fragte er verwirrt, während er versuchte mit ihr Schritt zu halten. „Klingt unmöglich nicht wahr? Aber es funktionierte tatsächlich. Man stellte einfach Klone von den Mitgliedern her. Sie besaßen unser Blut, unsere Gefühle und unseren Willen, aber sie waren Computergesteuerte Wesen. Sie wurden außerhalb der Organisation eingesetzt, damit wir weiterhin der Wissenschaft dienen konnten. Mein Klon war zum Beispiel Hausmädchen an einem angesehenen Hof.“ „Heißt das, dass du deinen Interessen nachgehen konntest, ohne aufzufliegen?“ Ryan war begeistert. Noch nie hatte er von den Fortschritten der Menschheit erfahren, da sie schon früh zerstört und geheim gehalten wurden, bis sie vollends in Vergessenheit gerieten. „Genau. Allerdings gab es einen Haken bei der Sache. Ich musste meine Familie verlassen und in Sinon, der Stadt des Fortschritts, leben. Mein Klon übernahm somit mein Leben außerhalb der Stadt und ich durfte die Grenzen der Stadt nicht verlassen.“ „Sinon? Von einer solchen Stadt habe ich noch nie gehört.“ Lyia lächelte. „Kannst du auch nicht. Sie ist seit dem Fluch in Vergessenheit geraten.“ Ryan griff nach ihrem Arm. „Würdest du mir von ihr erzählen?“, bettelte er. Lyia las in seinen Augen deutliches Interesse, daher zögerte sie nicht lange und stimmte zu. „Sinon war einst die Stadt, in der sich die Mitglieder von SF trafen und forschten. Sie entwickelte sich schnell und war bald darauf die Mutter aller Technologien. Aber da das Forschen wegen der Richtlinien untersagt war und somit alle Menschen in Gefahr brachte, entwickelte man einen Schild, der die Stadt von der Außenwelt trennte. Daher durfte niemand die Stadt verlassen. Unsere Eltern und Bekannten durften unseren Verbleib jedoch nicht bemerken, deshalb entwickelte man die Klone. Sie sorgten dafür, dass niemand bemerkte, wer der Organisation angehörte. Der Schild um die Stadt herum schützte uns zusätzlich, da Sinon durch ihn im Nichts verschwand, also getarnt wurde. Wir forschten weiter und schon bald entwickelten sich auch andere Städte. Wir waren Schöpfer einer besseren Zukunft, verstehst du, woraufhin ich hinaus will? Wir hielten die Macht alles zu verändern in Händen. Die Richtlinien und Shin selbst wurden überflüssig. Wir wurden egoistisch und trotzten nur nach Macht. Das ist der Grund, weshalb alle sterben mussten. Wir beschworen das Unheil und stürzten die Welt ins Verderben.“ „Aber wieso? Ihr habt die Welt doch verbessert, wie konntet ihr die Welt dann ins Unglück stürzen?“ „Der Fluch wurde über uns ausgesprochen, den Rest kennst du ja schon.“ Ryan erinnerte sich. Die Ausrottung aller Mitglieder, bis auf Lyia und drei weitere Kameraden. „Aber dieser Fluch, von wem wurde er denn ausgesprochen? Ein Mensch ist zu so etwas nicht in der Lage. Es muss ein höheres Wesen…“ Ryan blieb stehen. „Ihr wurdet also wirklich von Shin höchstpersönlich bestraft?! Ich dachte das wäre alles Unfug!“ Lyia wandte sich zu ihm um. „Nun ja, das ist so nicht ganz richtig. Die Strafe wurde uns zwar von Shin zugeteilt, aber verkündet hat es einer seiner Boten.“ „Was denn, etwa Engel? Nimmst du mich jetzt auf den Arm?“ „Es war kein normaler Engel Ryan, sondern ein Erzengel. Er nannte sich Gabriel.“ Ryan kannte die vier Erzengel. Oft hatte Divine ihm von ihnen erzählt und auch wenn er nicht daran glaubte, so hatte er ihm immer gespannt zugehört. „Gabriel, der Engel der Verkündung hat die Apokalypse und den Fluch über euch ausgesprochen?“, fragte er ungläubig, woraufhin Lyia schweigend nickte. „Hast du ihn gesehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich nicht, aber Sin.“ „Einer deiner Kameraden?“ Sie nickte. Sie ging weiter. „Ich habe Gabriel zwar nicht gesehen, aber ich hörte seine Verkündung, so wie jeder Andere auch.“ „Und was hat er gesagt?“ „‚Auf ewig seid ihr Verräter verflucht. Ihr habt es gewagt Shin, den Gott zu hintergehen, daher schmort im Fegefeuer der Hölle. Eure Seele möge niemals erlöst werden, sondern ewiglich leiden.’ Daraufhin spürte ich eine Veränderung meines Körpers. Alle Anderen sanken vor Schmerzen zu Boden. Ihre Augen bluteten und ihre Innereien wurden von innen zerfressen. Sie schrieen und ich sah alles mit an. Ich war nicht in der Lage ihnen zu helfen. Ich überlebte, da ich eine der vier Auserwählten war, wie Gabriel später sprach. ‚Ihr, diejenigen die verschont blieben, wurdet von Shin auserwählt. An euch liegt es nun die Sünden, die ihr begangen habt wieder rein zu waschen.’, das waren seine genauen Worte.“ „Ich verstehe das nicht.“, warf Ryan schließlich ein. „Was war denn so schlimm, dass ihr so grausam bestraft wurdet?“ „Du hast es noch immer nicht verstanden. Weißt du, was in den Richtlinien geschrieben steht?“ Ryan schüttelte den Kopf. „Nein, schließlich glaube ich nicht an Shin.“ Lyias Blick wurde ernst. „In den Richtlinien steht geschrieben, dass man keinen anderen Gott neben Shin haben darf und genau dagegen haben wir verstoßen.“ Er sah sie perplex an. „Aber ihr hattet doch auch keinen.“ „Mensch Ryan! Wir wurden zu Gott. Verstehst du denn nicht? Wir besaßen die Macht, alles zu verändern. Wir waren Schöpfer, wir trotzten Shin mit unserer Macht. Viele haben wegen uns den Glauben an Shin aufgegeben. Deshalb wurden wir bestraft.“ „Und die Strafe ist ewiges Leben?“ Lyia hielt sich die Hand an den Kopf. „Nein, unsere Unsterblichkeit ist ein Teil der gesamten Strafe. Hinzu kommen unser Blut, das uns von den anderen Menschen unterscheidet und die Berührungsbarrieren. Oder hast du all die Stromschläge schon vergessen? Außerdem wären da noch der fehlende Herzschlag, unsere fehlenden Gefühle und das Gedankenlesen, wodurch wir immer an den Hass der restlichen Menschheit erinnert werden.“ Ryan, der die einzelnen Punkte mithilfe seiner Hände zusammengezählt hatte, verstand den Sinn der einzelnen Punkte nicht. „Der Sinn der Sache ist es, uns vereinsamen zu lassen. All die Jahre waren wir auf uns allein gestellt, niemand hatte uns geglaubt. Die Einsamkeit war das Ziel.“, sagte Lyia, nachdem sie seinen Gedanken vernahm. „Aber deine Eltern…“ Lyia blickte ihn traurig an. „Nachdem alle anderen Mitglieder der SF durch den Fluch gestorben waren, konnte ich nicht akzeptieren, dass ich weiterleben durfte. Das war der Grund warum ich…“ Sie vollendete den Satz nicht, woraufhin Ryan nachfragte. „Ich…ich beging Selbstmord. Ich wollte mich von all den Leiden befreien, aber der Fluch ließ mich als Marionette zurückkehren. Meine Eltern fanden heraus, dass ich ein Mitglied der SF war und wandten sich von mir ab. Heute weiß ich, dass es ein großer Fehler war, ganz gleich wie groß meine Not war. Selbstmord ist kein Ausweg, im Gegenteil. Die Not wird dadurch nur größer und außerdem verletzt man andere Menschen, die einen lieben. Kato sagte immer: ‚Das Leben ist immer nur so lang, wie der Weg zur nächsten Brücke’(von Alexander Constantin Diego Fringes). Im Grunde hat er auch Recht, aber bei mir hatte es andere Auswirkungen, denn ich bin verflucht.“ „Ich nehme an, dass Kato ein weiterer Kamerad ist?“, sagte Ryan, um sie von den schmerzlichen Gedanken der Vergangenheit abzulenken. „Ja. Ich stand ihm immer sehr nahe, aber wie gesagt, vor sieben Jahren ereigneten sich Dinge, die mich noch heute verfolgen.“ „Und die Vierte im Bunde?“ „Die? Wohl eher der.“ „Was denn drei Männer und nur eine junge Frau? Ist das den Männern gegenüber nicht unfair?“ Lyia verfiel in Gelächter. Ryan hatte sein Ziel erreicht. Lange schon hatte er sich nach ihrem Lächeln gesehnt. „Du solltest viel öfter lachen. Mit einem fröhlichen Gesicht siehst du noch schöner aus, als du es schon bist.“, meinte er schließlich. Lyia nahm das Kompliment dankend, aber auch etwas verlegen an. „Und wer ist er?“ Sie runzelte die Stirn. „Er?“ „Na der Vierte im Bunde. Wie stehst du zu ihm?“ Lyia dachte kurz nach. „Ach du meinst Screw. Weißt du, er ist ein Traum von einem Mann. Gut aussehend und klug. Du könntest dir ruhig mal ein Beispiel an ihm nehmen.“, neckte sie ihn. „Dies war eindeutig eine Falschaussage, somit gehe ich davon aus, dass du noch zu haben bist?“ Wieder lächelte sie. „Ja das stimmt, aber ich habe nicht vor meine Freiheit preis zu geben. Ich möchte ein Vogel sein, der von Nichts und Niemandem aufgehalten wird. Somit muss ich dich leider enttäuschen.“ „Na das werden wir ja gleich sehen.“ Schnell entwickelte sich ein Fangspiel, wobei beide vom Herzen her lachten. Lange schon hatte Lyia keinen so großen Spaß. Ihre Einsamkeit löste sich allmählich und Freude erstrahlte in ihrem längst verstorbenen Herzen. Es war, als würde ihr Herz wiedergeboren werden. Mit Ryan an ihrer Seite begann sie ein neues Leben. Shin, ich danke dir. Danke, dass du mir Jemanden wie ihn schickst.
Lange nachdem die Sonne untergegangen war, saßen beide erschöpft vor einem Lagerfeuer. Die Strapazen der Reise machten ihnen zu schaffen. Vor allem jedoch spürte Ryan die Kälte der Nachtluft. Nachdem Lyia sein Zittern bemerkt hatte, knöpfte sie ihren Mantel auf und reichte ihn Ryan, doch dieser winkte ab. „Nun nimm schon. Mit deinen Lumpen am Leib wirst du dir nur den Tod holen. Nur weil du jetzt unsterblich bist, darfst du dein irdisches Leben nicht aufs Spiel setzen. Außerdem befinden wir uns im Norden Siras. Der Kälte nach zu urteilen würde ich sagen, dass es bald anfängt zu schneien.“ Immer noch zögerte er, doch nachdem er ihren strengen Blick auf sich spürte, nahm er ihn dankend entgegen. „Aber was wird aus dir? Frierst du denn nicht?“, fragte Ryan besorgt. Lyia schüttelte leicht nachdenklich den Kopf. „Schon vergessen? Ich habe keine Gefühle, somit auch nicht für Kälte oder Wärme.“ „Aber du spürst den Wind, oder etwa nicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Weder Wind noch Wasser streifen mein Gesicht. Das heißt, dass ich zwar nass werden kann, aber ich spüre nichts von all dem, ebenso ist es bei Feuer. Ich kann verbrennen ohne Notiz davon zu nehmen.“ Völlig entsetzt sah er sie an. „Wir sollten nun ein wenig schlafen. Du musst erschöpft sein.“, meinte Lyia schließlich und legte sich ins weiche Gras. Ryan nickte. Sie hatte für heute genug durchgemacht. Nun brauchte sie etwas Ruhe.

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