Lemming
von Carsten Maday

 

Kapitel

Nun brüllte ich, rannte schneller, als es die Zeit erlaubte, so, als wolle sie ihre Schuld begleichen. Schon sah ich die Krallen im Licht der Sonne blitzen, jener Sonne, die unsere Paarung so wärmend segnete, und die doch so treulos sich dem elendsten Geschöpfe hingibt. Endlich fuhr die Eule mit dem Schädel herum, sah mit ihren scharfen Augen mich armen Irren heranstürmen. Ihre Aufmerksamkeit war mir sicher. Lemming entkam, die Eule hielt auf mich zu und schien alles in allem überrascht und neugierig zu sein. Ich fragte mich, was größer war. Ihre Neugierde oder ihr Hunger. Schritt. >Naja<, sagte Lemming und ließ sich hintenüber ins feuchte Moos fallen. Der Wind riss bereits Löcher in den Nebel. Irgendwo hinter den Bergen wartete die Sonne nervös auf ihren Auftritt.>Es kam der Moment, an dem ich improvisieren musste.Ho,ho! Wen haben wir den da? Lemmus Lemmus, ach...Schnauze! Spar dir deine Eulenweisheit! Erwartest du etwa eine gepflegte Konversation bevordu mich frisst. Sieh Dich doch an, an deinen Federn klebt noch das Blut deines letzten Opfers. Töte mich, friss mich, morde mich dahin, doch beleidige mich nicht durch deinen Hochmut. Ha, waltet deines Amtes, tausendmal verfluchter Bote des Todes, nimm, zerreiße mit deinem Mordschnabel und Krallen meinen Pelz, weide mich aus, schlürfe mein Gedärm, stärke dich an meinem Körper, lass zurück von mir, was du von meinem Vater ließest, ein Stück Fell, Fleisch und Blut auch, und die wenigen Erinnerungen, die mir in meinem Herzen von ihm blieben, nimm auch sie, schluck es herunter, ernähre deine verruchte Brut, reiß es mir aus dem zuckenden Leib, doch denke ja nicht, du könntest dein Tun verbergen hinter deiner Arroganz, nein, nimmer mag dies geschehen, denn es ist was es ist, und ich nenne es Mord!Nimm es nicht persönlich<, sagte die Schnee-Eule und beugte sich zu mir hinunter. Tja, die Woge der Triumphes ebbte recht schnell ab, als ich ihren Atem spürte: er roch nach herauf gewürgtem Lemming. Ich versuchte nicht in Ohnmacht zu fallen, als die Eule fortfuhr:>Was soll ich denn machen, ich muss fressen, um zu leben, um meine Kinder zu ernähren. Das ist meine Natur!< Es ist recht schwer in dem Gesicht einer Schnee-Eule Gefühle zu lesen, abgesehen von Hunger, damit liegt man meistens richtig, nein, ich meine überall Federn und dieser gekrümmte Schnabel. Vielleicht meinte sie wirklich, was sie gesagte hatte, höchstwahrscheinlich war es auch die traurige Wahrheit, aber ich zog es Zeit meines Lebens vor zu glauben, dass sie uns nur zu vier Fünftel als Nahrung ansahen. Der Rest war Unterhaltung. Ich weiß, ich weiß, ein billiges Vorurteil, das abzubauen mir allerdings in Angesicht meines nahenden Todes nicht möglich war. Nimm es nicht persönlich! Toller Rat! Das Problem ist nur, als Individuum nimmt man alles persönlich. Ich verlor die Fassung, aber leider nicht meine Angst, so dass ich zum einem faulen Kompromiss gezwungen war, bevor ich sie anschrie: Ich wich zurück.>Bravo, was erwartest Du, dass ich dir einen Preis für die ehrlichste Aussage dieses Jahres verleihe? Es ist deine Natur? Ha, dass ich nicht lache. Von wegen Natur, ein Verbrechen ist es,das der Starke an dem Wehrlosen verübt.< Ich sammelte was an Speichel noch in meinem Mund war, und spukte ihr meinen Pathos vor die Krallen:>Komm schon, friss mich, dann brauch ich mir wenigstens nicht diesen Unsinn anzuhören. Was? Halt, einem Moment noch! Jawohl, der Starke frisst den Schwachen, doch größer als dies Verbrechen ist das Unrecht, dies als Recht, ha, als Natur, als Leben hinzustellen. Nein, diese Lüge kann nur von dem Mörder kommen, das Opfer aber verspottet sie.Bringen wir es hinter uns<, sagte sie, als dächte sie wirklich, dass dem Opfer eine aktive Rolle zufiel.>Ja<, sagte ich und nickte so traurig und so langsam wie ich konnte. Der Schnabel kam näher, öffnete sich zaghaft, fast zärtlich spürte ich den Atem der durch mein Fell fuhr und einen Moment schien es mir so, als schäme sich die Eule mich nach unserem Gespräch mit grober Gewalt zu verschlingen. >Friss mich, wie du meinen Vater gefressen hast!<, sagte ich so schicksalsergeben, wie es ein Lemming nur konnte. Sie nickte verständnisvoll, immer noch die weise Eule bis zum letzten Biss. Ich sog ihren Atem ein. Ich würgte. Der Geruch von erbrochenem Lemming nahm mir die Luft. Ich übergab mich, kotzte über mein Fell. Und aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Eule verdutzt innehielt. Ich ergriff meine Chance, fiel zu Boden, rollte mich wie toll durchs Gras. Krämpfe zuckten durch meinen Körper. Schaum entstand auf meinem Maul. Ich spuckte ihn ihr ins Gesicht, als ich sie jämmerlich darum bat, mich zu fressen, mein Leid zu beenden.

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